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NAHOST/1636: Syrien - Es droht den USA die Blamage ... (SB)


Syrien - Es droht den USA die Blamage ...


In Syrien stehen nach siebeneinhalb Jahren Bürgerkrieg mehr als 60 Prozent des Staatsgebiets, vor allem die Region mit den Metropolen Damaskus und Aleppo, die im Süden an Jordanien und im Westen an Israel, den Libanon und das Mittelmeer grenzt, unter der militärischen Kontrolle der Syrischen Arabischen Armee (SAA). Zurückerobert werden müssen noch die nördliche Provinz Idlib, wo Rußland und die Türkei mit islamistischen Gruppen eine (instabile) Feuerpause vereinbart haben, der Norden der Provinzen Rakka und Al Hasaka entlang der Grenze zur Türkei, wo sich die syrischen Kurden weitreichend autonom gemacht haben, und der Osten Deir ez-Zors, der an den Irak grenzt und wohin sich Tausende Kämpfer der "Terrormiliz" Islamischer Staat (IS) nach dem Fall ihrer "Hauptstadt" Rakka im vergangenen Jahr offenbar zurückgezogen haben. Nicht zu vergessen ist das strategisch wichtige Gebiet Al Tanf, das in der Provinz Homs am Länderdreieck Syrien-Irak-Jordanien liegt und von mehreren hundert US-Marineinfanteristen besetzt gehalten wird, wodurch die Straßenverbindung und damit der reguläre Handelsverkehr zwischen Damaskus und Bagdad weiterhin unterbrochen ist.

2014 - nach drei Jahren heimlicher Rüstungshilfe der CIA für die "gemäßigten" Rebellen - haben die US-Streitkräfte mit der Begründung des "Antiterrorkampfs" gegen IS erstmals militärisch direkt in den Syrienkrieg eingegriffen. Doch das eigentlich Ziel der USA in dem syrischen Konflikt war und ist bis heute der "Regimewechsel" in Damaskus und die "Zurückdrängung" des iranischen Einflusses sowohl in Syrien als auch im Irak. Deswegen verschleppen die Amerikaner den Kampf gegen IS seit Monaten, während führende Vertreter der Regierung Donald Trumps in Washington und des Pentagons in Virginia insistieren, daß erst dann die US-Militärpräsenz in Syrien aufgelöst werde, wenn sich die iranischen Soldaten und Milizionäre, welche seit Jahren die SAA im Kampf gegen IS, Al Nusra, Ahrar Al Scham und all die anderen unterstützen, nach Hause zurückgekehrt seien und in Damaskus eine "demokratische", heißt dem Westen gegenüber hörige Regierung an der Macht sei. Für Bagdad und Damaskus sind das inakzeptable Forderungen.

Vor dem Hintergrund des von Präsident Donald Trump verfügten, einseitigen Austritts der USA aus dem Atomabkommen mit dem Iran und der Wiederverhängung der von Barack Obama 2015 aufgehobenen Finanz- und Wirtschaftssanktionen am 5. November gewinnt das Ringen zwischen Washington und Teheran an Schärfe. Dies bekommen die Menschen in Syrien und im Irak unmittelbar zu spüren. Auf der diesjährigen internationalen Sicherheitskonferenz in der bahrainischen Hauptstadt Manama Ende Oktober verlangte Trumps Sonderbotschafter bei der Anti-IS-Koalition, Brett McGurk, den Abzug aller vom Iran unterstützten Milizen aus Syrien und rief die Iraker dazu auf, die "eigenen Interessen und die eigene Souveränität zu stärken". Letzter Teil des Appells McGurks war natürlich gegen die Zusammenarbeit der beiden Nachbarländer Iran und Irak gerichtet.

Über die ungebetene Einmischung der Amerikaner in die Außenpolitik ihres Landes haben sich die Iraker erst entrüstet, nachdem am 4. November per Twitter die US-Botschaft in Bagdad den Iran dazu aufforderte, "die Souveränität der irakischen Regierung zu respektieren und die Entwaffnung, Demobilisierung und Reintegrierung" jener schiitischen Milizen, die seit 2014 neben den staatlichen Streitkräften gegen die Kalifatsanhänger vom IS kämpfen, in die Wege zu leiten. Außenamtssprecher Ahmed Mahdschub erklärte, die Twitter-Meldung sei "respektlos" und verletzte "diplomatische Normen". Schließlich hat vor vier Jahren nicht das "Mullah-Regime" in Teheran, sondern die höchste geistliche Autorität des Iraks, Großajatollah Ali Sistani, alle wehrfähigen Männer an die Waffen gerufen, um den damaligen Sturm des IS auf Bagdad zu stoppen, woraus dann die Volksmobilisierungskräfte entstanden sind.

