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BERICHT/150: Quo vadis NATO ... Schluß damit! (SB)


Eugen Drewermann zu "Ethik, Menschenrechte und militärische Gewalt"

Vortrag auf dem Kongreß "Quo vadis NATO? - Herausforderungen für Demokratie und Recht" am 28. April 2013


Beim Vortrag im Auditorium - Foto: © 2013 by Schattenblick

Eugen Drewermann mit Otto Jäckel und Ulrich Bartosch auf dem Podium
Foto: © 2013 by Schattenblick

Es blieb einem - was den Frieden der Paläste betrifft - nur als Störenfried zu bezeichnenden Dissidenten überlassen, auf dem Kongreß "Quo vadis NATO?" den streitbaren Grundton eines Antimilitarismus anzuschlagen, der bei diesem dreitägigen Treffen hochkarätiger Juristen und Gesellschaftswissenschaftler in der abstrakten Sphäre sich am Wortlaut der Gesetze abarbeitender Rechtsauslegungen verloren zu gehen drohte. Daß der Theologe, Psychoanalytiker und Schriftsteller Prof. Dr. Eugen Drewermann erst zum Abschluß des Kongresses zu Wort kam, schien kaum der Absicht geschuldet zu sein, eine Predigt, als die man seinen Auftritt im besten zivilgesellschaftlichen und säkularen Sinne verstehen konnte, an einem Sonntag zu halten. Vielmehr stand die Dringlichkeit seiner mahnenden Worte in unüberhörbarem Kontrast zur legalistischen Abwägung des Für und Wider einer staatlichen Praxis, die schlichtweg inakzeptabel und daher zu verwerfen ist.

Die Immanenz und Evidenz dessen, was Drewermann zur Katastrophe des Kriegs und zu seiner Unvereinbarkeit mit allen Wertansprüchen, die Integrität und Selbstbestimmung des bürgerlichen Subjekts garantieren sollen, zu sagen hatte, ließ das Abwägen der Frage, inwiefern militärischer Gewalteinsatz an einem der globalen Brandherde erforderlich sei oder nicht, als Defensivmanöver mit absehbarem Ausgang erkennen. Wo über die Möglichkeit der Selbstverteidigung in äußerster Bedrängnis hinaus das Schwert der kriegerischen Intervention geschärft und mit der propagierten Reinheit der Waffen von den Raubinteressen staatlicher wie kapitalistischer Monopolmacht dissoziiert wird, da bleibt alle in Anspruch genommene Moral auf der Strecke ihrer Umwertung in Instrumente des eigennützigen Verbrauchs und der feindseligen Zerstörung. Überleben tritt in kriegerischer Umsetzung der sozialdarwinistischen Elimination des Untüchtigen und Unproduktiven an den Platz eines Lebens, dem der Begriff sui generis unumkehrbar abhanden zu kommen droht, weil nichts für sich Bestand haben soll, das nicht verwertbar und verfügbar gemacht werden kann.

Indem Eugen Drewermann den Finger in die Wunde eines Menschheitsproblems legte, das sich seiner politischen Bewältigung desto mehr zu entziehen droht, als die Vergesellschaftung des Menschen unter das Diktat bloßen Nutzens für das größere Ganze, sprich das Interesse derjenigen, die über die Deutungshoheit verfügen, gerät, verlangte er seinen Zuhörern die selbstkritische Überprüfung auch der eigenen Anteile ab, die der Homo oeconomicus, wie mittelbar und indirekt auch immer, am Geschäft gewaltsamer Aneignung hat. Der in seiner antimilitaristischen Positionierung prägnante Schlußakzent eines Kongresses, der sich mit den Praktiken und Interessen des stärksten und aggressivsten Militärbündnisses der Welt auseinandersetzte, wäre als Auftakt des Treffens nicht minder wertvoll gewesen. Vielleicht hätten sich dann zu den Expertengesprächen, in denen der Abtausch der jeweiligen Standpunkte vorwiegend fachbezogen und distanziert erfolgte, mehr kontroverse Diskussionen gesellt. Ohne produktiven inhaltlichen Streit und die Bereitschaft, sich in Analyse und Kritik mit den herrschenden Verhältnissen anzulegen, droht der antimilitaristische Aktivismus in dem Unvermögen, konstitutive Faktoren gesellschaftlicher Widerspruchsentwicklung und staatlicher Gewaltanwendung miteinander zu verknüpfen, zu verebben.

