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BERICHT/210: EU-Umlastkonverter - Monopoly ... (SB)


Projekt der führenden Nationalstaaten und Kapitalfraktionen

"Griechenland, EU und Euro in der Krise" - Veranstaltung am 15. September 2015 in Hamburg-Altona


Zum Auftakt der dritten Veranstaltungsreihe, die in diesem Jahr dem Thema "Griechenland, EU und Euro in der Krise" gewidmet ist, hatte das Hamburger Bündnis "Kapitalismus in der Krise" [1] aus verschiedenen linken Organisationen mit Andreas Wehr einen der profiliertesten Kenner und Kritiker der Europäischen Union als Referenten gewonnen. Er war 15 Jahre lang als wissenschaftlicher Mitarbeiter im europäischen Parlament tätig und hat in zahlreichen Publikationen eine fundierte Auseinandersetzung mit der EU geführt. [2] Auf Einladung der Kommunistischen Plattform (KPF) Hamburg "Clara Zetkin" in und bei der Partei Die Linke sprach Wehr in deren Parteibüro in Hamburg-Altona zum Thema "Ist eine andere EU wirklich möglich?".

Andreas Wehr charakterisiert die Europäische Union als einen Entwurf, der von Anfang an dazu ausersehen war, die Interessen der führenden Nationalstaaten und deren Kapitalfraktionen zu Lasten der kleineren Mitgliedsländer durchzusetzen. So stellt der gemeinsame Markt durch die Beseitigung jeglicher Schutzmechanismen seitens der schwächeren Staaten bis hin zur tendenziellen Aufhebung ihrer Souveränität die ungleiche Entwicklung der beteiligten Volkswirtschaften sicher. Zugleich dient der riesige Binnenmarkt mit 508 Millionen Menschen dem Kapital der dominierenden Nationalstaaten als Sprungbrett und Konkurrenzvorteil auf dem Weltmarkt. Demgegenüber greift die Forderung nach einer sozialen und demokratischen EU, wie sie mehrheitlich von Syriza wie auch den anderen europäischen Linksparteien erhoben wird, nicht nur zu kurz, sondern täuscht über Zweck und Ziel dieses Zusammenschlusses hinweg, was verhängnisvolle Folgen für die Kampfbereitschaft der betroffenen Bevölkerungen hat.

Mit dieser positionierten Einführung in die Thematik setzte die Auftaktveranstaltung ein klares Zeichen für die folgenden Schwerpunkte der diesjährigen Reihe und einen fruchtbaren Diskussionsprozeß, der mit engagierten Beiträgen zu grundsätzlichen Fragen eröffnet wurde. Eine Klärung der Frage, womit man es bei der EU und dem Euro zu tun hat, ist nicht nur unabdingbare Voraussetzung, angesichts der dramatischen Entwicklung in Griechenland eine substantielle Einschätzung zu erarbeiten, sondern darüber hinaus auch Konsequenzen für eine linke Politik in den anderen europäischen Ländern wie insbesondere in Deutschland zu ziehen.


Plakat der Veranstaltungsserie - Foto: 2015 by Schattenblick

Foto: 2015 by Schattenblick


Langzeitplan deutschen Hegemonialstrebens

Wie Uli Ludwig, der für die gastgebende KPF als Moderator durch die Veranstaltung führte, eingangs hervorhob, habe die Europäische Union nach nur einem halben Jahr Syriza/Anel-Regierung zwischen dem Referendum vom 5. Juli und dem 12. Juli Griechenland einer Kolonialherrschaft der Troika unterworfen. Nach diesem Staatsstreich komme keine linke Bewegung oder Partei um die Grundsatzfrage nach dem Charakter der EU herum. So gelte es insbesondere in Deutschland, die Europastrategien des deutschen Kapitals in ihrer Kontinuität wie auch innovativen Weiterentwicklung zu untersuchen. Aufschlußreich sei in diesem Zusammenhang eine Aussage des deutschen Reichskanzlers Theobald von Bethmann Hollweg vom 9. September 1914:

"Es ist zu erreichen die Gründung eines mitteleuropäischen Wirtschaftsverbandes durch gemeinsame Zollabmachungen unter Einschluß von Frankreich, Belgien, Holland, Dänemark, Österreich-Ungarn und eventuell Italien, Schweden und Norwegen. Dieser Verband, wohl ohne konstitutionelle Spitze und unter äußerlicher Gleichberechtigung seiner Mitglieder, aber tatsächlich unter deutscher Führung, muß die wirtschaftliche Vorherrschaft Deutschlands in Mitteleuropa stabilisieren."

