Schattenblick →INFOPOOL →POLITIK → REPORT

BERICHT/138: Kapitalismus final - Das muß gesagt werden (SB)


In Bewegung zwischen objektiven Gelegenheiten und radikaler Subjektivität

Vortrag von Arnold Schölzel auf dem Symposium am 17. November 2012



Kritik am Kapitalismus ist längst keine Sache linker revolutionärer Kräfte mehr, sie ist inzwischen in den Feuilletons auch der konservativen Presse zuhause. Werden dort Debatten um "Den kommenden Aufstand" oder die Occupy-Bewegung entfacht, so wird der Schritt zur antikapitalistischen Theorie und Praxis, um von sozialistischen und kommunistischem Gedankengut gar nicht erst zu sprechen, doch tunlichst vermieden. Nicht einverstanden zu sein mit den herrschenden Bedingungen gehört fast schon zum guten Ton, die Systemfrage im revolutionären Impetus zu stellen bleibt ein Tabubruch. Das über die realsozialistische Staatenwelt verhängte Stigma historischen Scheiterns bleibt so wirkmächtig wie der Antikommunismus, mit dem der Kalte Krieg geführt und in den Augen des übriggebliebenen Kapitalismus auch gewonnen wurde.

Die naheliegende Schlußfolgerung aus diesem geradezu dissoziativen Umgang mit der Frage nach der Möglichkeit, eine menschenfreundliche Gesellschaft zu verwirklichen, läuft auf die apologetische Strategie hinaus, das Rütteln an den Grundfesten der herrschenden Ordnung gerade dadurch zu verhindern, daß man den Raum einer symbolischen Debatte eröffnet, um das Potential kapitalismuskritischer bis antikapitalistischer Bewegungen in die eigene Widerspruchsregulation einzubetten. Für die Aktivistinnen und Aktivisten dieser Bewegungen bleibt damit alles beim alten - gelangen sie zu politischem Einfluß, ohne von der Ausgangsposition der Systemüberwindung abzulassen, dann werden sie mit dem ganzen Arsenal des ideologischen Gesinnungsverdachts und staatlicher Repression konfrontiert.

Bei der abschließenden Stellungnahme - Foto: © 2012 by Schattenblick

Arnold Schölzel
Foto: © 2012 by Schattenblick

Auf dem Symposium der Hamburger Veranstaltungsreihe "Kapitalismus in der Krise" [1] stellte der Chefredakteur der Tageszeitung junge Welt, Arnold Schölzel, einige Überlegungen über die Ziele und Möglichkeiten, die Widersprüche und Schwierigkeiten antikapitalistischer Bewegungen an. Er betont, daß die Aufhebung des Kapitalismus kein aus sich selbst heraus verlaufender, quasi naturhafter Prozeß sein könne, sondern daß der subjektive Faktor schon bei Marx und Engels von Bedeutung für eine Veränderung nicht nur der gesellschaftlichen Verhältnisse, sondern auch des Bewußtseins war. Dabei könne es niemals nur um die Kritik des bürgerlichen Bewußtseins gehen. Die Frage, welche Bewegung sich vor dem Hintergrund der ökonomischer Selbstnegation herausbilde und wie das eigene Handeln reflektiert wird, sei von zentraler Bedeutung für die Überwindung des Kapitalismus. Die spezifischen Erfahrungen mit den antagonistischen Bedingungen, die nicht nur spontan gemacht würden, sondern auch durch Organisation und Schulung vermittelt werden sollten, ermöglichten es dem Proletariat, wie von Marx beschrieben, von der Klasse an sich - objektiven Verhältnissen der Enteignung und Entfremdung ausgeliefert - zur Klasse für sich - im subjektive Interesse für die eigene Emanzipation kämpfend - zu gelangen.

Der weltweit in der zweiten Hälfte der 90er Jahre formierte Widerstand gegen die imperialistische Inbesitznahme der Welt war denn auch mit Erkenntnissen verbunden, die die Analyse der Enteignungsprozesse der internationalen Finanzindustrie, ihrer antidemokratische Wirkung auf Staat und Gesellschaft wie des - in der Bundesrepublik mit Hilfe einer rot-grünen Regierung vollzogenen - Putsches gegen Verfassungsnormen und Gemeinwohlprinzipien breiteren Kreisen der Bevölkerung zugänglich machten. Die globalisierungskritischen Bewegungen hatten ein großes Mobilisierungspotential, wie es zu dieser Zeit keine Gewerkschaft und keine marxistische Partei entfalten konnte.

