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BERICHT/054: Freiheit für Ägypten! - Die Stimme der Diaspora (SB)


Solidaritätskundgebung an der Berliner Gedächtniskirche am 29. Januar 2011

Menschenmenge auf Solidaritätsdemo - © 2011 by Schattenblick

Auch und gerade in Berlin nicht vergessen, was in Ägypten geschieht ...
© 2011 by Schattenblick

Die Erhebung der ägyptischen Bevölkerung gegen das Regime Hosni Mubaraks ist ein Ereignis nicht nur von nationaler Bedeutung. Das Land mit der größten Bevölkerung der arabischen Staatenwelt ist von extremen sozialen Problemen gezeichnet, wie die vielen Arbeitskämpfe der letzten Jahre gezeigt haben. Die Verelendung der Landbevölkerung dieser nach wie vor stark agrarisch geprägten Volkswirtschaft wurde durch den neoliberalen Strukturwandel, der Ägypten durch den IWF aufgezwungen wurde, auf eine Weise verschärft, die die essentielle Überlebenssicherung vieler Bauern in Frage stellt. Der aus der sozialen Malaise resultierende Widerstand wird mit brutaler Polizeigewalt, der Aussetzung demokratischer Grundrechte, dem Verbot diverser oppositioneller Gruppierungen und dem seit 1981 in Kraft befindlichen Ausnahmezustand unter Kontrolle gehalten.

Die Herrschaft des Präsidenten Hosni Mubarak wäre ohne die politische und materielle Unterstützung der USA und EU längst untragbar geworden. Nun, da der Despot zu stürzen droht, befinden sich die westlichen Regierung in der prekären Lage, einerseits ihren Gewährsmann in Kairo nicht von heute auf morgen fallen lassen zu können, andererseits aber auch nicht den Anschluß an die sich rasant entfaltende Dynamik des Wandels verlieren zu dürfen. Wenn dieser Eckpfeiler westlicher Hegemonie im Nahen und Mittleren Osten auf eine Weise fällt, die eine tatsächlich demokratische, von äußeren Einflüssen unabhängige Regierung hervorbrächte, dann könnte dies weiteren arabischen Bevölkerungen, die sich im Griff vom Westen unterstützter Regimes befinden, zum Vorbild gereichen. Die wachsweichen Formeln, mit denen derzeit die Regierungen der EU und der USA versuchen, sich nicht eindeutig auf die Seite derjenigen Kräfte zu stellen, die die von ihnen selbst propagierten Werte von Freiheit und Demokratie verkörpern, spricht Bände über die Ratlosigkeit, die in Washington, Brüssel, London und Berlin - als Frucht des eigenen außenpolitischen Opportunismus durchaus erkannt - derzeit herrscht.

Lautstarke Kundgebung - © 2011 by Schattenblick

Weithin zu vernehmende Sprechchöre erregen Aufmerksamkeit
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Um so wichtiger wäre es, auch auf die Stimme der ägyptischen Diaspora zu hören, die in allen Hauptstädten der EU vertreten ist. Eine Gelegenheit dazu ergab sich - zumindest für den Schattenblick - am 29. Januar 2011 auf dem Platz an der Berliner Gedächtniskirche. Dort trafen sich etwa 200 hauptsächlich aus Ägypten stammende Demonstranten zu einer Solidaritätskundgebung mit ihren am Vortag im ganzen Land zu Millionen gegen das Regime Mubarak aufgestandenen Landsleuten. Zwar wurden die kämpferischen Reden hauptsächlich auf arabisch gehalten, und auch der Inhalt der lautstarken Sprechchöre erschloß sich dem dieser Sprache Unkundigen lediglich ahnungsweise. Unmißverständlich war jedoch, wie auch die mitgeführten Transparente verkündeten, die Aufforderung an die Adresse Mubaraks, endlich den Platz an der Spitze des Landes für einen demokratisch gewählten Nachfolger freizugeben und damit Freiheit für Ägypten möglich zu machen.