Diese Forderung zeige zum einen die bis heute reichende Kontinuität ihrer Verwirklichung über den Ersten Weltkrieg, den Faschismus an der Macht und damit den Zweiten Weltkrieg, wie auch die parlamentarische Demokratie der BRD mit der einhelligen Europapolitik aller Regierungskonstellationen nach 1945. Zum anderen stehe man vor einer fast furchteinflößenden Erfolgsgeschichte im weltgeschichtlichen Maßstab, der Georg Fülberth das Erreichen eines von Deutschland geführten Europa attestiert, wenngleich nicht als Alleinherrschaft, sondern eine Art Kondominium mit dem wirtschaftlich schwächeren Partner Frankreich.

Wolle man aus den Fehlern in Griechenland lernen, so nicht im Sinne einer Besserwisserei, sondern um nicht die gleiche Niederlage zu erleiden, falls es einer deutschen Linken gelingen sollte, die politische und gesellschaftliche Gestaltung lenken zu können. Indessen müsse man schon jetzt die Zusammenhänge verstehen, erklären und politisch entwickeln können.


Im Vortrag - Foto: © 2015 by Schattenblick

Uli Ludwig und Andreas Wehr
Foto: © 2015 by Schattenblick


Kein Rückfall in den Nationalismus

Andreas Wehr ging in seinem Vortrag von der aktuellen Streitfrage innerhalb der Linken wie auch der Partei Die Linke aus, ob es, wie Gregor Gysi gefordert hat, keinen Rückfall in den Nationalismus geben dürfe. Die einen erhofften sich ein soziales, demokratisches und ökologisches Europa und bezichtigten die anderen als Hinterwäldler, die in die Heimlichkeit der Nation zurückkehren möchten. Das mache mit Blick auf Griechenland den Unterschied zwischen einem Verbleib im Euro oder der Rückkehr zur Drachme aus. Er rate in dieser Kontroverse stets, auf die Gründungsakte der EU zurückzublicken. Diese sei von den Nationalstaaten in Verfolgung ihrer Interessen geschaffen worden und ihrem Wesen nach ein Vertragssystem, bestehend aus dem EU-Vertrag und dem Anwendungsvertrag. Über die Jahrzehnte seien ein riesiger Berg an Richtlinien und Verordnungen hinzugekommen und zahlreiche Einrichtungen mit enormem Personalbedarf geschaffen worden.

Zu Anfang der Integration habe der damalige Ministerpräsident der Französischen Republik, Pierre Mendès France, anläßlich der Ratifizierung der Römischen Verträge am 18. Januar 1957 die Situation folgendermaßen auf den Punkt gebracht:

"Das Projekt des gemeinsamen Marktes, so wie es uns vorgestellt wird, oder wenigstens so, wie man es uns wissen läßt, ist auf den klassischen Liberalismus des 19. Jahrhunderts gegründet, nach dem die Konkurrenz ohne Wenn und Aber alle Probleme löst."

Diese Aussage beschreibe noch heute die EU, die konstruiert worden sei, um das Projekt des Binnenmarkts voranzutreiben. Wenngleich die EU in alle erdenklichen Bereiche eingreife und ihre Reichweite immer mehr ausgedehnt habe, gehe es im Kern um die vier Binnenmarktfreiheiten (Warenfreiheit, Kapitalfreiheit, Dienstleistungsfreiheit und Personenfreiheit, nämlich die Arbeitnehmerfreizügigkeit). Alle Bestimmungen und Gesetze der Mitgliedsländer würden fortlaufend darauf geprüft, ob sie dem entsprechen: Subventionsverbot, möglichst keine nichttarifären Handelshemmnisse, tiefe Eingriffe in die öffentliche Daseinsvorsorge, die zwar vom Staat organisiert wird, aber den Wettbewerbskriterien unterliegt, sobald sie entgeltlich ist. Letzteres erlebe man in der Kommunalpolitik tagtäglich, ob bei der Müllentsorgung, im Personennahverkehr oder bei Hallenbädern, überall greife die EU mit Subventionsverboten und Quersubventionsverboten stets mit der Begründung ein, es könnte eine Diskriminierung Privater vorliegen, so der Referent.