Der Erfolg etwa der Europäischen Sozialforumsbewegung in der ersten Hälfte der 2000er Jahre und der Occupy-Bewegung 2010 und 2011 bei der Mobilisierung antikapitalistischen Widerstands läßt die Frage aufkommen, wieso die traditionellen Arbeiterbewegungsorganisationen nicht über eine ähnlich wirksame Öffentlichkeitsarbeit und Mobilisierungsfähigkeit verfügten. Der Autor und Aktivist David Graeber zum Beispiel sei der Ansicht, daß es keinen besseren Weg gebe, die Menschen daran zu hindern, ihr subjektives politisches Interesse zu entwickeln und artikulieren, als sie dazu zu zwingen, den ganzen Tag entweder zu arbeiten, zur Arbeit zu pendeln oder sich in irgendeiner Form auf die Arbeit einzustellen. Arbeit sei der erste Schritt zur Verhinderung von Kapitalismuskritik und Revolution, meint Graeber, für den der Kommunismus schon vorhanden sei, er müsse nur noch erkannt werden.

Für Schölzel repräsentiert der US-amerikanische Aktivist eine ganze Gattung linker Gesellschaftstheorie, für die etwa auch Michael Hardt und Antonio Negri, die Verfasser des einflußreichen Werks "Empire", signifikant seien. "Hier und Jetzt-Revolutionen" als einfachere Form des Bewußtseins habe es seit Marx und Engels immer wieder gegeben, so der Journalist zu dieser Art von kritisch bemäntelter, mit postmoderner Selbstevidenz arbeitender Affirmation herrschender Verhältnisse. In ihr spiegelten sich historische Auseinandersetzungen, die schon im 19. Jahrhundert zu konterrevolutionären Zeiten unter Linken geführt wurden. Unter Verweis auf Antonio Gramsci, der die Kategorien des Bewegungs- und des Stellungskrieges für verschiedene Strategien im revolutionären Kampf geprägt habe, um die verschiedenen ideologischen Formen zu unterscheiden, in denen sich die Menschen über den Konflikt zwischen Produktivkräften und Produktionsverhältnissen klar werden, schreibt Schölzel den antikapitalistischen Bewegungen eine stärkere Verankerung in der historisch-organischen Entwicklung widerständiger Kräfte zu. Sie seien anders als die marxistischen und sozialistischen Parteien, die eher der willkürlich-rationalistischen Ideologiebildung zuneigten, besser in der Lage, bestimmte psychologische Wirkungen zu erfassen.

So erscheine die Reflexion des eigenen, auf Gesellschaftsveränderung gerichteten Ansatzes unter den Verhältnissen des heutigen Stellungskrieges zunächst spontan gegeben. Dabei basiere die Auseinandersetzung mit dem Kapitalismus im endgültig international global gewordene Produktions- und Verwertungsprozeß des Kapitals. Das neoliberale Dogma von der schrankenlosen Betätigung des Marktes verbleibe nicht mehr im Rahmen einer Kritik der politischen Ökonomie, sondern schlage als politische Programmatik kapitalismuskritischer Individuen oder Bewegungen in eine antineoliberale Gegenposition um, die seiner Ansicht nach entscheidend für die Formierung einer Massenbasis sei.

Gleichzeitig attestiert Schölzel den von professionellen Vordenkern wie etwa David Graeber getragenen kapitalismuskritischen Bewegungen, der Gefahr einer opportunistischen Verwässerung ihrer Widerständigkeit ausgesetzt zu sein. Darunter, daß mit der intellektuellen Hegemonie dieser Spezialisten eine Pluralität von Wahrheiten auf gesellschaftstheoretischem Gebiet akzeptiert und dies als Fortschritt gegenüber dem traditionalistischen Marxismus ausgegeben werde, leide die wissenschaftliche oder auch unwissenschaftliche Fundierung der Veränderung, um die es im Kern geht. Sozialismus zu propagieren genüge nicht, die Negation müsse konkret werden. Es ginge um konkrete Analyse, um konkrete Forderungen wie Mindestlohn, die Beseitigung von Hartz 4 und die Rücknahme von Rentenkürzungen. Nicht der Alleinvertretungsanspruch von Wahrheit führe zur sozialistischen Veränderung der Gesellschaft, sondern ein auf Sozialismus zielendes Programm. Das alles sei noch weit entfernt von der Formierung einer neuen Internationale, aber damit sei ein Teil der Schwierigkeiten und Widersprüche beschrieben, über deren Inangriffnahme eine solche Internationale wieder zu schaffen wäre.

