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BERICHT/135: Kapitalismus final - Krieg (SB)


Andreas Wehr zur Aktualität der Imperialismusfrage

Vortrag auf dem Symposium am 17. November 2012 in Hamburg



Nach dem reklamierten Sieg im Streit der Gesellschaftssysteme entfesselten die imperialistischen Mächte ihren Expansionismus mit dem Konstrukt des sogenannten Antiterrorkriegs. Als ideologische und militärische Doktrin zur Durchsetzung der neuen Weltordnung strebt dieser strategische Entwurf nichts weniger als die uneingeschränkte und unumkehrbare Dominanz der Vereinigten Staaten und ihrer Verbündeten im Weltmaßstab an. In einer Abfolge permanenter Feldzüge treiben die NATO-Staaten einen Keil zwischen Rußland und China, die zwangsläufigen Gegner in den künftigen großen Schlachten. Ihre Einkesselung und Spaltung bleibt das letztendliche Ziel der westlicherseits vorgetragenen Offensive, die die Kriege von heute zur Vorbereitung der Kriege von morgen führt.

Es geht allgemein gesprochen um die Bestandssicherung und Fortschreibung der kapitalistischen Verwertung, die ihrer Krise durch die unablässige Ausweitung ihres Herrschaftsgebiets den Rang abzulaufen hofft. Es geht konkret um die Kontrolle der schwindenden Ressourcen nicht nur des Lebensstandards in den westlichen Metropolen, sondern des Überlebens der Eliten zu Lasten einer verelendenden, verhungernden und verdurstenden Mehrheit der Menschheit. Den Islam als Feindbild zu etablieren ist ebenso geostrategischen wie legitimatorischen Zwecken geschuldet. Um Angriffskriege zu führen, Staaten zu zerschlagen und zu besetzen, einen Regimewechsel herbeizuführen und sich der Ressourcen und Ökonomien zu bemächtigen bedarf es einer Legalisierung des permanenten Raubzugs als weltpolizeiliche Intervention. Deren vielfältige Vorwände lassen sich im Postulat einer überlegenen Kultur und universalen Wertordnung zusammenfassen, die im Namen von Demokratie, Freiheit und Menschenrechten gewaltsam gegen Rückständigkeit und Fortschrittsfeindlichkeit durchgesetzt werden müssen.

Zugleich erlaubt es der zum sicherheitspolitischen Leitmotiv erhobene Antiislamismus, die repressive Zurichtung im Innern der imperialistischen Staaten voranzutreiben. Um die Verwerfung des sozialen Zusammenhalts, das um sich greifende Elend und die wachsende Perspektivlosigkeit der Menschen in der utilitaristischen und sozialrassistischen Arbeitsgesellschaft zu zügeln und der Revolte vorzubeugen, perfektioniert man die Verfügungsinstrumente zum Zwangskorsett unausweichlicher Staatsräson.

Referent mit Mikrofon - Foto: © 2012 by Schattenblick

Andreas Wehr
Foto: © 2012 by Schattenblick

Auf dem Symposium der Veranstaltungsreihe "Kapitalismus in der Krise" [1] am 17. November im Georg-Asmussen-Haus in Hamburg-St. Georg mit Beate Landefeld, Lucas Zeise, Andreas Wehr, Dr. Werner Seppmann und Dr. Arnold Schölzel sprach Wehr zum Thema "Die Aktualität der Imperialismusfrage". Der Jurist Andreas Wehr ist seit 1999 wissenschaftlicher Mitarbeiter in der Konföderalen Fraktion der Vereinten Europäischen Linken/Nordische Grüne Linke (GUE/NGL) des Europäischen Parlaments in Brüssel. Einer seiner Arbeitsschwerpunkte ist die EU, der er sein kürzlich erschienenes Buch "Die Europäische Union" [2] gewidmet hat. Zudem hat er sich in seinem Buch "Griechenland, die Krise und der Euro" intensiv mit der aktuellen Krise in Europa auseinandergesetzt.