Alle Beschränkungen des Kapital- und Zahlungsverkehrs zwischen den Mitgliedsstaaten und dritten Ländern seien verboten. Wollte ein Staat über die Ressourcen verfügen, die im eigenen Land produziert werden, und Kapitalverkehrskontrollen einführen, wie das Schwellenländer wie Brasilien, Indien und Südafrika zeitweise getan haben, um den Geldabfluß zu bremsen, sei die EU spätestens seit Maastricht der Auffassung, daß alle Beschränkungen auch gegenüber dritten Ländern untersagt sind.

Hinsichtlich der Warenfreiheit gelte seit der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs (EuGH) im Cassis-de-Dijon-Urteil von 1979, daß das, was in einem Land produziert wird und dort rechtens ist, auch für alle anderen Mitgliedsländer gilt. Herrschte zuvor die Idee der Harmonisierung vor, wonach die Länder miteinander reden müßten, kauft man seit diesem Urteil die schlechten Arbeits- und Umweltbedingungen in anderen Ländern mit ein. Grundsätzlich entscheide der EuGH stets zugunsten der Integration, da in ihm kaum Juristen, sondern politische Beamte sitzen, die den Interessen der EU-Kommission Folge leisten.

Nach der Dienstleistungsrichtlinie ist es möglich, daß Lohnabhängige zu den Bedingungen in ihren Herkunftsländern in anderen Staaten tätig werden. So kämen im Osten Deutschlands vor allem Firmen aus Polen oder der Tschechischen Republik, wo es so gut wie kein Streikrecht gibt und die Löhne erheblich niedriger sind, zum Zuge. Diese Unternehmen sicherten sich Aufträge, die sie dann mit ihren eigenen Arbeitskräften erfüllten.

Arbeitnehmerfreizügigkeit werde von den Gewerkschaften und der Linkspartei als Errungenschaft gesehen, da man seine Arbeitstätigkeit auch in anderen Ländern ausüben könne. Dabei werde oft der Aufwand übersehen, eine andere Sprache zu lernen, sich in ein anderes Rechtssystem einzufinden und oftmals einen anderen Berufsabschluß nachholen zu müssen. Grundsätzlich handle es sich um ein Instrument des Braindrains, also des Abzugs von hochqualifizierten Kräften aus anderen Ländern zugunsten Kerneuropas. Auch die Flüchtlinge würden unter dem Primat ihrer Verwertbarkeit als Arbeitskräfte eingestuft.

Schlimmer noch sei das Resultat der Niederlassungsfreiheit für die Länder Osteuropas. So berichte die FAZ über England, daß dort die Haltung gegenüber der EU spätestens seit der Durchsetzung der Niederlassungsfreiheit nach der Osterweiterung gekippt sei. Die Briten gestatteten zusammen mit den Iren schon 2004 allen Osteuropäern den Aufenthalt, sofern sie einen Arbeitsplatz fanden. Das habe die Konkurrenzbedingungen enorm verschärft, da wachsende Teile der schwarzen Einwanderer keine Perspektive auf dem Arbeitsmarkt mehr hatten. Dies führte innerhalb der Gewerkschaften und bei Labour zu großen Veränderungen: Sie seien nicht fremdenfeindlich, sähen aber, daß Osteuropäer faktisch als Streikbrecher fungieren, weil sie ihre Familien in den Heimatländern über Wasser halten wollen.

Davon profitierten die osteuropäischen Länder nur insofern, als ihre Arbeitslosenquote in Folge der Abwanderung sinkt. Allerdings wanderten eben jene Kräfte, die für den industriellen Aufbau benötigt werden, in westlicher Richtung ab. So hätten sich beispielsweise die Erwartungen Estlands und Lettlands nicht erfüllt, zu Hochburgen der IT-Technologie in Europa aufzusteigen. Da die Sowjetunion dort Schwerpunkte der Investitionen gesetzt hatte, habe es damals so ausgesehen, als könnten sich die beiden kleinen Länder auf diesem Weg einen Platz im Binnenmarkt sichern. Heute treffe man jedoch von diesen Fachkräften dort praktisch keinen mehr an, da sie nach Westeuropa gegangen seien.