Eugen Drewermann stehend beim Vortrag - Foto: © 2013 by Schattenblick

Freie Rede, freies Wort
Foto: © 2013 by Schattenblick

Nicht wenige Menschen aus dem Publikum schienen eigens zum Auftritt Eugen Drewermanns in den Hörsaal auf dem Gelände der Bremer Universität gekommen zu sein. Zwei Zuhörerinnen bekräftigten dem SB-Redakteur gegenüber anschließend, wie berührt sie von den Worten des 73jährigen Kirchenkritikers waren. Dies galt sicherlich für einen Großteil der Anwesenden, brach das Auftreten Drewermanns doch mit den Gepflogenheiten des bloßen Abhandelns einer Sache zugunsten eines Sprechens, das den anderen direkt und persönlich erreicht, weil ihm die Unteilbarkeit allgemeinmenschlicher Fragen eigen ist. So ließ Drewermann keinen Zweifel daran, daß die Adressaten seiner Rede prinzipiell in der Lage sind, einer Regierung das Mandat dafür zu entziehen, in ihrem Namen Krieg zu führen:

"Denn solange wir den uns Regierenden noch erlauben, sich für ihr politisches Handeln die Option des Krieges offenzuhalten (...), solange wird es kulturell keinen Fortschritt in Richtung Menschlichkeit geben können, solange wird der Krieg gleich einem Kraken unsere Zivilisation umklammern und das beste und edelste an Menschlichkeit absaugen, um es in sein Gegenteil zu vergiften. Tucholsky hat recht, Soldaten sind Mörder, und Krieg vereinbart sich mit der Kultur so wenig wie Lüge mit der Wahrheit, wie Brutalität mit Sensibilität, wie Menschlichkeit mit Grausamkeit. Krieg ist die organisierte Totalisierung, das schlimmste, was man Menschen zufügen kann, die gezielte Tötung, die eiskalt berechnete Ermordung. Krieg ist ein Rückfall in längst vergangene Zeiten, aber auf dem technischen Niveau der Moderne."

Was Drewermann in freier Rede, fast unbewegt neben dem Rednerpult stehend, in einer Dreiviertelstunde zu diesem Thema zu sagen hatte, ließ weder aktuelle noch historische Ereignisse aus, um die Ermächtigung zum Kriege sehr konkret unter Nennung der politischen und militärischen Akteure anzugreifen. Zwischen gegenwärtigen Debatten um Bundeswehreinsätze außerhalb Europas und die Anschaffung von Drohnen wie kaum mehr erinnerter Katastrophen vom Zweiten Weltkrieg über Vietnam und Irak changierend kam der Theologe immer wieder auf die Art und Weise zu sprechen, wie das Unfaßbare des kriegerischen Zivilisationsbruches verdaulich gemacht wird. Es dürfe "nicht sein, daß man uns den Krieg weiter verkauft als eine Ware wie Sicherheit, die man herstellt wie in einer Schlachtfabrik an der Peripherie der Großstädte, in einer Warenform, die man gut verpackt über die Theke schiebt". Daher sei zu fordern, "daß die Gewerkschaft für Erziehung und Wissenschaft ihre Lehrer mobilisiert gegen Direktoren, die scheinbar immer weniger dabei finden, daß man bezahlte Anwerbe-Offiziere der Bundeswehr in die Schulen lockt, um unseren Kindern beizubringen, es sei Soldat zu werden gleich so viel wie Tischler, Malermeister oder Friseuse zu werden." Eben das sei "die Lüge des Herrn Baron von Guttenberg beim Übergang zu einer Berufsarmee. Als könnte man Soldat sein, ohne sich zu verraten als Söldner des Kapitals, zum Grausamsten sich zu befähigen. Es gibt keinen Beruf des Soldaten, es gibt eine Entwürdigung des Menschen."

