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BERICHT/094: Kongreß Kurdischer Aufbruch - Eckstein Abdullah Öcalan (SB)


Dem Verfemten in einem demokratischen Staat die Stimme verwehren?

Abdullah Öcalan plädiert für ein Konzept der demokratischen Moderne

Dêrsim Dagdeviren am Rednerpult - Foto: © 2012 by Schattenblick

Dêrsim Dagdeviren kündigt die Grußadresse Abdullah Öcalans an
Foto: © 2012 by Schattenblick

Abdullah Öcalan könnte, wenn man/frau denn so wollte, als der schwächste und hilfloseste in der Türkei lebende Kurde bezeichnet werden. Er wird seit seiner illegalen Verschleppung im Februar 1999 aus der griechischen Botschaft in Kenia, wohin er nach seiner über viermonatigen Odyssee, die ihn nach Rußland, Griechenland, Italien und in die Niederlande geführt hatte, vermutlich unter geheimdienstlicher Mitwirkung gelockt werden konnte, auf der im Marmara-Meer gelegenen Gefängnisinsel Imrali unter Bedingungen totaler Isolation gefangengehalten. Fraglos ist der Mitbegründer der in der Türkei, aber auch in europäischen Staaten wie der Bundesrepublik Deutschland verbotenen kurdischen Arbeiterpartei (PKK) aus Sicht der türkischen Staatsführung der unumstrittene Staatsfeind Nr. 1. Bewacht von eintausend Soldaten der türkischen Armee und nach 13jähriger Inhaftierung unter den Bedingungen totaler Isolation physisch wie psychisch schwer gezeichnet, erhebt Abdullah Öcalan noch immer seine Stimme für die Sache des kurdischen Volkes, so wie er sie sieht und wie sie von vielen Kurdinnen und Kurden geteilt wird.

Da die Kurdische Arbeiterpartei von der Europäischen Union noch immer als "terroristische" Organisation geführt wird, läge es womöglich nahe anzunehmen, zumal der allgemeine Kenntnisstand über die Geschichte und Gegenwart dieses viergeteilten Volkes sehr gering ist, daß die heutigen Repräsentanten der in der politischen Nachfolge der PKK stehenden oder auch nur vermuteten Organisationen, Vereine und Parteien, aber auch Abdullah Öcalan selbst, ihre Brüder und Schwestern zu den Waffen rufen und einen bewaffneten Aufstand gegen den türkischen Staat propagieren würden. Gemäß geltender straf- wie presserechtlicher Vorschriften wären damit einschlägige Tatbestände erfüllt mit der möglichen Folge, daß die Verantwortlichen juristisch belangt und die Aufrechterhaltung des PKK-Betätigungsverbots in politischer wie auch juristischer Hinsicht problemlos zu rechtfertigen wäre.

Allein fehlt es dieser Annahme an einer substantiellen Basis. Abdullah Öcalan hatte sich schon vor seiner Verhaftung für eine Beendigung der militärischen Auseinandersetzung zwischen der kurdischen Guerilla und der türkischen Armee ausgesprochen; seine Reise nach Europa hatte dem Zweck gedient, hier um eine politische Unterstützung für die Kurdinnen und Kurden nachzusuchen und in den Regierungen der EU-Staaten kompetente Vermittler für politische Verhandlungen mit Ankara zu finden. Es folgten Waffenstillstandserklärungen der PKK, die so einseitig blieben, wie sie von der Kurdenpartei zunächst abgegeben worden waren. Namentlich Abdullah Öcalan hatte seinen gewiß nicht als unerheblich einzuschätzenden Einfluß auf die kurdische Gesellschaft nach seiner Festnahme geltend gemacht, um einer friedlichen Lösung des kurdisch-türkischen Konfliktes den Weg zu ebnen. So hatte er die verbliebenen PKK-Kämpfer aufgefordert, sich aus der Türkei zurückzuziehen und die Kampfhandlungen einzustellen.

All dies ist sattsam bekannt. Gleichwohl muß es Gründe für die vollkommen unveränderte Haltung der türkischen Regierung(en) geben, sämtliche auf eine friedliche Beilegung des Konflikts gerichteten Signale der kurdischen Bewegung zu ignorieren und insbesondere an dem verhängten Verdikt, Öcalan zum absoluten Staatsfeind zu erklären, festzuhalten und seine Bereitschaft, mit der türkischen Führung in einen konstruktiven Dialog zu treten, nicht zur Kenntnis zu nehmen. Ein solcher Dialog hätte Früchte tragen können insbesondere in dem Moment, in dem die PKK und ihre obersten Protagonisten klar und unmißverständlich erklärten, daß das in der Gründungsphase unter dem Eindruck des Militärputsches von 1980 propagierte Ziel, einen eigenen kurdischen Staat errichten zu wollen, fallengelassen wurde zugunsten einer angestrebten Autonomielösung innerhalb der bestehenden nationalen Grenzen.