Laut der FAZ rechnet die britische Ministerin für Inneres vor, daß mittlerweile jede dritte Krankenschwester Portugal verlassen habe und jeder fünfte Arzt die Tschechische Republik. In Rumänien seien 34.000 Kinder von Eltern zurückgelassen worden, die zum Arbeiten ins europäische Ausland gegangen sind. Inzwischen habe Deutschland mit der Öffnung für Osteuropäer nachgezogen und profitiere in wachsendem Maße von dem Braindrain, so der Referent. Polen verliere bei knapp 38 Millionen Einwohnern seit 2012, dem ersten Jahr unbeschränkter Niederlassungsfreiheit, allein an Deutschland jährlich rund 180.000 Bürger, Ungarn erleide anteilsmäßig noch höhere Verluste.


Zwei Buchtitel von Andreas Wehr - Foto: 2015 by Schattenblick

Foto: 2015 by Schattenblick


Innovativer Schub zur Konsolidierung deutscher Dominanz

Seit der Gründungsphase der EU im Jahr 1957 standen bis 1990 Deutschland, Frankreich, Großbritannien und Italien von ihrer Demographie her ungefähr auf gleicher Höhe. Durch den Anschluß der DDR wuchs Deutschland auf ein Gebilde von 83 Millionen Menschen, das seinen Handlungsspielraum nach Osten wiedergewann und zu nutzen verstand. Es sei im wesentlichen deutsches Kapital, das in Ungarn, Polen und insbesondere der Tschechischen Republik investiert wurde. Deutschland habe 1990 gefordert, daß sich die veränderten demographischen Verhältnisse in den Entscheidungsgremien der EU niederschlagen müßten. Diese Reform, die mit dem Vertrag von Lissabon beschlossen wurde, ist erst jetzt in Kraft getreten. Vordem hatte jeder Mitgliedsstaat unabhängig von seiner Größe 29 Stimmen. Der Anteil Deutschlands bei der Herstellung einer qualifizierten Mehrheit lag bei ungefähr 9 Prozent. Nach der Reform konnte die BRD dank ihrer hohen Bevölkerungszahl ihren Anteil auf derzeit 17,4 Prozent ausbauen.

Entscheidungen der EU-Gremien liegt eine doppelte Mehrheit zugrunde: Es müssen 55 Prozent der Mitgliedsstaaten zustimmen und zugleich mindestens so viele Staaten, die 65 Prozent der EU-Gesamtbevölkerung repräsentieren. Frankreich, Großbritannien und Italien verzeichneten durch die Reform ebenfalls Zuwächse, aber nicht mehr als auf 12 oder 13 Prozent. Hingegen haben 21 der 28 Länder Mitspracherechte verloren. Auf diese Weise habe Deutschland de facto eine Hegemonialstellung in dem Aushandlungsmechanismus EU erlangt. Auch der europäische Stabilitätsmechanimus der Euro-Staaten kenne nur qualifizierte Mehrheiten. Hier betrage der deutsche Anteil sogar 29 Prozent, weil es weniger Staaten sind.