Redner unterschiedlicher Gruppierungen - © 2011 by Schattenblick  Redner unterschiedlicher Gruppierungen - © 2011 by Schattenblick
Redner unterschiedlicher Gruppierungen - © 2011 by Schattenblick

Kämpferische Redner dokumentieren Breite der ägyptischen Demokratiebewegung
© 2011 by Schattenblick

Gefragt danach, worin die verschiedenen politischen Gruppierungen der in Berlin lebenden Ägypter übereinstimmten, erklärt einer der Organisatoren der Kundgebung, der Generalsekretär der Ägyptischen Gemeinde e. V. Hesham Morad, daß es ihnen allen darum ginge, das ägyptische Volk zu unterstützen und dafür zu sorgen, daß das Regime nach 30 Jahren Herrschaft verschwindet. Man strebe wirklich demokratische Verhältnisse und die Respektierung der Menschenrechte an. Zur sozialen Lage im Land führt er aus, daß es im Grunde genommen nur noch zwei Schichten, arm und reich, gäbe und daß die Mittelschicht definitiv verschwunden wäre. Morad kritisiert die ständige Zunahme des Analphabetismus und den Verfall der Bildungsinstitutionen, den Mangel an Ernährungssicherheit und die Abwesenheit sozialer Gerechtigkeit. Insbesondere die Jugend sei von der hohen Arbeitslosigkeit betroffen, das beträfe auch Uni-Absolventen mit erstklassigen Abschlüssen, die anschließend bestenfalls einen Job als Reinigungskraft in einem Restaurant bekämen.

Morad fordert die Bildung einer Übergangsregierung ohne Teilnahme der regierenden Nationaldemokratischen Partei (NDP), deren Auflösung überfällig sei und deren Führung er vorwirft, nur an sich selbst zu denken. Auf die Frage, ob er sich vorstellen könne, daß künftig Machtkämpfe zwischen eher religiös und eher säkular orientierten politischen Fraktionen ausbrechen könnten, erklärt er, daß es solche Konfrontationen überall auf der Welt gebe und es letztlich darum ginge, daß das Volk über die Zusammensetzung einer Regierung entscheide. Zur Rolle der USA und EU bei der Unterstützung des herrschenden Regimes meint Morad, es sei an der Zeit, daß diese Regierungen einmal der Wahrheit ins Auge schauten. Er empfiehlt ihnen, in der Fernsehberichterstattung einen Blick auf die Menschen zu werfen. Das Volk hat das Wort, so Morad zur zukünftig die Geschicke des Landes bestimmenden Kraft. Seine Familie in Ägypten lebe in bester Eintracht mit christlichen und jüdischen Bürgern, doch offensichtlich seien Kräfte aus dem Ausland wie innerhalb Ägyptens daran interessiert, Konflikte zwischen den verschiedenen Religionsgemeinschaften, zwischen religiös und säkular orientierten Menschen zu schüren.

Gefragt nach den jüngsten Auseinandersetzungen zwischen Kopten und Muslimen gibt Morad zu verstehen, daß es eine derartige Konfrontation gar nicht gegeben habe, sondern lediglich einen Anschlag. Er fühle sich als Ägypter, und ihn interessiere nicht im mindesten, welche Religion sein Nachbar habe. Ihn interessiere im Kern, wie sich der andere Mensch verhalte. Für ihn entscheide die Frage der Menschlichkeit darüber, ob man etwas mit dem anderen zu tun habe oder nicht.

Demonstranten in der Diskussion - © 2011 by Schattenblick

Kein Mangel an Stoff für erregte Debatten
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Ein anderer Demonstrant antwortet auf die Frage, ob das Ziel dieser Erhebung darin bestehe, Mubarak zum Rücktritt zu zwingen, daß es ihnen um die grundlegende Demokratisierung des Landes gehe. Zwar seien ganz verschiedene Gruppierungen an den Protesten beteiligt, doch sie seien sich in dem Ziel einig, nach 30 Jahren Diktatur demokratische Verhältnisse herzustellen. Auch dieser Ägypter ist der Ansicht, daß den Interessen äußerer Akteure wie der EU und den USA der Anspruch der Bevölkerung auf Freiheit und Demokratie geopfert werde. Der Westen schaue der Entwicklung aus der Ferne zu, um dann zu entscheiden, wie er sich verhält, was insbesondere bei jungen Leuten die Glaubwürdigkeit der westlichen Werte erschüttere. Die hierzulande artikulierte Angst vor einer Machtübernahme durch Islamisten verwirft der Demonstrant als Produkt einer irreführenden Sicht auf die Ägypter, die normalerweise ein sehr ruhiges und tolerantes Volk wären. Die Radikalisierung bestimmter islamistischer Kreise sei vor allem ein Produkt der politischen Unterdrückung und nicht einer dem Islam innewohnenden Neigung. Diese Erscheinungen verschwänden in dem Moment, wenn politische Freiheit und soziale Gerechtigkeit in Ägypten Einzug hielten. Obwohl das Land über immense Reichtümer verfüge, befänden sich diese in einigen wenigen Händen, während ansonsten große Armut herrsche.