Am 29. Juni 1999 war Abdullah Öcalan zum Tode verurteilt worden in einem Verfahren, von dem der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte Jahre später erkennen sollte, daß es "nicht fair" und das Tribunal "nicht unabhängig und nicht unparteisch" gewesen war. Zu einer Zäsur in der Kurdenpolitik führte diese Entscheidung weder in der Türkei noch in der Europäischen Union. Öcalan, dessen Todesurteil im Zuge der EU-Beitrittsbemühungen Ankaras 2002 in eine lebenslängliche Freiheitsstrafe umgewandelt worden war, entwickelte seine politischen Konzeptionen in der Haft weiter. Im Jahre 2005 wurde vom "Volkskongreß Kurdistans" das allem Anschein nach von Öcalan entworfene Konzept eines "Demokratischen Konföderalismus Kurdistans" entworfen, über das der baden-württembergische Verfassungsschutz folgende Erkenntnisse gewonnen und der Öffentlichkeit zugänglich gemacht hatte [1]:

Für Kurdistan konkretisiert sich der demokratische Konföderalismus als eine Bewegung, die das Selbstbestimmungsrecht nicht als Recht zur nationalistischen Staatsgründung auslegt, sondern ungeachtet der politischen Grenzen eine authentische Demokratie anstrebt. In einer zu schaffenden kurdischen Struktur bildet diese Bewegung Föderationen in den kurdischen Gebieten des Irans, der Türkei, Syriens und des Irak. Diese Föderationen bilden wiederum auf höherer Ebene eine konföderale Struktur.

Diese Idee stellte einen der inhaltlichen Schwerpunkte der Konferenz "Die kapitalistische Moderne herausfordern - Alternative Konzepte und der kurdische Aufbruch" dar, die vom 3. bis 5. Februar 2012 an der Universität Hamburg stattgefunden hat. Wie die Kinderärztin und Vorsitzende des Netzwerks kurdischer Akademiker und Akademikerinnen (KURD-AKAD e.V.), Dêrsim Dagdeviren, gleich zu Beginn klarstellte, sei die Verbindung zwischen Öcalan und dem kurdischen Volk für die Konferenz sehr wichtig und einer der Hauptgründe gewesen, warum gerade auch den Sozialwissenschaften eine hohe Priorität eingeräumt worden sei. Von seiten der kurdischen Konferenzorganisatoren und -organisatorinnen wurde der Wunsch zum Ausdruck gebracht, weltweit mit Organisationen zusammenzuarbeiten, die wie die von Öcalan inspirierte kurdische Bewegung auf der Suche nach alternativen politischen Strömungen und Strukturen sind.

Junger Kurde verliest die Grußadresse Öcalans - Foto: © 2012 by Schattenblick

Bewegende Worte - die Grußadresse Öcalans
Foto: © 2012 by Schattenblick
Durch eine an den Kongreß und seine Teilnehmer und Teilnehmerinnen gerichtete Grußadresse Öcalans bot sich allen Anwesenden die Gelegenheit, sich mit den Ansichten und Überzeugungen des seit so vielen Jahren unter Extrembedingungen inhaftierten Kurden zu befassen. In einem demokratischen Staat wie der Bundesrepublik Deutschland wäre es mit den verfassungsrechtlich verbrieften Freiheitsrechten nicht zu vereinbaren, einem Menschen, und sei er in seinem Heimatstaat auch noch so verfemt, die Stimme zu nehmen. Abdullah Öcalan führte in seiner zu Beginn des Kongresses verlesenen Grußadresse aus, daß er ungeachtet der Tatsache, in Isolation zu leben, immer noch überleben könne. Wenn er frei leben könne, würde auch die Gesellschaft, für die er stehe, frei leben können. Dies sei miteinander verbunden und deshalb eine sehr wichtige Frage für die Angelegenheit des kurdischen Volkes.

Unter den Bedingungen der Isolation habe er verstanden, so Öcalan, daß er ein dogmatischer Positivist gewesen sei. Nun würde er die verschiedenen Konzepte der Moderne besser verstehen. Es sei wichtig gewesen, die allgemeinen sozialen Strukturen zu verstehen, um den Nationalstaat zu überwinden. Die ideologischen Wurzeln der früheren PKK, den Marxismus-Leninismus, befand Öcalan als ein dogmatisches Prinzip. Er habe im Laufe der Zeit begriffen, daß dies nichts mit Sozialismus, sondern mit einer hierarchischen Gesellschaft zu tun habe, die im Kapitalismus fuße. Dies gänzlich von sich zu weisen, habe er nie gezögert. Die ideologische Abkehr vom Kader-Kommunismus früherer Zeiten stellt im Verständnis Öcalans somit keine Preisgabe sozialistischer Utopien und Ideen dar. Öcalan formulierte generell staatskritische Gedanken und schilderte seine Bemühungen, Lösungsansätze zu finden für den Konflikt des kurdischen Volkes mit dem türkischen Nationalstaat, wobei er das Machtproblem als das wichtigste und schwierigste ansah.

