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BERICHT/101: Kongreß Kurdischer Aufbruch - Zapatistischer Brückenschlag (SB)


Ideologie und Praxis einer inspirierenden Bewegung

Vortrag von Tom Waibel am 5. Februar 2012 in der Universität Hamburg

Bildmaterial Tom Waibel - Foto 2012 by Schattenblick

Hier beginnt das befreite Gebiet
Foto 2012 by Schattenblick

Als Subcomandante Marcos im Jahr 1994 mit seinen Communiqués aus dem lakandonischen Regenwald die Bewegung der Zapatisten schlagartig in den Blickpunkt der Weltöffentlichkeit rückte, empfing die deutsche Linke diese Botschaften schlechterdings wie ein Lebenselixier. Der Zusammenbruch der sozialistischen Staatengemeinschaft, der neoliberale Siegeszug und die kapitalistische Globalisierung hatten linken Überzeugungen nach deren Blüte in den ausgehenden 1960er und 1970er Jahren derart zugesetzt, daß der ungebremste Niedergang in die Bedeutungslosigkeit zu führen drohte. Als erste linke Guerillabewegung, die seither neu auf den Plan trat, verkündete die EZLN in einer Zeit verbreiteter Perspektivlosigkeit einen Aufbruch, bei dem sich der bewaffnete Kampf nahtlos mit einem basisdemokratischen Anspruch, dem Aufbau autonomer Strukturen, Geschlechtergleichheit und Ökologie zu verbinden schien. Faszinierend mutete insbesondere das Zusammenspiel zwischen einer traditionellen indigenen Bewegung im Kampf um Selbstbestimmung und einer durch die moderne Kommunikation über das Internet beflügelten Diskussion innerhalb der Internationalistischen Linken an.

Unter ihrem programmatischen Titel "Die kapitalistische Moderne herausfordern - Alternative Konzepte und der kurdische Aufbruch" griff die Konferenz in der Universität Hamburg mit einem konsequent internationalistisch ausgerichteten Ansatz nicht nur weit über das zentrale Anliegen der Kurden hinaus, sondern verband dieses substantiell mit Kämpfen in anderen Weltregionen. Tom Waibel, der als Philosoph und Übersetzer in Wien lebt, hat jahrelang ein Wanderkino im lakandonischen Regenwald in Chiapas betreut. Er gab aus seiner Erfahrung und persönlichen Auseinandersetzung mit dem Zapatismus im Südwesten Mexikos Einblick in die Wesensmerkmale dieser Bewegung, die er mit einer ganzen Reihe auf dem Kongreß erörterter Themen und aufgeworfener Fragen in Verbindung brachte. Damit verankerte er seinen lebendigen und mit Bildmaterial angereicherten Vortrag so organisch im Diskussionszusammenhang, daß der solidarische Schulterschluß greifbar wurde.

Unter Bezugnahme auf die bei der Konferenz geführte Debatte um die soziale Verantwortung der Sozialwissenschaften erheiterte Tom Waibel seine Zuhörer mit einem aufschlußreichen Witz. In der Zeit, in der sich die zapatistische Bewegung in den 1980er Jahren in den Bergen klandestin organisierte und bewaffnete, aber noch nicht an die Öffentlichkeit getreten war, sah eine typische Bauernfamilie folgendermaßen aus: Eltern, Kinder, ein paar Schafe und Ziegen sowie ein Anthropologe, der das Geheimnis des indigenen Widerstands ergründen will. Die Wissenschaftler scheiterten mit ihrem Versuch, einer erfolgreichen Aufstandsbekämpfung Vorschub zu leisten, da das gesuchte Geheimnis irgendwo in den Bergen sicher gehütet wurde.