Flaggen Ägyptens und Tunesiens - © 2011 by Schattenblick

Von Tunesien nach Ägypten und darüber hinaus ...
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Ein weiterer Kundgebungsteilnehmer bestätigt, daß es in Ägypten schon seit den 1960er Jahren eine starke soziale Bewegung gebe, die jedoch schon zu Zeiten Gamal Abdel Nassers unterdrückt worden wäre. Mit der Präsidenschaft Anwar as-Sadats habe sich die Lage etwas verbessert, doch mit dem Amtsantritt Hosni Mubaraks nach der Ermordung Sadats 1981 hätten Verelendung und Vetternwirtschaft immens zugenommen. Seit 30 Jahren herrsche Mubarak wie ein Pharao. Auch dieser Ägypter attestiert der internationalen Staatenwelt, lediglich eigene Interessen in seinem Land zu verfolgen und dies auf Kosten der Bevölkerung zu tun. Obwohl die Regierungen westlicher Staaten demokratisch legitimiert seien, unterstützen sie Diktatoren in der Dritten Welt, was ein Widerspruch in sich sei und auf ausgemachte Heuchelei hinauslaufe. Dabei könne es auch nicht um Israel gehen, dessen Bedeutung für den Nahen Osten werde überschätzt, das Land sei zwar militärisch stark, aber klein. Die ägyptische Bevölkerung sei deshalb auch mehr über das Verhalten der eigenen Regierung gegenüber den Palästinensern erzürnt als darüber, was die israelische Regierung ihnen antue. In Ägypten finde jetzt eine Revolution der unorganisierten Massen statt, deren Ergebnis noch völlig offen sei.

Kleine Gruppe mit Transparenten - © 2011 by Schattenblick

In Sorge um die Freunde, in Trauer um die Opfer ...
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Junge Aktivisten, die mit dem Foto eines bei einer Demonstration in Kairo spurlos verschwundenen Freundes auf die polizeiliche Repression in Ägypten hinweisen, berichten von den Gefahren, die jedem drohen, der es wagt, eine Demonstration zu besuchen. Zur Unterdrückung des Protests greift die Polizei nicht nur zu sogenannten Gummigeschossen, die bereits schwere Verletzungen erzeugen können, sondern auch zu scharfer Munition. Vor allem jedoch drohen Verhaftungen, die unter dem Ausnahmezustand auch erfolgen können, wenn ein Gericht die Unschuld der betroffenen Person feststellt. Immer wieder kommt es zum Verschwinden von Regierungsgegnern, von denen später bekannt wird, daß sie mitunter jahrelang der Willkür von Folterschergen ausgesetzt waren. Bis zu 14.000 Ägypter sitzen Menschenrechtsorganisationen zufolge in Administrativhaft, und das zum Teil schon seit 20 Jahren. Daß die Sicherheitskräfte mitunter sogar Kinder foltern, ist seit Jahren bekannt, daß die Opfer mitunter an den ihnen zugefügten Qualen sterben, ebenso.