Andreas Wehr im Vortrag - Foto: © 2015 by Schattenblick

Der Nationalstaat wurde nie verlassen ...
Foto: © 2015 by Schattenblick


Der Euro hat vorhandene Disproportionalitäten verschärft

Im aktuellen Papier von Mélenchon, Varoufakis und Lafontaine, das er sehr begrüße, werde die Öffnung in eine neue Debatte deutlich, so Wehr: Raus aus der engstirnigen Behauptung, daß der Euro das Ende vom Lied sei. Auch die im Herbst geplante Konferenz zum "Plan B" sei sehr spannend. Was ihm daran weniger gefalle, sei die Aussage, daß der Euro alle Probleme verursache und man sonst keine grundsätzlichen Differenzen zur EU habe, die vordem in Ordnung gewesen sei. Tatsächlich seien die Disproportionalitäten innerhalb der EU jedoch viel älter als der Euro. Für Griechenland habe mit dem Beitritt zur EU im Jahr 1981 der Deindustrialisierungsprozeß begonnen, und Entsprechendes gelte auch für Spanien. Die Herausbildung einer Peripherie sei seit dem Beitritt der südeuropäischen Länder Portugal und Spanien und vor allem seit der Osterweiterung und dem Beitritt Griechenlands Fakt. Auch die italienische und französische Industrie stöhne über nachlassende Wettbewerbsfähigkeit. Der Euro habe diese bereits vorhandenen Disproportionalitäten verstärkt. Die konkurrenzfähige griechische Landwirtschaft kam unter die Räder, 2010 wurden erstmals mehr landwirtschaftliche Produkte aus Deutschland nach Griechenland exportiert als umgekehrt. Der proklamierte Aufschwung in Spanien finde vor allem im Baubereich und Tourismus statt, während die Filetstücke der Industrie schon vor Jahren von ausländischen Konzernen abgegriffen worden seien.


Kapitalismus erzwingt ungleichmäßige Entwicklung

Er sei der Auffassung, daß wir nicht zum Nationalstaat zurückwollen, sondern ihn nie verlassen haben, so der Referent. Die Mitgliedsstaaten geben nicht etwa Macht an die europäischen Institutionen ab, vielmehr geben einige Staaten Macht an andere Staaten ab, die im Rat mit qualifizierten Mehrheiten bestimmen, was passiert. Profiteure dieses Machttransfers seien insbesondere Deutschland und in gewissem Maße auch Frankreich und andere große Länder. Der deutsche Imperialismus habe durch die Einverleibung der DDR noch einmal einen gewaltigen Schub bekommen. Wie Lenin geschrieben habe, sei die Ungleichmäßigkeit der ökonomischen und politischen Entwicklung ein unbedingtes Gesetz des Kapitalismus. Diese ungleichzeitige Entwicklung erlebe man gegenwärtig in der EU, die man ohne eine sozialistische Entwicklung kaum verlassen werde. Alle anderen Vorstellungen, die meinten, man könne den Kapitalismus austricksen, indem man auf EU-Ebene etwas erreicht, was einem im eigenen Land nicht gelingt, seien seines Erachtens verfehlt.


Publikum und Referenten im Dunkeln von außen - Foto: © 2015 by Schattenblick

Ausgiebiges Gespräch bis in den Abend
Foto: © 2015 by Schattenblick


Grundsatzfragen ins Visier genommen

Dem Vortrag folgte eine angeregte Diskussion, in der verschiedene Aspekte der Gesamtproblematik angesprochen und präzisiert wurden. So bekräftigte ein Teilnehmer, daß die entscheidende Frage der Linken lauten müsse, ob die EU der Arbeiterklasse, den Arbeitnehmern oder Bürgern nützt. Komme man zu dem Schluß, daß sie ihnen schadet, kehre man nicht etwa zum Nationalstaat, sondern zu besseren Kampfbedingungen zurück. Die Diskussion drehe sich nicht um nationale Fragen oder ein angeblich internationalistisches Europa, sondern müsse von Anfang an vom Interesse der Klasse aus geführt werden.

Ein anderer Diskussionsbeitrag ging auf die Ideologie ein, Europa neben der Reisefreiheit vor allem wegen der Abwesenheit von Krieg und der Beseitigung von Nationalismus zum Erfolgsmodell zu erklären. Das Gegenteil sei der Fall, da die wachsende Stärke des deutschen Imperialismus die Peripheriestaaten wirtschaftlich wie politisch unterdrücke. Das bringe die Bevölkerungen tendenziell gegeneinander auf, was von rechten Kräften ausgenutzt werde. Zudem bedeute EU Krieg, wie der Balkan gezeigt habe.

Ein beträchtlicher Teil der Diskussion, die hier nur auszugsweise wiedergegeben werden kann, kreiste um die Frage, ob man mit Andreas Wehr von einem nationalen Kapital oder vielmehr einem Kapital in globalisierter Form ausgehen müsse, woraus unterschiedliche Konsequenzen für die Einschätzung der EU und den antikapitalistischen Kampf zu ziehen seien. Hier zeichnete sich eine überwiegende Übereinstimmung mit der Position ab, daß zwar internationale Verflechtungen und Wertschöpfungsketten des Kapitals existierten, dessen Konzerne jedoch eine Heimatbasis und einen Staat hätten, der ihre Interessen vertritt.