Wie der Referent ausführte, geht es den Zapatisten nicht darum, eine homogene Identität zu schaffen, sondern im Gegenteil um die Anerkennung der Verschiedenheit der unterschiedlichen Ethnien, Gruppierungen und Bevölkerungen, die am zapatistischen Aufstand beteiligt sind. So gibt es in der von den Zapatisten durchgesetzten Räteregierung Gesetzeskonstruktionen, die den jeweiligen Vorstellungen in den einzelnen Bevölkerungsgruppen Rechnung tragen. Zu den wesentlichen Fragen der zapatistischen Bewegung gehören zukunftsweisende Entwürfe über die angestrebte Revolution hinaus, die insbesondere die Rolle und Funktion des Nationalstaats betreffen. In ihrem Namenszug EZLN (Zapatistische Armee der Nationalen Befreiung) nimmt sie ja explizit Bezug auf die Nation. Subcomandante Marcos, einer der Sprecher des bewaffneten Arms der zapatistischen Bewegung, habe es einmal folgendermaßen ausgedrückt: Die Nation sei für den bewaffneten Widerstand so wie für die Liebe das Bett - es ist ein Vorwand, nicht mehr.

Zu thematisieren ist auch das Verhältnis der Bewegung zur katholischen Kirche und zu anderen religiösen Vorstellungen, wobei insbesondere die Befreiungstheologie für die Selbstorganisation von großer Bedeutung sei. Allem voran aber stehe wie auf dem gesamten Kongreß auch für die zapatistische Bewegung die Rolle der Frau, da der Kampf ohne die Selbstermächtigung der Frauen nicht denkbar sei. Die Frauen, so wußte Tom Waibel zu berichten, hatten vor ihre Beteiligung am bewaffneten Kampf eine wichtige Bedingung gesetzt: Die Männer dürfen keinen Alkohol mehr trinken. Wie sie erklärten, würden sie seit Generationen von den Männern unterdrückt und geschlagen: Wir werden nicht bei der Befreiung der Männer helfen, wenn diese besoffen alles Geld verspielen und uns zu Hause verprügeln. Bevor es nicht ein entsprechendes Gesetz gibt, werden wir uns nicht am Aufstand beteiligen. Diese Forderung sei von den Comandantes eingehend erörtert und schließlich akzeptiert worden, wobei sie offen eingeräumt hätten, daß sie dieses Gesetz zähneknirschend einführten, weil sie es mußten. Das sei ein Recht für die Frauen gewesen, das sie nicht geschenkt bekamen, sondern durchgesetzt haben, so der Referent. Das zeige, daß es bei der Bewegung von Anfang an nicht nur um die Wiedergewinnung einer Tradition ging, sondern gerade aus Sicht der Frauen zugleich viel Rückständiges, Unterdrückendes in dieser Tradition beseitigt werden mußte.

In der Folge nahm Tom Waibel seine Zuhörer gleichsam auf einen Spaziergang durch den lakandonischen Regenwald mit, indem er verschiedene Bilder und Graphiken zeigte, die er in ihrem Zusammenhang erläuterte. Im zapatistischen Aufstandsgebiet haben sich seinen Angaben zufolge fünf dezentrale Räteregierungen etabliert, womit ein wichtiges Grundprinzip der Bewegung umgesetzt wurde. Zu deren zentralen Prinzipien gehört allen voran, daß die Bevölkerung befiehlt und die Regierung gehorchen muß. Dazu gesellt sich die Frage, auf welche Weise sich die Bewegung weiterentwickelt: Fragend schreiten wir voran, ist ein weithin bekanntes Prinzip der Zapatisten, die nach jedem vollzogenen Schritt neu beraten, was im nächsten verändert werden muß. Nicht minder wichtig ist die Organisation der Kommunalität, die von einer Beteiligung aller Bevölkerungsschichten geprägt ist.

Es gibt keine übergeordnete Administration, die die Verwaltungsgeschäfte übernimmt. Die Menschen müssen selber an der Regierung mitarbeiten und haben dort Verwaltungsaufgaben, Rechtsprechung, Gesundheitsversorgung, Siedlungsfragen und vieles mehr zu bewältigen. Sie erhalten für diese Tätigkeit kein Geld, womit möglicher Korruption der Boden entzogen werden soll. Für die Zeit der Regierungsarbeit unterstützt sie das jeweilige Dorf beim Bestellen der Felder, Versorgen der Tiere und Einbringen der Ernte. Die gute Seite dieses Verfahrens bestehe darin, daß alle Leute Regierungsaufgaben erlernen, so der Referent. Es bringe aber auch Probleme mit sich, die insbesondere von Frauenorganisationen thematisiert werden. Trägt beispielsweise eine Frau die Klage vor, daß sie von ihrem Mann geschlagen wird, und die Regierung sieht sich außerstande, sofort etwas zu unternehmen, so muß die Klägerin zu einem späteren Zeitpunkt ihr Anliegen erneut vortragen. Dann trifft sie jedoch aufgrund des Rotationssystems möglicherweise auf andere Leute, denen sie alles noch einmal vortragen muß, obgleich sie sich in einer kompromittierenden Situation befindet. Prinzipiell sei die Bevölkerung selbst die Regierung, und sollte jemand im Amt einen Fehler machen, wird er nicht etwa entlassen, sondern muß zur Strafe noch einmal regieren.