Dies gilt es zu bedenken, wenn einmal mehr in Politik und Medien verlangt wird, den Bundeswehrsoldaten in Afghanistan besondere Anerkennung für ihren Dienst an einem Gemeinwesen zu zollen, in dem der menschliche Wunsch nach gemeinschaftlichem Handeln unter der inklusiven Kategorie der Nation zur Aggressivität eines Raubkollektivs veräußert wird. Daß die auf fernen Schlachtfeldern ausgetragene Hackordnung miteinander konkurrierender Staaten in der eigenen Gesellschaft desto wirksamer durchgesetzt wird, als man in der Lage ist, ein höchst bedrohliches Feindbild zu produzieren, ist einer jener Gründe für das Aufkommen rassistischer Feindseligkeit, über die staatlicherseits vornehm geschwiegen wird, wenn es gilt, das Wiederaufkommen eines vermeintlich hintergrundslosen, angeblich allein im Identitären des Nationalchauvinismus wurzelnden Faschismus zu bekämpfen. Schließlich ist zu fragen, wie sich die Moral der neoliberalen Arbeitsgesellschaft, laut der der Mensch sich seine gesellschaftliche Stellung durch vorbehaltlose Leistungsbereitschaft zu verdienen hat, mit dem Anspruch verträgt, die nicht zu knappe Entlohnung des Soldaten im Auslandseinsatz mit der besonderen Anerkennung seiner Leistung für Volk und Vaterland zu krönen. Hätte nicht jeder, der Kraft und Zeit seines Lebens im fremdbestimmten Getriebe mehrwertproduzierender Lohnarbeit verbraucht, Anspruch auf diese Anerkennung? Der moralische Überschuß, der dazu erforderlich wäre, liefe Gefahr, die Frage nach der Verteilungs- und schließlich nach der Eigentumsordnung aufzuwerfen, und eben daran besteht nicht das mindeste Interesse. Ganz im Gegenteil, das Gewaltmonopol des Staates soll verteidigen, was moralisch nie und nimmer zu rechtfertigen ist, und eben dazu braucht das Land neue Helden und Feindbilder.

Drewermanns Forderung nach mehr Transparenz in Entscheidungsprozessen, an deren Ende Soldaten ausrücken, beschreibt allerdings einen Mangel, der nicht per Appell zu beheben ist. Seine Erklärung, warum alles, was das Militär betrifft, nicht offenbar gemacht werden könne, illustriert, warum dabei mit allen Mitteln der Irreführung und Täuschung gearbeitet wird. Zwar reagierten die Menschen, wenn sie etwa hörten, "wie zum Beispiel der Einschlag einer Highspeed-Gun-Geschoßgarbe in den Körper eines Schweins in Vorbereitung auf Zielgenauigkeit im Umgang auch mit Menschen wirkt", mit Entsetzen und Ekel, aber der Einsatz von Drohnen entziehe sich jeder Rückmeldung. Sprengfallen der Taliban würden als hinterhältiger und gemeiner Anschlag gebrandmarkt, aber das Abschießen einer Hellfire-Rakete von Predator-Drohnen, das in 10.000 Kilometer Entfernung per Joystick veranlaßt wird, werde nicht mit annähernd gleichem Entsetzen in der Öffentlichkeit wahrgenommen.

Jegliche menschliche Empfindsamkeit auszulöschen sei Programm aller militärischen Ausbildung, die Menschen ihrer selbst entfremdet, um sie auf dem Schlachtfeld handlungsfähig zu machen. Befehl sei Befehl, was auch immer den Jugendlichen zuvor in Schule und Familie an Kulturwerten beigebracht worden sei. Es "wird nicht diskutiert. Es wird exekutiert, pariert, selbst wenn der Inhalt des Befehls - das Töten von Menschen wird man nicht sagen - aber das Annihilieren, Füsilieren, Neutralisieren, Eliminieren irgendwelcher Targets sein soll." Wurde der Befehlsnotstand noch bei den Nürnberger Kriegsverbrecherprozessen in Frage gestellt, so konnte sich der Bomberpilot, der Nagasaki in Schutt und Asche legte, problemlos darauf berufen, nur seine Pflicht erfüllt zu haben. Man bringe den Soldaten bei, "daß die Gefechtslage einen Komplexitätsgrad erreicht, der aus der Sicht des einzelnen vollkommen unüberschaubar ist, und schon deswegen in die Verantwortung und Zuständigkeit des Nächsthöheren gehört. Es wäre ein Verbrechen, einen Befehl nicht zu erfüllen. Verantwortung ist die Treue zum Befehl, geschworen unter Eid. Das ist, was man Soldaten eintrainiert, weswegen sie aufhören, im humanen Sinne selbstverantwortete Personen zu sein, mithin die Voraussetzung ethischen Handelns noch bei sich zu behalten. Diese vollkommene Verwandlung von Menschen in Tötungsautomaten ist das Wesen des Militärs." Zur moralischen Ausrüstung und Aufrüstung des Soldaten gehöre, "daß jenseits der Grenzlinien das absolut Böse liegt. Man kann nur skrupellos töten, wenn man sich reinwäscht in dem Gefühl, den Guten zu geben. Also muß man den potentiellen Gegner perhorreszieren. Er ist gewissermaßen der Teufel selber."