Einer der Aktivisten hält die Ermordung des 28jährigen Khaled Said im Sommer letzten Jahres in Alexandria für die Initialzündung, die die jetzige Entwicklung in Gang gesetzt habe. Zwar fänden seit 2005 jeden Monat Proteste gegen die Regierung statt, und immer wieder verschwänden danach einzelne Demonstranten monatelang in den Knästen des Regimes. Im Falle Saids erfolgte jedoch vor aller Augen, was normalerweise hinter den Mauern der Folterknäste geschieht. Er hatte sich herausgenommen, zwei Zivilpolizisten, die ihn in einem Internetcafe durchsuchen wollten, nach dem Grund der Maßnahme zu fragen. Die Beamten gingen sofort auf Said los, beschimpften ihn und schlugen seinen Kopf mehrmals auf eine Marmortischplatte. Nachdem sie ihn auf die Straße gezerrt hatten, traten sie solange auf ihn ein, bis er starb. Fotos von der fürchterlich entstellten Leiche sorgten dafür, daß der Bevölkerung die unter Ausschluß der Öffentlichkeit erfolgenden Grausamkeiten der ägyptischen Polizei dieses Mal unmittelbar vor Augen geführt wurden. Die Menschen fühlten sich seitdem unmittelbarer als zuvor durch das Regime bedroht, gaben den langgehegten Wunsch nach einem friedlichen Wandel endgültig auf und leisteten um so entschiedener Widerstand. Mubarak, der sich ganz auf die Unterstützung der USA und EU verlasse, habe 30 Jahre Demokratie versprochen und sein Versprechen nicht gehalten. Daher müsse er nun gehen, und zwar sofort, so die Forderung der AktivistInnen.

Genug Gefängnisse für alle Ägypter? - © 2011 by Schattenblick

Freiheit muß nicht erst im Knast enden ...
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Solidarität mit der großen Mehrheit der ägyptischen Bevölkerung sollte also nicht nur Sache der arabischen Diaspora sein. Was derzeit in Politik und Medien der Bundesrepublik erfolgt, sieht jedoch mehr danach aus, als hätten die Nutznießer des Regimes in Kairo ausschließlich die Frage im Sinn, ob ihre Stellungnahme in Gewinn oder Verlust resultiert. Das vielbemühte, in Fällen mißliebiger Regimes mit glühendem Herzen an die eigene Fahne geheftete Bekenntnis zu Freiheit und Demokratie wird in diesem Fall auf so distanzierte und unverbindliche Weise artikuliert, daß es zu nichts verpflichtet. Gleichzeitig ist nicht zu leugnen, daß die Demonstranten mit deutschen Maschinenpistolen verletzt und erschossen werden, daß ihnen mit Tränengas, deren Kartuschen verraten, daß sie in den USA hergestellt wurden, die Luft zum Atmen genommen wird.

Unabsichtlich hintergründiges Transparent - © 2011 by Schattenblick

Liegt Ägyptens Zukunft im neoliberalen Nachtwächterstaat?
© 2011 by Schattenblick

Ein deutscher Außenminister, der noch vor kurzem seinen Urlaub in Ägypten verbracht hat, der Mubaraks konstruktive Rolle im Nahostprozeß lobt und erklärt, daß die Bundesrepublik vor allem an Stabilität in Ägypten interessiert sei, entdeckt plötzlich das Prinzip der Nichteinmischung in die inneren Verhältnisse souveräner Staaten. Uneingedenk der für Spitzenpolitiker gebotenen Einhaltung zumindest oberflächlicher Widerspruchsfreiheit fordert er im gleichen Atemzug, daß es nicht sein dürfe, daß am Ende Radikale oder Fundamentalisten auf der Demokratiewelle in eine Machtposition getragen würden, sprich daß man eine neue Regierung in Kairo nur nach Maßgabe europäischer Interessen akzeptiere.

Ein solcher Außenminister repräsentiert die programmatische Indifferenz, mit der die Bundesregierung die Entwicklung in Ägypten beäugt, um sich keine Handlungsoption zu vergeben, auf exemplarische Weise. Das Feigenblatt der an Mubarak gerichteten Forderung, mit den gegen ihn demonstrierenden Menschen in einen Dialog zu treten, enthüllt mehr, als es einem Guido Westerwelle lieb sein dürfte. Das Angebot, den Demokratisierungsprozeß durch deutsche Hilfe beim Aufbau einer unabhängigen Justiz zu unterstützen, unterschlägt nicht umsonst, daß die Lieferung in Deutschland gefertigter Polizeiwaffen und Rüstungsgüter nach Ägypten in den letzten Jahren ausgeweitet wurde. Die Bundesbürger sollten sich fragen, was eine solch menschenfeindliche Praxis der eigenen Regierung für sie selbst bedeutet, bevor es zu spät ist.

'Das Volk will das System ändern' - © 2011 by Schattenblick

Eine nicht nur für Ägypten bedeutsame Parole ...
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1. Februar 2011