Mit einem Zitat Dietmar Daths, das einem in der jungen Welt veröffentlichten Beitrag zur Oktoberrevolution [2] entnommen ist, schließt Arnold Schölzel den Vortrag ab:

"Eine revolutionäre Situation besteht hier derzeit nicht.

Gelegenheiten haben ist das eine. Gelegenheiten ergreifen ist das zweite.

Gelegenheiten erkennen und sich auf sie vorbereiten: Das ist das Wichtigste."

Auf dem Podium - Foto: © 2012 by Schattenblick

Werner Seppmann, Moderator Uli Ludwig, Arnold Schölzel Foto: © 2012 by Schattenblick

Mit Gelegenheiten scheint das europäische wie globale Krisenszenario geradezu verschwenderisch umzugehen. Diese jedoch in die konkrete Bewegung sozialen Widerstands zu übersetzen bedarf mehr als bloßer Empörung. Als fehle der auflodernden Wut eine gemeinsame Idee oder Vision bleiben viele der neuen sozialen Bewegungen auf ihre Aktivistinnen und Aktivisten beschränkt, vergehen wieder oder mutieren zu professionalisierten Institutionen des NGO-Sektors respektive des "Non-Profit-Industrial-Complex" [3]. Zum Flächenbrand könnte der zündende Funke werden, wenn es gelänge, die wechselnden Anlässe zur Mobilisierung auf das Fundament einer Negation herrschender Verhältnisse zu stellen, die sich nicht auf die zukünftige Erfüllung bloßer Hoffnungen verlegt, sondern zum praktischen Mittel der Auseinandersetzung mit den widrigen Bedingungen kapitalistischer Vergesellschaftung wird.

Zu diesen zählt die Ideologie einer Arbeitsgesellschaft, die den Zwang zur Lohnarbeit moralisch überhöht und vergessen macht, daß die Unterwerfung unter ihr Diktat die Trennung des Menschen von der Subsistenz voraussetzt. Zu dieser zählt aber auch eine Staatlichkeit, die Menschen als rechtsförmige Abstraktionen der bürgerlichen Eigentumsordnung behandelt und dementsprechend über sie verfügt. Was Menschen teilbar und spaltbar macht, sind nicht nur die Unterschiede in ihrer materiellen Bemittelung. Es ist die von ihnen anerkannte Ordnung des Vergleichs und der Unterscheidung, mit der jeglicher Anspruch auf autonomes und selbstbestimmtes Handeln von vornherein unmöglich gemacht wird. Der Blick auf Vorteile und Nachteile, auf Gewinn und Verlust, schließlich auf falsch und richtig, auf gut und böse reflektiert die Imperative der Herrschaft, solange die eigene Bewegung und Urteilsfähigkeit dadurch kompromittiert wird.

Graebers These, der Kommunismus sei schon verwirklicht, man müsse ihn nur erkennen, ist der sozialrevolutionäre Mut entgegenzuhalten, nicht nach positivistischer Erkenntnis des angeblich Vorhandenen zu suchen, sondern die dem Kommunismus immanenten Ideale zu verwirklichen, ohne dazu einer wie auch immer gearteten Autorität oder Instanz zu bedürfen. Wenn Gleichheit und Freiheit nicht im unmittelbaren sozialen Umfeld gelebt werden, wie sollten diese Ideale dann gesellschaftlich zu realisieren sein? Der Bruch mit dem Kapitalismus beginnt schon dort, wo die menschliche Beziehungen durchdringende Warenform durchschaut und der Tanz der Charaktermasken bis zu ihrem Fall getrieben wird. Er wird vollzogen in der Kritik an den durch Konsum- und Kulturindustrie aufgeherrschten Subjektivierungsprozessen wie im Kampf gegen die Unterwerfung unter abstrakte Arbeit, unter die Forderung, sich verwertbar und verfügbar zu machen. Er wird zur übergreifenden Strategie, wenn die Widersprüche und Verwerfungen zwischen metropolitanem Zentrum und kolonialisierter Peripherie, zwischen administrativen Konzentrationsprozessen und selbstorganisierter Kommunalität wie zwischen Kapital und Arbeit zugunsten der davon Betroffenen aufgelöst werden.

Fußnoten:
[1] http://www.kapitalismus-in-der-krise.de/index.php/symposium

[2] http://www.jungewelt.de/2012/11-08/020.php?sstr=Dietmar|Dath

[3] http://www.schattenblick.de/infopool/kunst/report/kurb0009.html

10. Januar 2013