Drewermann betont die aufspaltende Wirkung der Verabsolutierung der eigenen Gewalt zum "Sieg des Guten", wie ihn Bush senior 1991 bei Beginn des Zweiten Golfkriegs prognostizierte, auf alle

"sittlichen Begriffe, die der Menschheit dienen, zur Propaganda der Vereinseitigung der Perspektive. 'Wir sind die Guten, die die Bösen'. Und was zusammengehört, reißt man auseinander, um gegeneinander aufmarschieren zu können. Werte, die allen gehören, verwandeln sich in eine Propagandawaffe, den anderen niederzuschlagen. Mythologisch gesprochen bekämpfen wir grundsätzlich den Teufel: In der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts Adolf Hitler in jeder Form, Ho Chi Minh, Milosevic, wie immer sie heißen, Hitler, der Wahnsinnige in Bagdad, immer Hitler, immer der Teufel. Was wir uns nicht zugeben möchten oder können, ist, daß wir dabei die ganze Welt in eine Hölle verwandeln und uns selber als allererstes in die Teufel. Der Krieg besteht darin, alles, was grausam unmenschlich, schrecklich ist, steigern zu wollen zum Zwecke der effizienteren Vernichtung, zur Steigerung der Tötungskapazität, zum Sieg des instrumentalisiert Bösen gegen das Böse. Wir verinnerlichen den Gegner im eigenen Handeln, wenn wir gegen ihn Krieg führen."

Dies gelte auch, wenn Bundespräsident und Ex-Pastor Joachim Gauck verlangt, stolz auf die Bundeswehr zu sein, weil man diese heute im Unterschied zum NS-Staat und zur DDR als unabdingliche Voraussetzung für Freiheit wertschätzen könne:

"Kein Soldat, auch kein Kasernenhof hat irgendeinen Spielraum von Freiheit, außer man nennt die Triebabfuhr vor dem Kasernenhof dann seine Freiheit. Nichts bleibt ihm, außer wie man dann kujoniert und schikaniert, uniformiert. Deswegen die absolute Sinnlosigkeit des Trainings: die Augen links, Gleichschritt marsch. Wie verwandelt man noch denkende Menschen in ein Räderwerk des Todes, das ineinandergreift entsprechend den vorgegebenen Zielsetzungen. Das ist Militär, und deshalb darf es nicht sein."