In seinem Vortrag war Andreas Wehr insbesondere um die Klärung und Präzisierung des Imperialismusbegriffs bemüht. Was Imperialismus genau mit der Ökonomie zu tun hat, sei weithin umstritten oder sogar in Vergessenheit geraten. Man treffe beispielsweise auf eine recht allgemein gehaltene politologische Reduzierung des Begriffs auf die "offene oder latente Gewaltpolitik zur externen Absicherung eines Regimes", wie sie jüngst Frank Deppe vorgetragen hat. Hingegen gehe der marxistische Imperialismusbegriff von der Ökonomie aus, nämlich den Gesetzen von der Zentralisation und Konzentration des Kapitals. In seiner klassischen Imperialismustheorie, bei der sich Lenin in seinem großen Werk "Der Imperialismus als höchstes Stadium des Kapitalismus" auf Rudolf Hilferding bezieht, übernimmt er dessen Schlußfolgerung, wonach das 20. Jahrhundert der Wendepunkt vom alten zum neuen Kapitalismus, von der Herrschaft des Kapitals schlechthin durch das Finanzkapital sei. Die neue Zeit sei gekennzeichnet durch den Kapitalexport: "Für den alten Kapitalismus mit der vollen Herrschaft der freien Konkurrenz war der Export von Waren kennzeichnend. Für den neuesten Kapitalismus mit der Herrschaft der Monopole ist der Export von Kapital kennzeichnend geworden. Für den Imperialismus ist gerade nicht das Industrie-, sondern das Finanzkapital charakteristisch." Diese Schlußfolgerung habe ihre Aktualität bis heute nicht verloren, so der Referent.

Den entscheidenden Einschnitt in der Anpassung der kapitalistischen Eigentumstruktur an die veränderten Bedingungen der Konkurrenz stelle die Herausbildung von Monopolen dar, die als erstes Element des Imperialismus zu nennen sei. Horst Heininger, einer der großen Theoretiker das staatsmonopolistischen Kapitalismus in der DDR, sagte dazu 2002: "Diese Monopole verfügen aufgrund ihrer Kapitalmacht über die Möglichkeit, sich mittels ökonomischer und außerökonomischer Gewalt einen höheren Profit anzueignen, indem sie die anderen Eigentümer in ihren Profit- und Eigentumsansprüchen dauerhaft reduzieren. Sie bilden den Kern der ökonomischen Struktur der kapitalistischen Industrieländer. Diese Strukturdifferenzierung des Gesamtkapitals hat sich in der historischen Entwicklung weiter ausgeprägt, so daß man von einer monopolistischen Entwicklungsstufe des kapitalistischen Eigentums der gesamten kapitalistischen Produktionsverhältnisse, von Monopolkapitalismus sprechen kann."

Auf die Fähigkeit der Monopole, aufgrund ihrer Machtstellung die Eigentumsansprüche anderer Kapitalisten als auch die der Lohnabhängigen dauerhaft zu reduzieren, weist auch Gretchen Binus hin. "Das spezifische der Machtausdehnung der Monopole besteht im Enteignungsprozeß größten Ausmaßes. Kennzeichen dafür sind die verstärkte Ausgrenzung der kleinen und mittleren Kapitale von der Nutzung des ökonomischen Potentials, das hohe Niveau von Insolvenzen und vor allem die rigorose Enteignung der Beschäftigten von ihrem Einkommen durch Verlust der Arbeitsplätze." Eine ganz ähnliche Definition der Enteignungsmacht der Monopole findet man bei David Harvey, was einmal mehr darauf verweise, daß viele Diskussionen, die heute geführt werden, bereits in der Vergangenheit präsent waren, merkte Andreas Wehr an.

Als zweites Element des Imperialismus wies der Referent die weitgehende Indienstnahme des Staates durch die Monopole zur Herausbildung eines Systems des staatsmonopolistischen Kapitalismus aus. Der zwischenimperialistische Konkurrenzkampf der monopolkapitalistischen Staaten war die Ursache der großen Kriege, so daß die Leninsche Darstellung des Imperialismus für ganze Generationen von Marxisten zum Schlüsselwerk für das Verständnis des Zeitalters der Extreme wurde. Der Traditionslinie dieser Theorie folgend wurde in der Sowjetunion und der DDR, aber auch in Frankreich von Paul Boccara und in der Bundesrepublik vor allem von Jörg Huffschmid die Bedeutung der Monopole und des Staates im Imperialismus herausgearbeitet. Die Theorie des staatsmonopolistischen Kapitalismus wurde in den siebziger und achtziger Jahren nicht nur in der kommunistischen Bewegung, sondern auch unter linken Sozialdemokraten und den Jungsozialisten der Schlüsselbegriff zum Verständnis des gegenwärtigen Kapitalismus.

