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NAHOST/1657: Libyen - die Nähte halten nicht ... (SB)


Libyen - die Nähte halten nicht ...


Noch in diesem Monat sollte unter der Schirmherrschaft der Vereinten Nationen in der westlibyschen Statt Ghadames eine große Bürgerversammlung stattfinden, auf der Vertreter der wichtigsten gesellschaftlichen Gruppen wie Stämme, Parteien und Ethnien die Modalitäten für die Durchführung von Präsidentschafts- und Parlamentswahlen bis Ende 2019 ausdiskutieren und beschließen sollten. Ob die ambitionierten Pläne des UN-Sondergesandten Ghassan Salamé für einen demokratischen Aufbruch in Libyen in Erfüllung gehen ist fraglich. Eher sieht es so aus, als würde das innenpolitische Ringen um Macht und Einfluß in dem ölreichen nordafrikanischen Staat, der seit dem gewaltsamen, von der NATO initiierten Sturz Muammar Gaddhafis 2011 nicht mehr zur Ruhe kommt, erneut in blutige Auseinandersetzungen umschlagen.

Am 3. April hat Feldmarschall Khalifa Hifter, Oberkommandeur der sogenannten "libyschen Nationalarmee" (LNA), auf die sich die eine Regierung, genannt House of Representatives (HoR), im östlichen Tobruk stützt, seine Truppen mit der Einnahme der Hauptstadt Tripolis beauftragt. Dort sitzt die rivalisierende Regierung der Nationalen Einheit (Government of National Accord - GNA) um Premierminister Fayiz Al Sarradsch. Die GNA genießt zwar die Anerkennung der Vereinten Nationen, verfügt jedoch über keine Streitmacht, die sie ihre eigene nennen könnte, und ist deshalb auf die Unterstützung diverser Milizen in Tripolis und Umgebung angewiesen, die einander regelmäßig wegen irgendwelcher Revierkämpfe in die Haare geraten. In Reaktion auf das Vorrücken der LNA hat Al Sarradsch am selben Tag in Tripolis den Notstand ausgerufen.

In den vergangenen zwei Monaten war es der LNA im Rahmen einer nicht wenig beeindruckenden Großoffensive gelungen, praktisch den gesamten Süden des Landes einschließlich El Scharara, des größten Ölfelds Libyens, unter ihre Kontrolle zu bringen. Beim Feldzug mußten Hifters Kommandeure in den seltensten Fällen militärische Gewalt anwenden. Gereicht hat in den meisten Fällen die Gewaltandrohung, gepaart mit dem Wunsch weiter Teile der Bevölkerung in den betreffenden Städten und Gemeinden nach gesellschaftlicher Stabilität und der langersehnten Rückkehr staatlicher Ordnung. Dazu hat sich Al Sarradsch bisher aufgrund fehlender militärischer Durchsetzungskraft in den Wüstengegenden Libyens weitab der Mittelmeerküste als unfähig erwiesen. Je mehr sich die LNA-Militärkolonne in den letzten Wochen Tripolis vom Südwesten her genähert hat, um so unausweichlicher erschien die Stunde der Entscheidungsschlacht zwischen Al Sarradsch und Hifter. Ende März erzielte Hifter einen wichtigen Etappensieg, als sich die mächtige Miliz der Bergstadt Zintan im Landesinnern zum Verbündeten der LNA erklärte.

Am 4. April näherte sich von Osten her ein großer Konvoi von Militärfahrzeugen Sirte. Diese Küstenstadt, die etwa auf halber Strecke zwischen Tobruk und Tripolis liegt, wird seit 2016 von Kämpfern der ebenfalls mächtigen Miliz Bunyan al-Marsous (BAM) der Stadt Misurata, welche bisher Al Sarradschs GNA unterstützt hat, kontrolliert. Damals hatte die BAM nach monatelangem Häuserkampf die Dschihadisten der "Terrormiliz" Islamischer Staat (IS) vertrieben und ihr Mini-Kalifat zerschlagen. Mit dem Vorstoß nach Sirte deutete sich eine Zangenbewegung der LNA von Süden und Osten in Richtung Tripolis an. Gegenüber Middle East Eye sagte BAM-Sprecher Generalmajor Mohamed Al Ghosri, die Misurater würden ein Eindringen der LNA nach Sirte hinein als "Kriegserklärung" interpretieren. Die BAM stehe zur GNA und sei bereit, die LNA zurückzuschlagen, so Al Ghosri.

Zur selben Zeit hatten Hifters Truppen die Stadt Tarhuna erreicht, die etwa fünfzig Kilometer von der Küste und etwa gleich weit von Tripolis im Westen und Misurata im Osten entfernt liegt. Bald darauf wurde die Lage schnell unübersichtlich. Im Dreieck Tripolis-Tarhuna-Misurata kam es am 4. und 5. April zu einer Reihe von Scharmützeln zwischen der LNA auf der einen und der BAM aus Misurata sowie befreundeten Milizen aus der Hauptstadt auf der anderen Seite. Vor allem beim strategisch wichtigen Checkpoint 27 an der Küstenstraße zwischen Zawia und Tripolis sollen heftige Kämpfe stattgefunden haben. Dort will die BMA 150 LNA-Soldaten gefangengenommen haben.

Gegenüber der Zeitung Libyen Herald behaupteten die Misurater, ihre Operation namens "Wadi Doum 2" zur Abwehr des LNA-Angriffs auf Tripolis sei ein großer Erfolg gewesen. Mit der Bezeichnung der Aktion haben Hifters Gegner den Feldmarschall demonstrativ verhöhnt. Wadi Doum ist der Name eines von Gaddhafi im Norden des Tschads gebauten Militärstützpunkts, wo Hifter 1986, damals als General der regulären libyschen Streitkräfte, eine schwere Niederlage gegen die tschadische Armee erlitt und in Kriegsgefangenschaft geriet. 1990 ging er nach der Freilassung ins Exil in die USA, wo ihn die CIA mehr als zwei Jahrzehnte lang als potentiellen Ersatz für Gaddhafi und neuen "starken Mann" Libyens warmhielt.

Inwieweit sich die Meldung des Libya Herald über die Situation vor den Toren von Tripolis mit der militärischen Wirklichkeit in Deckung bringen läßt, kann man aus der Ferne nicht beurteilen. Es sieht jedenfalls alles danach aus, als hätte Hifter mit dem Vorrücken auf Tripolis alles auf eine Karte gesetzt. Bedenkt man der Stärke der BAM, ist er mit der Aktion ein erhebliches Risiko eingegangen. In der Ausgabe der New York Times vom 5. April wurde Wolfram Lacher, Libyen-Experte der deutschen Stiftung Wissenschaft und Politik (SWP), mit den Worten zitiert: "Für Hifter geht es um alles oder nichts. Er greift ganz klar nach der Macht, doch sollte er scheitern, wird er eine vernichtende Niederlage erleiden. Er wird nicht in der Lage sein, seine Nachschubwege aufrechtzuerhalten."

6. April 2019


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