Auch die im Irak vollzogenen Folterungen kommen zur Sprache, und nur an dieser Stelle greift Drewermann zum Mittel der Gestik. Er streckt den Arm aus, um zu illustrieren, was es bedeutet, dies, wie im irakischen Folterlager Abu Ghraib geschehen, unter Gefahr, einen Stromschlag zu erleiden, wenn man ihn sinken läßt, auch nur wenige Minuten auszuhalten. Der auf einer Kiste stehende, mit Elektroden verkabelte Gefangene, der die Arme zum Kreuz ausbreitet, hätte den Kreuzzugscharakter des US-amerikanischen Überfalls auf den Irak 2003 nicht besser versinnbildlichen können. Die Konfettiparaden nach der Operation Desert Storm, in der der auch in deutschen Medien zum Kriegshelden verklärte Norman Schwarzkopf irakische Soldaten zu Tausenden in ihren Schützengräben mit Bulldozern lebendig begraben ließ, machen bis heute glauben, daß zumindest der 1991 mit erheblicher Zerstörung der zivilen Infrastruktur des Iraks einhergehende Krieg ein legitimer und gerechter Befreiungskampf war. Die Tragödie, die die Bevölkerung des Iraks während der letzten 30 Jahre erlitten hat, hat im individuellen Erlebnis ihres Schreckens keine annähernd repräsentative Wiedergabe in den Annalen westlicher Weltpolitik gefunden. Die an diesem Land von Aggressoren aus dem Kreis der NATO-Staaten begangenen Verbrechen bleiben nicht nur ungesühnt, sie fallen einer verordneten Amnesie zum Opfer, ohne die die von Drewermann beschriebene Dichotomie im Selbstverständnis der Staaten Westeuropas und Nordamerikas - wir, die demokratischen Verfechter universaler Menschenrechte, gegen die in antiaufklärerischer Rückständigkeit und autoritärem Personenkult verhafteten anderen - keinen Bestand haben könnte.

Und Drewermann verzichtet nicht darauf, an die Toten des sozialen Krieges zu erinnern, die alljährlich in einer Zahl verhungern, die an die der Opfer des Zweiten Weltkriegs heranreicht. Auch die mindestens 3000 Menschen im Jahr, die beim Versuch, die EU zu erreichen, elendiglich im Mittelmeer ertrinken, sind Opfer eines Krieges, der die Trennung des Zivilen und Militärischen in seiner menschenverachtenden Konsequenz längst überwunden hat, um nicht zuletzt im Konzept der Zivil-Militärischen Zusammenarbeit den Krieg unter Einsatz aller Mittel, die einem Staat zur Verfügung stehen, zu führen.

"Wir verbreiten mit Krieg die Demokratie, wir verbreiten mit Lüge die Wahrheit, wir verbreiten mit Grausamkeit die Menschlichkeit, wir sind immer dabei. Was wir in Wirklichkeit verbreiten wollen, ist die Zielsetzung der Ausbeutung des gesamten Planeten zugunsten des Wirtschaftsimperialismus oder des Kapitalismus. Und die Waffe dazu heißt NATO."

Ein Austritt aus der NATO werde von keiner der im Bundestag vertretenen Parteien bis auf Die Linke propagiert, dabei hätte dies 1989, als Gorbatschow dem Westen antrug, nach dem Ende des Warschauer Paktes die NATO aufzulösen, durchaus im Bereich des Möglichen gelegen:

"Seitdem haben wir die NATO unter Bedingungen, die selbst das in den Schatten stellen, was im Kalten Krieg als Lügen aufbereitet wurde. Selbst wer noch bereit wäre, sie zu rechtfertigen in der balance of power, in der flexible response, und wie all die Worte hießen, muß erkennen, daß seit 1989 die NATO mutiert ist zu einer kriminellen Vereinigung, einer mafiösen Organisation. Überall bei der Ostausdehnung sitzt sie, wo sie nicht hingehört: in Usbekistan, Kasachstan, Kirgistan, mischt mit in Georgien, zerreißt die Ukraine, stationiert Raketen in Polen, bewegt sich mit Zentrum in Stuttgart über Gesamt-Afrika, überläßt den Europäern, vor ihrer Haustür zu kehren, damit die Amerikaner freie Hände haben im Pazifik, um mit künstlichen Krisen in Nordkorea oder sonstwo vor allem China in den Griff zu bekommen. Keinen anderen Zweck hat die NATO, als Wirtschaftsinteressen des Westens zu globalisieren, und das mit allen Mitteln, um den Preis jedes denkbaren Verbrechens."