Bildmaterial Tom Waibel - Foto 2012 by Schattenblick

Mut zum Widerstand aus unterlegener Situation
Foto 2012 by Schattenblick

Die Polizei belagere allerdings oft die Dörfer, um den Handel zu erschweren, den Zugang zu den Siedlungen zu kontrollieren und die Bewohner zu drangsalieren, die jedoch immer wieder für freien Durchgang sorgten. Das Rückzugsgebiet der meisten bewaffneten Kämpfer befindet sich im lakandonischen Regenwald, der indessen nicht das einzige Gebiet des zapatistischen Aufstands ist. Während in der relativ unzugänglichen Region an der Grenze zu Guatemala hundert Jahre lang keine Straßen gebaut worden seien, ließ die mexikanische Regierung in den letzten 20 Jahren sehr viele neu errichten, um dem Militär leichteren Zugang zu den umkämpften Krisengebieten zu verschaffen.

Bei den Zapatisten handelt es sich nicht um eine Gruppe mit einer gemeinsamen Sprache, vielmehr sind unter ihnen vier verschiedene indigene Sprachen vertreten. Die EZLN hat Spanisch zur gemeinsamen Sprache gemacht, die neben dem Fortbestand der jeweils eigenen Sprache auch im Schulunterricht von allen erlernt wird. Angesichts der beträchtlichen kulturellen und sozialen Unterschiede sei es nicht einfach gewesen, die verschiedenen Gruppen zusammenzubringen. Insbesondere die sozialen Unterschiede waren enorm, zumal zwei der vier großen Ethnien, die im lakandonischen Regenwald leben, sich erst in den 1950er und 1960er Jahren als Kolonisten dort angesiedelt hatten. Sie mußten das Leben im Regenwald, das ihnen fremd und unvertraut war, erst lernen und sich nicht zuletzt Land aneignen, indem sie es anderen wegnahmen. Daraus resultierte zwangsläufig eine sehr komplizierte Situation, deren ungeachtet es gelungen ist, eine gemeinsame Grundlage gegen staatliche Repression zu bilden. Es sei zwangsläufig ein langwieriger politischer Prozeß gewesen, die Voraussetzungen für einen Aufstand zu schaffen.

Anfang der 1980er Jahre reiste eine kleine Gruppe maoistischer Aktivisten aus Mexiko-Stadt nach Süden, um im Regenwald militärischen Widerstand zu organisieren. Dabei mußte sie feststellen, daß die Leute dort schon organisiert waren. Die Bauern hatten sich längst bewaffnet und Selbstverteidigungskomitees gebildet, um den Kampf gegen die Großgrundbesitzer in die eigenen Hände zu nehmen. So lernten die Maoisten aus der Stadt in einem mühsamen Prozeß, die kommunale Selbstbestimmung, die die Bevölkerung durchgesetzt hatte, anzuerkennen und zu übernehmen. Nicht der kämpfende Flügel ist der Kopf der Bewegung, er ist lediglich der bewaffnete Arm, der von der sozialen Basis abhängt, die ihn mit Nahrungsmitteln versorgt, ihm Pfade durch den unwegsamen Dschungel zeigt und alle erdenkliche Unterstützung gewährt, ohne die es im Regenwald kein Überleben gäbe. Dieser Prozeß erklärt, warum in der zapatistischen Bewegung sehr viele unterschiedliche Elemente zusammenkommen. Maoistische Befreiungsideen trafen auf traditionelle Formen von Selbstorganisation indigener Gemeinschaften und mischten sich mit diesen.

