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SOZIALES/2096: Krebs - Sterberisiko eine Frage des Wohlstands (SB)


In ärmeren Regionen Deutschlands sterben Krebskranke eher als in wohlhabenderen Regionen



Wer in ärmeren Landkreisen Deutschlands wohnt, hat bei einer Krebserkrankung eine deutlich geringere Überlebenschance als jemand, der in einem wohlhabenderen Landkreis lebt. Die Diskrepanz zeigt sich besonders krass in den ersten drei Monaten nach der Diagnose, berichtete das Deutsche Krebsforschungszentrum (DKFZ) unter Berufung auf eine hauseigene Studie einer Forschergruppe um Professor Hermann Brenner. Sie hat 10 der insgesamt 16 deutschen Landeskrebsregister ausgewertet und dabei die Daten von einer Million anonymer Patienten, die zwischen 1997 und 2006 an einer der 25 häufigsten Krebsarten erkrankt waren, analysiert. [1]

Innerhalb der ersten drei Monate nach der Krebsdiagnose liegt das Sterberisiko von Patienten aus den sozioökonomisch schwächsten Landkreisen um 33 Prozent, innerhalb von neun Monaten nach der Diagnose noch immer um 20 Prozent und in den darauffolgenden vier Jahren um 16 Prozent höher. Die anfängliche Vermutung, daß Menschen in ärmeren Regionen seltener zur Früherkennung gehen, wurde laut Erstautorin Dr. Lina Jansen nicht bestätigt.

Die Forscher erklären, daß ihre Ergebnisse "nicht unbedingt Rückschlüsse" auf die individuelle Situation der Patienten zulassen, sondern auch damit zu tun haben könnten, daß "in den sozioökonomisch schwächeren Landkreisen spezialisierte Behandlungszentren schlechter erreichbar" sind "oder weniger Plätze bieten".

Sicherlich ist diese Erklärung notwendig, andernfalls sich die Studienautoren den Vorwurf einer voreingenommenen Interpretation aussetzen würden. Dennoch könnte man fragen, ob ein so reiches Land wie Deutschland nicht verhindern kann, daß sozioökonomisch schwächere Landkreise medizinisch schlechter ausgestattet oder Krebsbehandlungszentren schwerer erreichbar sind. In der Lesart der Entwicklungspolitik wären beides typische Merkmale eines Armutslands gegenüber einem reichen Land.

Also könnte man sagen, daß das statistisch nachgewiesene höhere Sterberisiko von Krebspatienten entweder mit den individuellen oder den regionalen sozioökonomischen Bedingungen zu tun hat, aber in beiden Fällen gleichermaßen Ausdruck eines gesellschaftlichen Arm-Reich-Gefälles ist.

Das Ergebnis paßt zu dem, was bereits in früheren Studien festgestellt worden war: In Deutschland klafft die Lebenserwartung zwischen armen und reichen Einwohnern immer mehr auseinander. So schrieb die "Ärztezeitung" Ende Mai vergangenen Jahres [2], daß die mittlere Lebenserwartung bei ärmeren Frauen (die über ein Netto-Äquivalenzeinkommen verfügen, das weniger als 60 Prozent des Mittelwertes aller Haushalte beträgt) rund acht Jahre unter der von reicheren Frauen (Verdienst: 150 Prozent und mehr des mittleren Netto-Äquivalenzeinkommens aller Haushalte) liegt. Bei Männern beträgt die Differenz sogar elf Jahre. Zum Vergleich: Rund zehn Jahre ist auch der Unterschied der durchschnittlichen Lebenserwartung zwischen der Bevölkerung Bangladeschs und Deutschlands. [3]

Somit hat sich nicht nur die Einkommensschere zwischen Arm und Reich mit der Einführung der "Agenda 2010" weiter denn je geöffnet, auch die Diskrepanz, wieviele Lebensjahre arme und reiche Einwohner zu erwarten haben, ist diesem Trend gefolgt. Und diese zweifelhafte "Erfolgsgeschichte" sozialtechnokratischer Armutsverwaltung wird nun auch von Frankreich übernommen. Das liegt in der Länderstatistik zur Lebenserwartung noch dreizehn Stellen vor Deutschland, dürfte aber bald seinen Vorsprung verspielen, wenn der "Pakt der Verantwortung", den Staatspräsident Francois Hollande vor kurzem ausgerufen hat, seine Wirkung als gesellschaftlicher Umverteilungsmechanismus von unten nach oben entfaltet: Die Unternehmen sollen um 30 Milliarden Euro entlastet werden, die fehlenden Staatseinnahmen werden durch eine Kürzung der Sozialprogramme kompensiert. Hauptsächlich zu deren Lasten gehen auch weitere Einsparungen der Staatsausgaben in zweistelliger Milliardenhöhe. [4]

Trotz der beschriebenen Diskrepanz nimmt die durchschnittliche Lebenserwartung in Deutschland kontinuierlich zu und lag im Jahr 2013 bei 80,32 Jahren. Das läßt den Schluß zu, daß die unteren Einkommensgruppen keinen Anteil an dem Anstieg haben. Deutschland ist wirtschaftlich reich, aber zugleich ein Entwicklungsland. Das läßt sich bereits mit einem so groben Raster wie dem der Landkreise erahnen, würde aber noch deutlicher werden, je genauer man die Lebensverhältnisse der Menschen untersucht. Der Koalitionsvertrag der schwarz-roten Bundesregierung läßt nicht erkennen, daß sich daran in den nächsten vier Jahren etwas ändern soll.


Fußnoten:

[1] https://www.dkfz.de/de/presse/pressemitteilungen/2014/dkfz-pm-14-05-Krebsueberleben-haengt-vom-Wohnort-ab.php

[2] http://www.aerztezeitung.de/extras/druckansicht/?sid=839622&pid=848129

[3] http://www.laenderdaten.de/bevoelkerung/lebenserwartung.aspx

[4] http://www.spiegel.de/politik/ausland/frankreich-bundesregierung-lobt-reformplaene-von-fran-ois-hollande-a-943697.html

3. Februar 2014