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NAHOST/1431: Irakische Armee kündigt Rückeroberung Ramadis an (SB)


Irakische Armee kündigt Rückeroberung Ramadis an

Eskalation des Kriegs im Irak und Syrien steht bevor


Die Offensive der irakischen Streitkräfte zur Rückeroberung der Stadt Ramadi, welche sie im Mai nach einer peinlichen Niederlage an Kämpfer der "Terrormiliz" Islamischer Staat (IS) verloren hatten, steht unmittelbar bevor. Wie die BBC meldete, wurden am 30. November per Flugzeug über die 90 Kilometer westlich von Bagdad liegende Hauptstadt der hauptsächlich von Sunniten bewohnten Provinz Anbar Flugblätter abgeworfen, in denen die Zivilbevölkerung zur Evakuierung der Stadt aufgefordert wurde, da die großangelegte Armeeoperation innerhalb der nächsten 24 Stunden beginnen sollte. Die Anzahl der IS-Kämpfer, welche die Stadt halten, liegt Schätzungen zufolge zwischen 600 und 1000. Sollten diese, wie befürchtet, bis zum letzten Mann kämpfen, wird die Schlacht um Ramadi zu einer sehr blutigen Angelegenheit werden. Medienberichten zufolge lassen die IS-Aufständischen die Zivilisten nicht aus der Stadt heraus. Das gleiche gilt für Falludscha, das zwischen Ramadi und Bagdad liegt und sich ebenfalls seit Monaten in den Händen der Salafisten befindet und demnächst von den Truppen Bagdads zurückerobert werden soll.

Ende November gelang es den irakischen Streitkräften, den Belagerungsing um Ramadi zu schließen und die Nachschublinien des IS zwischen der Stadt und dem von ihm kontrollierten Gebiet im Osten Syriens zu kappen. Seit Tagen verstärken die Luftstreitkräfte der USA und des Iraks ihre Angriffe auf IS-Stellungen bei Ramadi, um den Bodenstreitkräften den bevorstehenden Großangriff zu erleichtern. Dennoch rechnen alle Beobachter mit einer langwierigen und für alle Seiten verlustreichen Schlacht. Zwei Zitate aus dem Artikel "Iraqi forces succeed in cutting Islamic State supply lines" der US-Zeitungsgruppe McClatchy Newspapers vom 29. November verdeutlichen dies.

Im ersten äußerte sich ein nicht namentlich genannter Offizier im Operationszentrum Anbar der irakischen Armee zur Defensivstrategie der IS-Freiwilligen: "Seit Mai haben sie Ramadi in eine gigantische Bombe verwandelt. Die Anzahl der Sprengfallen, der Selbstmordattentäter und der Minen verlangsamt den Vorstoß unserer Soldaten beträchtlich. An manchen Tagen schaffen sie nur 50 Meter, weil sie bis dahin 10 Bomben, welche der IS gelegt hat, entschärfen müssen." Im zweiten Zitat ließ Abu Mumtaz Al Dulami, der letztes Jahr aus Falludscha geflohen war und heute noch telefonisch in Kontakt mit Freunden und Verwandten dort sowie in Ramadi steht, seinen Sorgen freien Lauf: "Keine Nahrungsmittel und keine Medikamente werden nach Ramadi oder Falludscha hereingelassen. Die Leute haben große Angst davor, daß sich das Ganze in eine große Krise verwandeln wird, sollte die Belagerung weiter andauern."

Der IS ist ein Produkt des gewaltsamen Sturzes des Baath-"Regimes" des Iraks durch die Streitkräfte der Vereinigten Staaten, Großbritanniens und Australiens 2003 sowie der anschließenden politischen Ausgrenzung der sunnitischen Minderheit durch die schiitische Mehrheit. Hatte die US-Armee Al Kaida im Irak durch die Bestechung der sunnitischen Stammeskrieger bis 2008 weitestgehend isoliert, provozierte die schiitisch dominierte Zentralregierung in Bagdad 2011/2012 einen erneuten Aufstand, als sie mit brutaler Gewalt auf die Demonstrationen der Sunniten für politische Reformen und eine gerechtere Verteilung der staatlichen Einnahmen aus dem Ölexport reagierte. Statt sich um eine politische Lösung des Problems des IS, der aus Al Kaida im Irak und den Resten der Armee Saddam Husseins hervorgegangen ist, zu bemühen, setzen dessen Gegner auf militärische Gewalt ungeachtet der großen Wahrscheinlichkeit, daß der Konflikt damit noch weiter verschärft wird.

Beeindruckt von den jüngsten Erfolgen der russischen Luftwaffe und der syrischen Armee gegen IS, Al-Nusra Front und die anderen aufständischen Gruppierungen in Syrien, wollen die NATO-Großmächte dem Kreml im Zweifrontenkrieg Syrien/Irak nicht nachstehen. Seit den IS-Anschlägen am 13. November in Paris, bei denen 137 Menschen starben, fliegt die französische Luftwaffe ebenfalls Angriffe auf Positionen der Kalifatsanhänger in Syrien. In Deutschland und Großbritannien werden Parlamentsbeschlüsse vorbereitet, welche in den kommenden Tagen Berlin und London ein Eingreifen an der Seite des NATO-Verbündeten Frankreich mandatieren. Die Türkei hat mehrere hundert Panzer und gepanzerte Fahrzeuge an der syrischen Grenze zusammengezogen. Einer Bodenintervention Ankaras steht jedoch der laufende Disput mit Moskau nach dem Abschuß eines russischen Kampfjets durch die türkische Luftwaffe am 24. November und dem Tod eines der beiden Piloten durch die Hände syrischer Rebellen im Wege.