Die jüngste Finanz- und Wirtschaftskrise habe mit den Bankenrettungspaketen anschaulich gezeigt, wie entscheidend die staatliche Intervention zur Aufrechterhaltung der kapitalistischen Produktionsweise weiterhin ist. Lucas Zeise: "Die Theorie vom staatsmonopolistischen Kapitalismus, kurz Stamokap, wonach der Staat die Mängel des Kapitalismus auch mit ökonomischen Mittel auszubügeln hat, erweist sich in der Krise als präzise Beschreibung."

Referent am Rednerpult - Foto: © 2012 by Schattenblick

Schlüsselbegriff Stamokap
Foto: © 2012 by Schattenblick

Als drittes Element des Imperialismus nannte Wehr den Epochenbegriff, der innerhalb der Linken umstritten sei. Lenin bezeichnete den Imperialismus nicht nur als einen ökonomischen, sondern auch als einen geschichtstheoretischen Begriff und sprach von der imperialistischen Vergesellschaftung. Der Übergang vom klassischen Konkurrenzkapitalismus zum Monopolkapitalismus und seine Verquickung mit staatlicher Macht sei Ausdruck der erreichten hohen Vergesellschaftungsform der Produktivkräfte. Dieser Übergang erscheint zum einen in Gestalt des Imperialismus, zum anderen im revolutionären Prozeß des Sozialismus und schließlich in der antagonistischen Einheit beider. Der notwendig gewordene qualitative Übergang zu sozialistischen Produktionsweisen wurde politisch real mit der Oktoberrevolution eingeleitet. Daher sprach man davon, daß sich der Kapitalismus in einer allgemeinen Krise befindet. Nach dem Scheitern des europäischen Sozialismus müsse man sich jedoch mit der Frage befassen, ob weiterhin von einer allgemeinen Krise des Kapitalismus gesprochen werden kann. Von einer Gesetzmäßigkeit, aus der sich der Übergang von Imperialismus in Sozialismus ergibt, könne jedenfalls keine Rede sein. Die Geschichte habe vielmehr gezeigt, daß der Imperialismus noch über erhebliche Potentiale verfügt, die es ihm ermöglichen, Ausbrüche aus dem imperialistischen Weltsystem wieder rückgängig zu machen.

Von einer allgemeinen Krise des Kapitalismus könne aber weiterhin in dem Sinne gesprochen werden, daß für den Imperialismus Kapitalexport und globaler Expansionsdrang wie auch zunehmende Repression nach innen eine untrennbare Einheit darstellt. Über einen auch die kulturellen Äußerungen einschließenden Imperialismusbegriff verfügte etwa Peter Hacks. Heute untersucht Thomas Metscher die gegenwärtige Kunstproduktion in Zusammenhang mit der imperialistischen Epoche: "Die bürgerliche Gesellschaft zerbricht und fällt zurück, wenn sie ihre zivilisatorische Entwicklung nicht weitertreibt. Die Zeit der dialektischen Dynamik von Imperialismus und Sozialismus ist die Zeit einer weltgeschichtlichen Krise, in der über den Fortgang der Geschichte entschieden wird." Es sei also durchaus angebracht, an einem die gesamte Gesellschaft umfassenden Epochebegriff Imperialismus festzuhalten.

Als viertes Element des Imperialismus führte der Referent dessen Kriegführung an. Die Undurchführbarkeit von Weltkriegen zur Austragung zwischenimperialistischer Konkurrenz stelle die wichtigste Veränderung gegenüber der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts dar. Begünstigt von den Anstößen, die von der Oktoberrevolution ausgingen, habe sich die Welt grundlegend verändert, so daß selbst für eine noch so hoch gerüstete Militärmacht wie die USA eine militärische Austragung zwischenimperialistischer Konflikte nicht länger möglich ist. Und doch ist weder der zwischenimperialistische Konkurrenzkampf noch die Ausbeutung der Entwicklungsländer beendet. Um letztere streiten sich das internationale Finanzkapital, die Monopole und die imperialistischen Staaten, wobei insbesondere die USA unablässig Kriege führen, um abhängige Regime zu installieren. Ins Visier genommen werden dabei Staaten, die sich als entwickelnde Länder dem globalen imperialistischen Regime zu entziehen suchen. Nationalbürgerliche Projekte werden unterhöhlt, weil sie einen hohen Grad an Protektionismus, Zöllen, privaten Ersparnissen und staatlich geleiteter Industrialisierung aufweisen. Die Strategien zur Unterhöhlung reichen von der Unterstützung kollaborierender Fraktionen der nationalen Bourgeoisie über die Mobilisierung von Menschenrechtsbewegungen und die Förderung von Separatisten bis hin zu außengelenkten Putschversuchen und einer militärischen Intervention.

