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NAHOST/1716: Irak - inmitten der Probleme angekommen ... (SB)



Irak - inmitten der Probleme angekommen ...

Nach monatelangem politischen Ringen in Bagdad hat der Irak endlich wieder einen Premierminister und eine handlungsfähige Regierung. Am 7. Mai hat eine Mehrheit der Abgeordneten im irakischen Parlament den früheren Geheimdienstchef Mustafa Al Kadhimi zum Nachfolger von Adil Abd Al Mahdi, der im vergangenen Oktober 2019 wegen anhaltender Massenproteste im Lande gegen Arbeitslosigkeit, Armut, Korruption und Mißwirtschaft zurückgetreten war, auserkoren. In den Monaten zuvor hatten bereits zwei von Präsident Barhan Salih nacheinander designierte Kandidaten für das Amt des Premierministers, Mohammed Taufik Allawi und Adnan Al Zurfi, im Parlament keine ausreichende Unterstützung gefunden. Beide Männer galten als zu amerikafreundlich. Dagegen scheint der parteilose Al Kadhimi ein Mann zu sein, mit dem sowohl Washington als auch Teheran leben können.

Seine Erfahrungen als Geheimdienstchef vom Juni 2016 bis April dieses Jahres wird der gelernte Rechtswissenschaftler und Journalist zur Bewältigung der vor ihm stehenden Herkules-Aufgaben brauchen können. Trotz der Niederschlagung des Aufstands der sunnitischen "Terrormiliz" Islamischer Staat (IS) und der Beseitigung von dessen Kalifat im Grenzgebiet zu Syrien 2018 kommt der Irak nicht zur Ruhe. Der IS operiert seitdem aus dem Untergrund und wird in letzter Zeit immer gefährlicher. Allein bei einem von mehreren IS-Überfällen am Wochenende des 2. und 3. Mai sind zehn Angehörige einer schiitischen Miliz ums Leben gekommen. Darum haben die irakischen Streitkräfte am 4. Mai die Operation "Wüstenlöwen" gegen IS-Schläferzellen in mehreren Provinzen nördlich von Bagdad gestartet.

Das Verhältnis der 2014 von Großajatollah Ali Sistani zum Kampf gegen den IS ins Leben gerufenen Volksmobilisierungskräfte zum irakischen Staat ist in letzter Zeit ein großes Problem geworden. Einige der schiitischen Milizen, die zu den Volksmobilisierungskräften gehören, waren während der Herrschaft Saddam Husseins entstanden und hatten vom iranischen Boden aus das damalige Baath-"Regime" bekämpft. Dadurch war eine Waffenbruderschaft entstanden, die auch nach dem Sturz des früheren irakischen Machthabers 2003 durch die angloamerikanischen Streitkräfte nicht abriß. Gruppen wie die Badr-Brigade, Muktada Al Sadrs Mahdi-Armee oder die Kataib Hisb Allah haben in den Nullerjahren gegen die amerikanischen und britischen Invasoren gekämpft. Bei der Niederschlagung von IS haben sie sich verdient gemacht, doch stand die Frage ihrer Loyalität - oder zum Irak oder zum Iran - ständig im Raum.

Als im vergangenen Herbst praktisch zeitgleich in den zwei Nachbarstaaten eine regierungskritische Protestbewegung entstand, antworten die Sicherheitsbehörden Bagdads und Teherans mit harter Hand. Wegen des Verdachts, die Protestierer seien eine fünfte Kolonne der USA, haben schiitische Milizionäre im Irak zahlreiche Demonstranten mißhandelt. Bei den Unruhen kamen mehrere hundert unbewaffnete Zivilisten ums Leben. Unfähig, das Gewaltmonopol des Staates durchzusetzen, trat Premierminister Al Mahdi entnervt zurück. Verändert hat sich die Lage erst, als am 3. Januar die USA den iranischen General Qassem Soleimani mittels eines ferngesteuerten Drohnenangriffs liquidierten. Schließlich war Soleimani für die Koordinierung der militärischen Zusammenarbeit des Irans mit befreundeten Gruppen im Libanon, Syrien und im Irak zuständig. Die Hinrichtung des legendären Strategen hat die pro-iranische Fraktion innerhalb der Volksmobilisierungskräfte erheblich geschwächt.

Seit dem Tod Soleimanis versucht Iraks oberste schiitische Geistlichkeit, Ali Sistani, der stets um politisch-theologische Distanz zu Teheran bemüht gewesen ist, jene Milizen, die nach seinem Aufruf zu den Waffen vor sechs Jahren quasi entstanden sind, zum Übertritt in den Dienst der regulären Streitkräfte zu bewegen. Wie die Onlinezeitung Middle East Eye am 1. Mai berichtete, kommt Sistani mit seinen Bemühungen voran. Auf seine Veranlassung hin haben sich vor wenigen Tagen die Offiziere und einfachen Soldaten der Imam-Ali-Brigade, der Ali-al-Akbar-Brigade, der Abbas-Kampfbrigade und der Ansar-al-Marjijja-Brigade dem Verteidigungsministerium in Bagdad voll und ganz unterworfen. Das sind Zehntausende von erfahrenen Kämpfern. Auch wenn sich ältere Gruppen wie die Badr-Brigade gegen die Entwicklung sperren, scheint die gänzliche Auflösung der Volksmobilisierungskräfte nur noch eine Frage der Zeit.

Die Regierung Donald Trumps hat damals die Hinrichtung von Soleimani unter anderem mit den wiederholten Raketenangriffen auf US-Militärstützpunkte im Irak begründet. Bis heute reißen diese Angriffe nicht ab, wenngleich schwierig ist zu bestimmen, ob tatsächlich, wie von Washington behauptet, die schiitische Kataib Hisb Allah dahinter steckt oder ob hier vielleicht die sunnitischen Untergrundkämpfer des IS ihre Finger im Spiel haben. Wie dem auch sei, in den letzten Monaten haben die USA vier Stützpunkte geräumt, ihre rund 7.500 Soldaten im Irak zur Konsolidierung auf einige wenige Basen verteilt und zum Schutz besagter Areale Patriot-Raketenabwehrbatterien installiert.

Die Corona-Virus-Pandemie hat den Irak bislang nicht so hart wie den Iran, die Länder Europas oder die USA getroffen. Doch die weggebrochene Nachfrage nach Rohöl und die sinkenden Einnahmen Bagdads aus dem Handel mit dem schwarzen Gold stellen den frisch gewählten Premierminister Al Kadhimi vor großen Herausforderungen. Aus Rücksicht auf die schwierige wirtschaftliche Lage des Irak haben die USA die Suspendierung ihrer Sanktionen gegen den Import iranischen Erdgases, auf das mehrere Kraftwerke im irakischen Süden für die öffentliche Stromerzeugung angewiesen sind, vor wenigen Tagen bis Ende des Monats verlängert. Gleichzeitig berichten amerikanische und iranische Medien, daß ein Austausch von Gefangenen/Geiseln zwischen Teheran und Washington dank der Vermittlung der Schweiz bevorsteht. Mit einer Entspannung der Konfrontation zwischen den USA und dem Iran wäre vor allem dem Irak und seiner Menschen geholfen.

8. Mai 2020


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