Als die Zapatisten zu ihrer ersten "intergalaktischen" Konferenz im Regenwald mit zahlreichen internationalen Besuchern aufriefen, beschränkten sie sich damit explizit nicht auf den Nationalstaat Mexiko. Ihrer Überzeugung nach sei die politische Auseinandersetzung nicht eine Frage militärischer Stärke, sondern der Durchsetzungsfähigkeit des eigenen Willens, erläuterte Tom Waibel. Viele Milizionäre besäßen gar keine Gewehre, sondern nur Holzstöcke, da die Bewegung in einer sehr armen Region entstand, in der vor allem Subsistenzbauern leben. Diese weigerten sich beharrlich, Geld mit Drogenhandel zu verdienen, um sich dafür Waffen zu kaufen. Bei ihnen konnte jeder Milizionär werden, doch mußte er seine eigene Waffe mitbringen. Auf diese Weise könnten sich die Zapatisten nie auflösen, weil jeder seine eigene Waffe besitzt und notfalls allein oder in kleineren Verbänden weiterkämpfen könnte. Da es mehr junge Leute gebe, die in die Berge gehen wollen, als Geld, um Waffen zu kaufen, begnügten sich viele mit Stöcken und erklärten, sie würden schon noch zu einer richtigen Waffe kommen.

Am 1. Januar 1994 kam es nach zehn Jahren klandestiner Vorbereitung zum Aufstand, der logistisch sehr gut organisiert war. In einer Nacht wurden vier Bezirkshauptstädte von Chiapas besetzt. Die Zapatisten wollten damals die Macht im Staat erobern, indem sie eine Stadt nach der andern einnehmen, bis sie in der Hauptstadt ankommen. Das ist bekanntlich nicht gelungen. Es gab zwar auch in anderen Bundesstaaten Mexikos Anschläge auf Ölpipelines und Angriffe auf Polizeistationen, doch der erhoffte landesweite Aufstand blieb aus. Indessen erfuhren die Zapatisten in diesen vierzehn Tagen eine unglaubliche Solidarität nicht nur in Mexiko, sondern auch international, die sie selbst überraschte. Angesichts des gescheiterten Vormarsches und der internationalen Unterstützung entwarf die Bewegung einen neuen Plan. Sie forderte Anerkennung für die indigene Bevölkerung, nachdem sie 500 Jahre im Dunkeln gestanden habe. Plötzlich existierte eine internationale Solidarität, die ihre Stimme hörte und ihren Freiheitskampf anerkannte. Dies zwang die mexikanische Regierung zu Verhandlungen mit den Zapatisten.

Der erste wichtige Schritt bei diesen Verhandlungen bestand darin, ihr Verständnis von Zeit durchzusetzen. Die Zapatisten machten keine Angaben, wie lange dieser Prozeß dauern würde, weil die Bevölkerung zu allen einzelnen Punkten befragt werden müsse. Basisdemokratie sei unvereinbar mit der alleinigen Entscheidung militärischer Führer. Diese Vorgehensweise wurde von der mexikanischen Regierung höhnisch belächelt, die die militärische Stärke der zapatistischen Führung deswegen in Zweifel zog. Eine andere Zeit gebe es nicht, so die Regierung, da schließlich alle japanische Uhren hätten. Darauf erwiderten die Comandantes, sie bräuchten Zeit und nicht Uhren, das sei etwas völlig anderes.

Bildmaterial Tom Waibel - Foto 2012 by Schattenblick

"Die Zapatisten sind nicht allein!"
Foto 2012 by Schattenblick

Sehr prägend für diese Phase der Auseinandersetzung sei Subcomandante Marcos gewesen, der als eloquenter Sprecher für die internationale Solidarität bedeutsam war, da er über fundierte historische und literarische Kenntnisse verfügte wie auch eine humorvolle neue Sprache kreierte. Womöglich noch wichtiger sei damals jedoch der katholische Bischof Samuel Ruiz gewesen, einer der letzten noch lebenden Befreiungstheologen. Die meisten Bischöfe, die 1968 die Befreiungstheologie im kolumbianischen Medellín in einem Gründungsakt proklamiert hatten, waren in bewaffneten Aufständen oder bei Mordanschlägen ums Leben gekommen. Ruiz war schon 30 Jahre lang in der Pastoralarbeit in Chiapas tätig gewesen und kannte die dort lebenden Menschen sehr gut. Etwa ein Drittel aller zapatistischen Comandantes sei früher Prediger der Befreiungstheologie gewesen, so der Referent. Sie kannten das Leben der Bevölkerung, sprachen ihre Sprache und waren zu dem Schluß gekommen, daß religiöse Arbeit nicht genüge, sondern politisch ergänzt werden müsse. Bischof Ruiz bot sich als Vermittler zwischen der aufständischen Bewegung und der mexikanischen Regierung an, was der Vatikan höchst ungern sah: Der Papst drohte mit Entzug des Bischofsamts. Wie aus später veröffentlichten Dokumenten hervorgeht, antwortete Ruiz, dann werde er eben seine eigene Kirche gründen. Dies bewog den Vatikan dazu einzulenken. Die Präsenz des Bischofs in den Verhandlungen sei damals nicht minder wichtig gewesen wie der Schutz, den die Bevölkerung den militärischen Führern gewährte, hob Tom Waibel hervor.