Drewermann schlägt als Alternative zu der in miteinander konkurrierende Akteure geteilten Weltordnung die Einrichtung eines gemeinsamen Gewaltmonopols in einer Weltverantwortung vor, die lokale Konflikte als letzte juristische Schiedsstelle, unparteiisch, unvoreingenommen durch eigene Wirtschaftsinteressen, für die Kombattanten zur Lösung bringen würde. Der Weg dorthin beginne damit, sämtliche Nationalarmeen und Bündnisse aufzulösen. Die dabei freiwerdenden Mittel ließen sich für soziale Zwecke einsetzen, für den "Kampf gegen die Gründe des Krieges, als da sind Hunger, Verelendung, Krankheit, mangelnde Bildung, Migration, Versteppung ganzer Kontinente". So attraktiv diese Vorstellung erscheint, so prekär ist sie in Anbetracht der Interessen, die Konflikte und Kriege befeuern. So läuft jedes Gewaltmonopol Gefahr, ohne die Aufhebung des kapitalistischen Verwertungszwangs autoritäre Formen der Ausbeutung und Unterdrückung zu organisieren, die das soziale Elend verwaltbar machen, anstatt es aufzuheben.

Nicht weniger utopisch, aber in der Reichweite jedes einzelnen liegend ist die Emanzipation von einer Überlebenskonkurrenz, die den Naturzwang kreatürlicher Not zur unüberwindlichen Voraussetzung allen Hauens und Stechens erhebt. Daß sich der Krieg mit Hilfe übergeordneter Verfügungsgewalten beseitigen läßt, wenn der Mensch ihn mit jeder Zelle seiner stoffwechselgetriebenen Not beschwört, ist kaum wahrscheinlicher als daß humanistische Vernunft dort obsiegt, wo das Lagerfeuer bedürfnisorientierter Lebenssicherung zum Flächenbrand industrieller Warenproduktion und finanzieller Kapitalakkumulation entufert, wo das Prinzip der Verwertbarkeit um jeden Preis, und sei es dem des Untergangs, herrscht. "Fragend schreiten wir voran", sagen die Zapatisten, die mit neuen Formen der kollektiven Selbstorganisation und produktiven Suffizienz experimentieren, um den Bruch mit den herrschenden Verhältnissen im Kleinsten praktisch werden zu lassen.

Zum Abschluß seines Vortrags erinnert Eugen Drewermann an den Dichter Wolfgang Borchert, den Autor von "Draußen vor der Tür", der schon kurz nach dem Krieg 1947 verstarb, nicht ohne ein Manifest gegen den Krieg von ungebrochener Aussagekraft zu hinterlassen. Die Hinterlassenschaft dieses Autoren, wiewohl fester Bestandteil des literarischen Curriculums schulischer Bildung, erscheint heute als fernes Echo einer Zeit, die niemals wiederkehre, weil man diese Lektion doch gelernt habe. Leichtfertiger könnte mit diesem kulturellen Erbe nicht umgegangen werden, wenn sich die Jugendoffiziere der Bundeswehr die Klinke der Klassenzimmer in die Hand geben und die Hochschulen sich immer bereitwilliger von der Rüstungsindustrie alimentieren lassen, während militär- und gesellschaftskritische Forschung längst zu unterfinanziert ist, um auch nur die Aufgabe eines Feigenblatts zu erfüllen.

Ohnehin hat man es im neofeudalen Klima der Berliner Republik nicht mehr nötig, sich für Großmachtambitionen zu entschuldigen, erklärte der Bundeskanzler, der deutsche Soldaten 1999 in den ersten Angriffskrieg seit 1945 schickte, doch noch im gleichen Jahr anläßlich der Vereidigung von 430 Rekruten im Berliner Bendlerblock am 20. Juli die Bundeswehr zur "Friedensstreitmacht". Sie übernehme "Verantwortung für die Menschenrechte (...) auch und gerade dort, wo deutsche Armeen in der Vergangenheit Terror und Verbrechen über die Völker gebracht haben." Gerhard Schröder schlüpfte mit der Verkehrung des Vorzeichens vom Eroberungs- zum Menschenrechtskrieg in die Stiefel jener Generäle, die bereits 55 Jahre zuvor in einem ihrem Selbstverständnis nach ebenfalls moralisch gerechtfertigten Krieg in Jugoslawien wüteten. Eben jene Generäle, die Borchert meinte, als er den Spätheimkehrer Beckmann schuf, der "traumatisiert durch den Krieg wie Hunderttausende GIs nach ihren Einsätzen in Irak und Afghanistan die Welt nur noch sehen kann durch die Gasmaskenbrille der deutschen Wehrmacht, und der nicht verträgt, daß sie schon wieder dastehen, die alten Generäle, arriviert und dekoriert, um neu in die Stiefel zu steigen". Mit einem Zitat Wolfgang Borcherts, hier wiedergegeben in Abschrift der freien Rede Drewermanns, klang das furiose Plädoyer für den Frieden aus. Ob seine Worte ungehört verhallen oder über die Ränder systematisch erzeugter Ignoranz hinaus wahrgenommen werden, ist für ihre Gültigkeit nicht von Belang.