Auf diese Weise wurden Länder wie Algerien, Ägypten, Indonesien, Sudan, Jugoslawien, der Irak und das vorislamistische Afghanistan mit friedlichen wie blutigen Mitteln von ihren eigenständigen Entwicklungswegen abgebracht und in die imperialistische Weltordnung zurückgegliedert. Gegenwärtig ins Visier genommen werden die verbleibenden sozialistischen Länder China, Kuba, Vietnam und die Volksrepublik Korea, erhöht wird der Druck gegenüber Staaten wie Iran, Myanmar und Syrien, in Lateinamerika werden Venezuela, Bolivien, Ecuador und Nicaragua bedroht.

Referent sitzend mit Mikro - Foto: © 2012 by Schattenblick

Kein schrittweiser Übergang zum Sozialismus ...
Foto: © 2012 by Schattenblick


Den Imperialismus in seinen Zentren besiegen

Auf Fragen des Vorbereitungskreises und anderer Diskussionsteilnehmer eingehend wies Andreas Wehr das Konzept eines kollektiven Imperialismus, der USA, Japan und Westeuropa weitgehend identische Interessen unterstellt, als Bedürfnis aus, sich von der Leninschen Imperialismustheorie zu verabschieden und die Gefährdung der Welt durch den Imperialismus und nicht zuletzt den zwischenimperialistischen Kampf zu negieren. Damit korrespondiere die Vorstellung eines schrittweisen Übergangs zum Sozialismus, der mit "transitorisch" umschrieben wird. Dieser tauche beispielsweise in der Partei Die Linke überall da auf, wo man ein Hinüberwachsen in eine neue Situation postuliert, während doch niemand genau sagen kann, wo das Alte angeblich endet und das Neue beginnt. Dasselbe Phänomen finde man in diversen anderen Parteien und Bewegungen.

Die Geschichte der EU sei hingegen geprägt von Konflikten zwischen Deutschland und Frankreich. Wenngleich es auch Formen und Phasen stärkerer Kooperation gebe, würden diese doch immer wieder von erbitterter Konkurrenz abgelöst. Nach der Eingliederung der DDR und der Rückgewinnung des Handlungsspielraums des deutschen Kapitals in Osteuropa sei die Frage der Hegemonie vorerst entschieden.

Was die Frage nach Bündnispartnern betreffe, dürfe die deutsche Linke seines Erachtens die Kämpfe um den Erhalt der Souveränität in Ländern wie Griechenland, Portugal und Spanien nicht als vermeintlichen Rückfall in nationalistische Bestrebungen verwerfen. Zahlreiche Menschen gingen dort gegen die Eingriffe insbesondere des deutschen Kapitals auf die Straße. Die Forderung, man brauche mehr Europa, gehe in die falsche Richtung und diffamiere die Verteidigungskämpfe, die nicht zuletzt von der Arbeiterbewegung gegen die eigene Bourgeoisie geführt werden.

Die Verteidigung der Demokratie stehe auch in den kerneuropäischen Staaten auf der Tagesordnung. Deshalb sei das Urteil des Bundesverfassungsgerichts zu dem Geheimausschuß, der den europäischen Stabilitätsmechanismus kontrollieren soll, sehr wichtig gewesen. Mit dem Imperialismus gehe eine Entdemokratisierung wie auch eine Entmachtung der Arbeiterklasse einher, wofür die USA oder auch der deutsche Faschismus klassische Beispiele seien. Man müsse daher für Bündnispartner offen sein, selbst wenn es sich um Gauweiler oder andere Konservative handle, die partiell Forderungen stellen, die man teilen kann. So übe der Verband der mittelständischen und Familienbetriebe die schärfste Kritik an der Europolitik im bürgerlichen Lager. Es sei immer Bestandteil der Stamokap-Theorie gewesen, ein antimonopolistisches Bündnis auf die Beine zu stellen, wohingegen die Gewerkschaften und große Teile der Partei Die Linke mehr Europa und eine Verstärkung der wirtschaftspolitischen Aufsicht forderten.