Mexiko ist multiethnisch, wie der Referent anhand einer weiteren Projektion erläuterte. Schon die Karte der wichtigsten Sprachen des Landes zeigt ein außerordentlich vielfältiges Bild. Insgesamt werden gut hundert verschiedene Sprachen im Land gesprochen, wobei die graphische Darstellung in Chiapas wie ein bunter Flickenteppich anmutet. Diese ethnische Vielfalt gelte auch für die Comandantes, deren Zahl von acht in den 1990er Jahren auf heute 21 angestiegen ist. Mit ihren Masken drückten die Zapatisten aus, daß sie stets verborgen im Dunkel der Geschichte existiert hätten. Es komme nicht darauf an, wie jemand aussehe, sondern allein auf das gemeinsame Anliegen, da jeder von ihnen für viele andere steht. Grundsätzlich könne es nicht darum gehen, eine übergeordnete indigene Identität zu postulieren. Jeder sei anders und müsse daher in seiner Verschiedenheit gewürdigt werden.

Der Referent ging in diesem Zusammenhang auf die lange und gut dokumentierte Geschichte der Unterdrückung seit 1492 ein, als Kolumbus in Amerika landete und die Drangsalierung der indígenen Bevölkerung durch die Kolonisatoren ihren Lauf nahm. Wie Karl Marx in Bezug auf die ursprüngliche Akkumulation herausgearbeitet hat, war diese Unterdrückung essentiell für die Herausbildung des Kapitalismus. Hinzu kam eine Form der Sklaverei in Gestalt der Unterjochung der Frau, von der bei Marx keine Rede war. Auf diese zweifache Geschichte beruft sich die zapatistische Bewegung, die ihre Forderungen gegen eine sehr viel ältere Unterdrückung als die durch die mexikanische Regierung richtet. Sie wendet sich gegen Kapitalismus und Kolonialherrschaft - gegen Ausbeutung in jeglicher Form.

Die Reaktion der mexikanischen Regierung auf die Selbstorganisation und den erfolgreichen sozialen Widerstand bestand in der Ausbildung, Aufrüstung und logistischen Unterstützung von Paramilitärs, die das schmutzige Geschäft des Terrors übernahmen. Den Eindruck zu erwecken, bei den Auseinandersetzungen in Chiapas handle es sich um Scharmützel zwischen verfeindeten Bauern, dient dieser Strategie als propagandistischer Flankenschutz. Seit mehreren Jahren tobt in Mexiko der sogenannte Drogenkrieg, bei dem es sich in Wirklichkeit um einen entufernden Bürgerkrieg handelt. Die Regierung kämpft nicht nur gegen Drogenkartelle, sondern diverse andere kriegführende Akteure wie ehemalige Militärs und Paramilitärs. Diesem grausamen Krieg sind in den letzten fünf Jahren nach offizieller Schätzung weit über 30.000 Menschen zum Opfer gefallen. Unter diesen Umständen sei es für die zapatistische Bewegung viel schwieriger geworden, ihre Ziele zu verfolgen, da sich das Hauptinteresse der Bevölkerung zwangsläufig darauf fokussiert, das Blutvergießen zu beenden. Demgegenüber sei die Artikulation gesellschaftlicher Alternativen in den Hintergrund getreten, beendete Tom Waibel seinen aufschlußreichen Vortrag, für den er vom Plenum begeisterten Beifall erhielt.

(Fortsetzung folgt)

29. Februar 2012