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NAHOST/1717: Ägyptens Antiterrorkrieg - Austausch von Grausamkeiten ... (SB)


Ägyptens Antiterrorkrieg - Austausch von Grausamkeiten ...


Nach anfänglichem Kompetenzwirrwarr Ende Februar, Anfang März scheint die Regierung in Ägypten die Corona-Virus-Epidemie am Nil in den Griff bekommen zu haben. Am 24. März hat Kairo alle Schulen geschlossen, die meisten Beschäftigten in den Zwangsurlaub geschickt, alle größeren Treffen von Menschen im öffentlichen Raum verboten, eine Aussetzung des Schuldendiensts für Privatpersonen und die meisten Betriebe verfügt sowie eine Zwangsquarantäne von vierzehn Tagen für alle heimkehrenden Ägypter vorgeschrieben. Die offiziellen Zahlen sprechen inzwischen für sich. Bei einer Bevölkerung von 100 Millionen Menschen haben die ägyptischen Behörden bislang lediglich 7981 Infektionen mit SARS-CoV-2 und 482 Todesfälle registriert. Um die Verbreitung der Lungenkrankheit Covid-19 weiterhin gering zu halten, wurde vor wenigen Tagen die nächtliche Ausgangssperre bis Ende des islamischen Fastenmonats Ramadan am 23. Mai verlängert.

Wie es jedoch in der grausamen Diktatur des Abdel Fatah Al Sisi hinter der Fassade aussieht, wissen nur der ehemalige Generalstabschef und seine engsten Vertrauten. Zwar hat Al Sisi im April als Zeichen des guten Willens 4000 Inhaftierte freigelassen, doch machen sich Menschenrechtler und Angehörige weiterhin große Sorgen um die 60.000 politischen Gefangenen, die seit dem gewaltsamen Sturz des ersten frei gewählten Präsidenten Ägyptens, Mohammed Mursi, im Sommer 2013 in den überfüllten ägyptischen Haftanstalten mit ihren katastrophalen hygienischen Bedingungen vegetieren. Erst in den letzten Wochen hat die ägyptische Polizei eine Reihe bekannter Rechtsanwälte, Politiker und Publizisten sowie mehrere einfache Bürger, die auf Facebook den Kurs Kairos in der Corona-Krise kritisiert hatten, hinter Schloß und Riegel gebracht. Am 2. Mai wurde der Tod des inhaftierten 24jährigen Filmemachers Shady Habash bekanntgegeben. Habash war 2018 wegen des Drehs eines Musikvideos, in dem der im schwedischen Exil lebenden ägyptische Sänger Rami Essam das Staatsoberhaupt Al Sisi als "Dattel" verspottet, zu drei Jahren Freiheitsstrafe verurteilt worden. Woran er gestorben ist, ob an Unterernährung, Covid-19 oder Mißhandlung durch Al Sisis Schergen, ist unklar.

Am 8. Mai traten neue, weitreichende Befugnisse in Kraft, mit denen das Parlament in Kairo im April Präsident Al Sisi angesichts der Corona-Krise ausgestattet hatte. Human Rights Watch hat die Erweiterung der präsidialen Macht in Ägypten kritisiert und darauf aufmerksam gemacht, daß nur fünf der insgesamt 18 Maßnahmen etwas mit der Bewältigung des Corona-Virus-bedingten "medizinischen Notstands" zu tun haben. Künftig kann Al Sisi das Militär damit beauftragen, gegen Verstöße gegen die neuen Notstandsverordnungen vorzugehen. Es hat den Anschein, als bereite sich Kairo auf Massenunruhen vor, die aufgrund des wirtschaftlichen Zusammenbruchs zu erwarten sind. Infolge der Corona-Pandemie ist insbesondere die ägyptische Tourismusindustrie komplett weggebrochen, die Millionen von Menschen in Lohn und Brot bringt und für den Staat die wichtigste Devisenquelle darstellt. Mit einer Erholung noch in diesem Jahr ist nicht zu rechnen.

Sorgen muß sich das Regime in Kairo auch wegen der höchst instabilen Situation auf der Sinai-Halbinsel machen, wo Islamisten seit der illegalen Beseitigung der Regierung der Moslembruderschaft vor sieben Jahren den staatlichen Streitkräften einen blutigen Aufstand liefern. 2014 hat eine im Sinai entstandene militante Gruppe, die Ansar Bait Al Makdis, Abu Omar Al Baghdadi, dem damaligen Chef der "Terrormiliz" Islamischer Staat, die Treue geschworen, die Halbinsel zu einem Teil des IS-Kalifats erklärt und sich in Vilayat Al Sina umbenannt. Im Februar 2018 startete die ägyptische Armee auf der Sinai-Halbinsel eine großangelegte Antiterroroperation, die bis heute andauert und nicht besonders erfolgreich zu verlaufen scheint.

Am 30. April kamen zehn Militärs ums Leben, als südlich der nördlichen Sinai-Stadt Bir Al Abd eine Straßenmine unter ihrem gepanzerten Mannschaftswagen detonierte. Zu der Aktion haben sich die Kämpfer des Vilayat Al Sina bekannt. Am 3. Mai erfolgte die Vergeltungsoperation der ägyptischen Armee. Bei einer Razzia des Militärs gegen ein mutmaßliches Versteck der Islamisten kamen 18 Insassen des Hauses in Bir Al Abd ums Leben. Nach Angaben des Militärs handelte es sich bei den Verstorbenen um "Schläfer", die weitere schwere Anschläge planten, sich nicht ergeben wollten und während eines Schußwechsels den Tod fanden. Am 4. Mai gab hingegen der Blog The New Arab, der eine höchst seriöse Quelle ist, unter Verweis auf Augenzeugen eine ganze andere Version der Ereignisse wieder. Demnach hatte die Armee mit mehreren Fahrzeugen eine Gruppe unbewaffneter Gefangenen zu dem fraglichen Objekt gebracht, sie dort hineingetrieben und alle mit Maschinengewehren massakriert. So läuft Abschreckung in Al Sisis Folterstaat ab.

9. Mai 2020


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