Seiner Auffassung nach ist das Konzept des Nationalstaates nicht förderlich für die Beziehungen zwischen dem türkischen und dem kurdischen Volk und stünde der Demokratie entgegen, weshalb es wichtig sei, sich von nationalistischen Strukturen zu entfernen. Die Demokratie habe für ihn immer mehr an Bedeutung gewonnen, so Öcalan. Wie schon in einer seiner letzten Verteidigungsschriften dargelegt, habe er ein theoretisches Modell entwickelt, das das Potential in sich trüge, den türkisch-kurdischen Konflikt zu lösen wie auch zur Lösung vieler weiterer Probleme im Nahen Osten beizutragen. In Anbetracht der geschichtlichen Entwicklungen habe er dieses Konzept einer demokratischen Modernität, einer demokratischen Nation oder einer demokratischen Autonomie in einen Gegensatz zu staatlicher Macht gestellt. Dieses an libertäre oder auch anarchistische Vorstellungen angelehnte Konzept sähe regionale Regierungen im Normalfall vor, sei es doch eine historische Tatsache, daß das Konzept des Zentralstaates an Bedeutung verlöre und zunehmend isoliert werde.

Abdullah Öcalan ist, wie seiner an diesen Kongreß gerichteten Grußadresse zu vernehmen war, an einer konstruktiven Lösung des türkisch-kurdischen Konflikts wie auch generellerer Fragen und Problemstellungen der Region des Nahen Ostens, aber auch solcher von menschheitsgeschichtlicher Relevanz, interessiert. In einer Zeit, in der antikapitalistische Positionen und Kritikansätze weltweit auf immer mehr Interessierte stoßen, die von klassischen Politikkonzepten der Linken kaum noch angesprochen werden können, könnte Öcalan ein interessanter Gesprächs- und Diskussionspartner werden, so die Umstände, denen er auf seiner Gefängnisinsel nach wie vor unterworfen ist, dies zulassen würden.

Lokale und regionale Lösungsansätze vor Ort sind seiner Meinung nach "ein Muß für die Demokratie". Gewalt, Macht und Nation seien nicht das, wonach das kurdische Volk in seinem Freiheitskampf strebe. Dem Gebrauch von Waffen um des eigenen Vorteils willen erteilte Öcalan eine klare Absage, all dies habe nichts mit Sozialismus zu tun. Die Verwendung von Waffen zu einem anderen Zweck, als sich selbst und das eigene Leben zu verteidigen, wäre nur ein Werkzeug, das der Gewalt und Unterdrückung diene. Für all diese Überlegungen, die auf Fragestellungen beruhten, mit denen er sich in seinem ganzen Leben auseinandergesetzt habe, habe Öcalan eine konzeptionelle und theoretische Basis geschaffen. Begriffe wie "terroristisch" oder "separatistisch" würden ganz unabhängig davon, um welches Volk es sich handele, durch die Eliten der Staaten zu Zwecken der Unterdrückung verwendet.

In seinem Grußwort sprach Öcalan mit dem Kampf der Frauen eine weitere, auf dem Hamburger Kongreß mit einem besonderen Stellenwert versehene Thematik an, die zutiefst verbunden sei mit dem Ringen um ein Konzept einer demokratischen Moderne als politischer Alternative. Öcalan zufolge ist ein freies und gemeinsames Leben zwischen den Geschlechtern unabdingbar. Solange die besondere Situation der Frauen nicht gelöst und berücksichtigt werde, seien alle Bemühungen um Befreiung und sozialen Fortschritt zum Scheitern verurteilt. Das Leben eines Menschen könne nur wirklich gelebt werden in einer freien Gesellschaft. Soziale Bewegungen, die ein revolutionäres Potential in sich trügen, müßten diese Ansätze analysiert und umgesetzt haben.

Sollte er eines Tages freigelassen werden, so gelobte Öcalan unter dem einsetzenden Beifall der Zuhörer und Zuhörerinnen, die als "Publikum" zu bezeichnen angesichts des greifbar hohen Grades an Interesse an den vorgebrachten Inhalten und angesprochenen Fragen sich verbietet, werde er sich der Entwicklung einer dementsprechenden ethischen, ästhetischen, philosophischen, sozialen und wissenschaftlichen Mentalität widmen.

Ein Blick in die Reihen interessierter Zuhörerinnen und Zuhörer - Foto: © 2012 by Schattenblick

Die Thesen Öcalans stießen auf großes Interesse
Foto: © 2012 by Schattenblick

(Fortsetzung folgt)


Anmerkungen:
[1] 06/2005 - "Demokratischer Konföderalismus Kurdistans" als neues politisches Konzept des KONGRA-GEL,
vom Landesamt für Verfassungsschutz Baden-Württemberg, 2005, http://www.verfassungsschutz-bw.de/index.php?option=com_content&view=article&id=519:062005-demokratischer-konfoederalismus-kurdistansq-als-neues-politisches-konzept-des-kongra-gel-&catid=169:kurden--pkk&Itemid=270


10. Februar 2012