Referenten auf dem Podium - Foto: © 2012 by Schattenblick

Beate Landefeld, Lucas Zeise, Olav Reuter, Andreas Wehr
Foto: © 2012 by Schattenblick

Einen offenen Blick für Widerstandsbewegungen, die einen nationalen und demokratischen Entwicklungsweg einschlagen, habe es bis in die 80er Jahre unter dem Schutz der Systemkonkurrenz immer gegeben. Das Dilemma des islamistischen Fundamentalismus bestehe darin, daß die nationaldemokratischen Bewegungen im Nahen und Mittleren Osten nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion liquidiert wurden, teilweise von den eigenen Eliten, aber ebenso unter Einflußnahme der USA und der EU von außen wie in Libyen, Syrien und als nächstes im Iran. Die Baath-Partei war keine linke Bewegung, aber ein Versuch, Entwicklungswege zu gehen, die aus dem Imperialismus herausführten. Das gelte auch für die Bewertung Chinas, das manche pauschal als Kapitalismus verwerfen, ohne zu erkennen, welche demokratisierende Wirkung China, aber auch Rußland derzeit weltweit zukomme. Man müsse auch mit Ländern wie dem Iran, die einem Marxisten überhaupt nicht gefallen, Solidarität üben. Wenngleich die dort praktizierten Mechanismen der Unterdrückung entschieden zu kritisieren seien, dürfen man nicht unter dem Siegel der Verteidigung von Menschenrechten Kriege unterstützen und sich dabei von den Grünen oder den Sozialdemokraten vereinnahmen lassen, so der Referent.

Für den Imperialismus gebe es keinen Rückweg in den Konkurrenzkapitalismus, wie ihn viele neue Marx-Leser zu deuten versuchten. Die Vergesellschaftungsprozesse seien objektiv, und das gelte auch für die EU, in der kein Fortschritt zu einer "echten" Europäischen Union stattfinden könne. Die Legitimationsideologie, die Staaten Europas hätten die Grundlagen des Friedens geschaffen, sei einer der Gründungsmythen der EU. Für die Bevölkerung Griechenlands oder Portugals werde angesichts der Zwangsmaßnahmen der Troika die Geschichte des nationalsozialistischen Regimes wieder lebendig. Obzwar man das nicht gleichsetzen dürfe, erlebe man doch, daß die imperialistischen Konflikte die alten Ressentiments wieder wachrufen, zumal die Bild-Zeitung gezielt das Feindbild des zurückgebliebenen Südländers nährt. Die europäischen Länder entfernten sich voneinander, da die ökonomische Integration keinen Ausdruck in der politischen Vergesellschaftung finde. Es bildeten sich Hegemonialmächte mit Deutschland an der Spitze heraus, und innerhalb der EU verschärfe sich die rigide Strukturierung in der Krise.

In seinem Schlußplädoyer ging Andreas Wehr kritisch auf die diversen Foren und Bewegungen bis hin zu Attac und Occupy ein. Darin spiegle sich seines Erachtens der Neoliberalismus, indem man der Arbeiterbewegung erklärt, sie könne nur auf globalisierter Ebene aktiv werden. Die Linke habe weithin propagiert, daß man die anstehenden Probleme nur global lösen könne, und damit die Ansätze möglichen Widerstands negiert. Sogenannte neue Marxisten wie Hardt oder Negri gaben die Parole aus, daß es keinen Kampf auf nationaler Ebene mehr gebe. Die Linke in der Bundesrepublik und damit in einem der wichtigsten kapitalistischen Länder erklärt, daß hierzulande keine Veränderung möglich sei, wohl aber in Griechenland oder Portugal. Was sei das für ein Widersinn, wenn die Linke in einem Zentrum imperialistischer Macht nicht in der Lage sei zu formulieren, daß auf der deutschen Arbeiterklasse eine ungeheure Verantwortung lastet. Die EU könne allenfalls dann eine andere Richtung einschlagen, wenn es in einem zentralen Land zu einer grundlegenden Veränderung kommt. Die Vorstellung, dies mit Sozialforen oder Euromärschen zu bewerkstelligen, könne kein Ersatz für den in den Zentren zu führenden Kampf sein. Dort müsse der Imperialismus besiegt werden, sonst werde es keine andere Welt geben, schloß Andreas Wehr seine ebenso engagierte wie aufschlußreiche Stellungnahme.

Publikum von hinten - Foto: © 2012 by Schattenblick

Großer Bedarf an substantiellen Analysen
Foto: © 2012 by Schattenblick


Fußnote:
[1] http://www.kapitalismus-in-der-krise.de/index.php/symposium

[2] http://www.schattenblick.de/infopool/buch/sachbuch/busar599.html


17. Dezember 2012