Die USA, deren Kampfjets seit September 2014 die meisten Luftangriffe der internationalen Anti-IS-Koalition im Irak und Syrien fliegen, haben vor kurzem 50 Spezialstreitkräfte in das Kurdengebiet im Nordirak entsandt, um die Peschmerga zu beraten und zu unterstützen. Von dort aus soll die Rückereroberung von Mossul, der mit zwei Millionen Menschen zweitgrößten Stadt des Landes, organisiert werden. Folglich könnte die US-Militärpräsenz im Zweistromland bald zunehmen. Die einflußreichen US-Senatoren John McCain und Lyndsey Graham forderten bei einem Besuch in Bagdad am 29. November, die Anti-IS-Koalition sollte eine Bodenstreitmacht aus 100.000 Mann, vornehmlich aus den mit Washington verbündeten sunnitisch-arabischen Staaten - Ägypten, Jordanien, Saudi-Arabien und den anderen Petrokratien am Persischen Golf - aufstellen. Die USA sollten der multinationalen Truppe mindestens 10.000 eigene Soldaten beisteuern, die natürlich die Führung des ganzen Unternehmens innehätten, so die beiden republikanischen Kriegsfalken.

So wie McCain und Graham bauschen immer mehr westliche Politiker und Militärs den Konflikt mit dem IS zum Kampf Zivilisation gegen Barbarei auf und übersehen dabei geflissentlich, daß der von ihnen vorgeschlagene Weg ins Verderben führt. Die Tatsache, daß Osama bin Laden nach den Flugzeuganschlägen vom 11. September 2001 lediglich mehrere hundert Anhänger hatte, die Zahl der gewaltbereiten Dschihadisten weltweit angesichts jahrelanger Kriege in Afghanistan und im Irak, des gewaltsamen Sturzes Muammar Gaddhafis 2011, des Bürgerkrieges in Syrien ab 2011 und der menschenverachtenden Drohnenangriffe der USA gegen mutmaßliche "Terroristen" in Jemen und Pakistan, Somalia und Libyen inzwischen ins Unermeßliche gestiegen ist, blenden die Befürworter eines militärischen Vorgehens offenbar völlig aus.

In einem erschreckenden Artikel in der Financial Times (London) mit der Überschrift "Isis: Boots on the ground?" plädierte der britische Militärexperte Afzal Ashraf am 25. November für eine Neuauflage der Operation Phantom Fury in den derzeitigen IS-Hochburgen Ramadi, Falludscha, Mossul und Rakka. Bei der 2004 durchgeführten Offensive hatten 13.500 amerikanische und britische Soldaten mittels schwerer Luftangriffe, Artilleriebombardements und Häuserkampf eine größere Gruppe Aufständischer, die sich in Falludscha verschanzt hatte, bezwungen. (Am Ende der sechswöchigen Aktion waren 107 Koalitionsoldaten und rund 500 Al-Kaida-Kämpfer tot; die "Stadt der Moscheen" war in einen Trümmerberg verwandelt worden.) Im selben FT-Artikel forderte US-General David Deptula eine drastische Erhöhung der Anzahl der alliierten Luftangriffe auf IS-Ziele ohne Rücksicht auf die Zivilbevölkerung oder die Infrastruktur. Wie solche brutalen Methoden dazu dienen sollen, die arabischen Massen von den Werten des Westens zu überzeugen, ist schleierhaft. Eher dürften sie dazu beitragen, noch mehr junge Muslime in die Arme des IS zu treiben.

In einem erhellenden Beitrag, der am 30. November bei Antiwar.com unter der Überschrift "The Reign of Absurdiocy" erschien, prangerte der langjährige israelische Friedensaktivist Uri Avnery den ganzen Irrsinn des globalen Antiterrorkriegs des Westens unter Verweis auf den anhaltenden israelisch-palästinensischen Konflikt - der, wie man weiß, bereits 1996 von Bin Laden als einer von drei Gründen für seine Kriegserklärung gegen die USA genannt wurde - an. Avnery kritisierte aufs Schärfste das Fehlen jeglichen ernsthaften Ansatzes, für die Probleme im Nahen Osten eine politische Lösung zu finden und gab folgendes zu bedenken:

Es besteht keine direkte Verbindung zwischen dem IS-Terrorismus rund um die Welt und dem nationalen Kampf der Palästinenser um Staatlichkeit. Doch sollte für beide Probleme nicht eine Lösung gefunden werden, werden sie am Ende verschmelzen - und ein weit mächtigerer IS wird die muslimische Welt vereinigen, wie es Saladin einst tat, um uns, die neuen Kreuzzügler, zu konfrontieren. Wäre ich ein gläubiger Mensch, würde ich flüstern: Gott bewahre.

1. Dezember 2015


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