"Mutter in Deutschland, Mutter in der Ukraine: Wenn sie wiederkommen und dir sagen, du sollst Kinder gebären, Mädchen als Krankenschwester für die Spitäler, Jungen als Soldaten in den Schützengräben, Mutter in Deutschland, Mutter in der Ukraine, sag nein!
Mann an der Werkbank: Wenn sie wiederkommen und dir sagen, du sollst statt Kochtöpfen Handgranaten und statt Wasserrohre Kanonen ziehen, Mann an der Werkbank, sag nein!
Arzt im Labor: Wenn sie kommen und dir sagen, du sollst den neuen Tod für den alten Krieg erfinden, Mann im Labor, sag nein!
Pfarrer auf der Kanzel, wenn sie wiederkommen und dir sagen, du sollst den Krieg rechtfertigen und die Waffen segnen, Pfarrer auf der Kanzel, sag nein!
Denn wenn wir nicht nein sagen, wird das alles schlimmer und schlimmer wiederkommen."
Eugen Drewermann beim Vortrag - Foto: © 2013 by Schattenblick

Entschieden für den Frieden des Menschen
Foto: © 2013 by Schattenblick

Eugen Drewermann ließ in seinem Vortrag nichts offen, was zur Frage von Krieg und Frieden zu sagen war. So ungewohnt die Radikalität seiner Worte in einer Zeit erscheint, in der der emanzipatorische und revolutionäre Aufbruch der 1960er Jahre im öffentlichen Diskurs fast nur noch zum Anlaß genommen wird, die Unmöglichkeit jeder grundsätzlichen gesellschaftlichen Veränderung zu beschwören, in der der Zweck geringfügiger Vorteilsnahme katastrophale Mittel heiligt und bunt ausstaffiertes Vergessen regiert, wo das Gewahrwerden historischer Katastrophen als Ratgeber für zukünftige Entscheidung unabdinglich wäre, so wertvoll ist sie auch. Es kann daher nicht erstaunen, daß Drewermann auch jenseits der Frage von Krieg und Frieden mit scharfen Reaktionen gesellschaftlicher Meinungsführer auf seine Stellungnahmen zu Problemen der Zeit konfrontiert wird.

Dies konnte auch nach seinem Vortrag nicht ausbleiben. Als wäre er eigens dazu angetreten, Drewermanns Kritik am Ergebnis militärischen Drills - die Verinnerlichung dessen, was es angeblich zu bekämpfen gilt - zu illustrieren, meldete sich ein Oberst der Bundeswehr zu Wort. Nie habe er in einer Rede für den Frieden so viel Haß und Feindseligkeit vernommen, donnerte der Soldat, als gelte es, den ganzen Kasernenhof aufzuschrecken. Er jedoch werde sich stets dafür einsetzen, daß Drewermann seine Worte frei aussprechen könne. Das Angebot, die freiheitlich-demokratische Grundordnung in eine Festung militärisch gesicherter Wertesuprematie zu verwandeln, quittierte Drewermann, indem er es ablehnte. Er brauche keine Soldaten, um sein freies Wort zu riskieren, er habe "nie gewollt, daß man mit militärischen Mitteln meine Freiheit schützt, denn dadurch würde ich sie verraten". Das "Argument", die Bundeswehr schütze die Freiheit, sei eine Propagandaphrase aus der Zeit des Kalten Krieges, die offenbar in Offizierskreisen selbst nach 50 Jahren noch repetiert werde, doch man schütze nicht die Freiheit der Person, man nehme sich lediglich die "Freiheit", Kapitalinteressen militärisch durchzusetzen.


28. Mai 2013