Diese haben sich im Irak inzwischen zu einem politischen Machtfaktor entwickelt. Bei den irakischen Parlamentswahlen, die im vergangenen Mai stattfanden, hat die aus den Volksmobilisierungskräften entstandene Allianz Al Fatah (Eroberer) gleich den zweiten Platz hinter dem Al-Ahrar-Bündnis des einstigen schiitischen "Radikalpredigers" Muktada Al Sadr mit den irakischen Kommunisten erobert und die Gruppierung Nasr Al Irak (Irakischen Sieg) um den bisherigen Premierminister Haider Al Abadis auf Rang drei verwiesen. Eine Folge der Wahlniederlage des als pro-westlich geltenden Abadis ist, daß der von ihm noch im August als Leiter der Volksmobilisierungskräfte entlassene Falih Alfajjad nun Innenminister in der neuen Koalitionsregierung um Ex-Finanzminister Adil Abdel Mahdi wird.

Anfang November zeigte sich bereits die neugefundene "Souveränität" Bagdads, als die Mahdi-Regierung 8000 Soldaten und 20.000 Mitglieder der Volksmobilisierungskräfte in die Provinz Anbar schickte, damit sie grenzübergreifend nach Deir ez-Zor hinein den Syrischen Demokratischen Kräften im Kampf gegen IS Schützenhilfe leisten. Seit Monaten versuchen die SDF, die der türkisch-kurdischen PKK nahesteht, vergeblich, das letzte Rückzugsgebiet des IS um die Stadt Hadschin zu erobern. Die SDF-Offensive wird durch Sandstürme sowie hin und wieder durch "freundliches" Feuer der eigenen Alliierten von der amerikanischen und kanadischen Luftwaffe behindert. Bei vielen Menschen im Irak und in Syrien verfestigt sich angesichts der Vorgänge in Deir ez-Zor der schon lange gärende Verdacht, daß die USA den Kampf gegen IS lediglich als Vorwand benutzen, um sich militärisch langfristig im ölreichen irakisch-syrischen Grenzgebiet festzusetzen und den Regierungen in Damaskus und Bagdad diktieren zu können, wie sie ihre Länder zu verwalten haben.

Am 31. Oktober berichtete die türkische Zeitung Yeni Safak, sie sei im Besitz von Dokumenten, welche den schon lange vermuteten Waffentransfer von den Amerikaner zum IS belegten. Laut Yeni Afak hätten besagte Waffenlieferungen den IS zu seinen jüngsten Vorstößen in Homs und Deir ez-Zor verholfen. Am 2. November veröffentlichte die Onlinezeitung Middle East Eye eine erhellende Reportage ihres Korrespondenten Tom Westcott, der vor kurzem in der irakischen Provinz Anbar gewesen ist und dort mit zahlreichen Soldaten und Milizionären gesprochen hat.

Diese Leute machten erstaunliche Angaben. Mit Blick auf den US-Militärstützpunkt bei Al Qaim zitiert Westcott zum Beispiel Ahmed Nasrallah, den Stellvertretenden Oberkommandierenden der Volksmobilisierungskräfte im westlichen Irak, wie folgt: "Die Amerikaner sehen alles, darunter auch die IS-Aktivitäten in diesem Gebiet, doch sie tun nichts, außer uns anzugreifen und uns Schwierigkeiten zu bereiten. Die USA wollen die irakischen Sicherheitskräfte in der Wüstenregion nicht haben." Ähnlich lautet die von Westcott wiedergegebene Einschätzung eines nicht namentlich genannten Kommandeurs der schiitischen Brigade Ahl Al Hak: "Die anhaltende Präsenz der amerikanischen Streitkräfte in Anbar dient nicht der Bekämpfung von IS, sondern dem Versuch, den schiitischen Bogen, der sich von Bahrain bis zum Libanon erstreckt, zu zerschlagen. Die Amerikaner wollen diese Gegend nicht aufgeben." Das ist wohl wahr. Sie werden sie jedoch vielleicht aufgeben müssen.

5. November 2018


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