Andreas Wehr verwies in diesem Zusammenhang auf eine Untersuchung von Gretchen Binus zur Monopolisierung in der EU, der zufolge die europäischen Konzerne seit der Aktivierung des Binnenmarkts 1992 in der weltweiten Rangfolge einen erheblichen Sprung nach vorn gemacht, häufig die Stellung japanischer Unternehmen übernommen und gleiche Höhe mit den US-amerikanischen Konzernen erreicht haben. Der riesige Binnenmarkt schaffe einen enormen Konkurrenzvorteil und ziehe zugleich US-amerikanische und chinesische Konzerne an, die an Europa einen integrierten, nach Infrastruktur und Rechtssystem hochentwickelten Markt schätzen. Der deutsche Standort lebe von dem entwickelten Regime des staatsmonopolistischen Kapitalismus. Die Annahme, das deutsche Kapital sei angesichts einströmender ausländischer Kapitale schwach, treffe nicht zu, das Gegenteil sei der Fall. So belegten auch die Zahlen ausländischer Anteilsnehmer in den DAX-Konzernen nicht automatisch, daß dies ausländische Unternehmen seien. Investoren wie BlackRock seien zwar in vielen westeuropäischen Konzernen präsent, doch steuerten sie nicht zwangsläufig die Unternehmenspolitik.

Deutlich werde die Unterstützung einheimischer Konzerne durch die deutsche Politik insbesondere bei der Forschungsförderung. So habe die Bundesregierung eine umfangreiches Programm zur Entwicklung des Elektroautos aufgelegt, Ford und Opel jedoch daraus keine Gelder gewährt. Auch gebe es einen Deutschlandgipfel von Regierung und Konzernen zur Förderung deutscher Unternehmen. Die entscheidenden Weichenstellungen würden in der Forschungsförderung vorgenommen, weil dort die Produkte für die nächsten Jahrzehnte geplant werden. Der deutsche Staat gebe 3 Prozent des BIP dafür aus, nur übertroffen von den wesentlich kleineren Ländern Finnland und Schweden, während Frankreich bei 2,1 und Großbritannien bei 1,8 Prozent liege. Hier würden die heutigen Abstände zwischen den Staaten für die nächsten Jahrzehnte fortgeschrieben und ausgebaut, so Wehr.

In Beantwortung der Frage, warum die schwächeren Staaten ihrer Entmachtung im Abstimmungsmodus der EU keinen Riegel vorgeschoben haben, erklärte Andreas Wehr, daß es fast nirgendwo Diskussionen darüber gegeben habe. Diese Fragen seien fast geheim verhandelt worden und zu kompliziert für die meisten gewesen. Die Journalisten führten ihre Arbeit in aller Regel auf niedrigem Niveau und wollten nur Dinge hören, die sie gerade noch verstehen. Zudem habe deutsche Medienmacht in anderen Ländern ihr Werk getan. Als der Konvent 2002/2003 den ersten Entwurf ausgearbeitet habe, sei die Stimme der Regierungen um die angebliche Stimme der Bürger, also die Demographie, ergänzt worden. Ein anderer trügerischer Kunstgriff seien die immer wieder geforderten Volksabstimmungen in der EU, die darauf hinausliefen, daß kleine Staaten keine Chance hätten. Was die zweite Komponente bei Abstimmungen in Gestalt von 55 Prozent der Staaten betreffe, komme es im Zweifelsfall zu gewissen finanziellen Zugeständnissen seitens der starken Mitglieder, so daß Deutschland fast immer die kleinen Staaten auf seiner Seite habe.

In Hinblick auf einen möglichen Zugewinn des deutschen Imperialismus durch die EU-Administration erläuterte Wehr, daß die Kommission nach dem Lissabon-Vertrag das Recht habe, bei internationalen Organisationen für die EU und damit die Nationalstaaten zu verhandeln. Das gelte auch für TTIP, wobei er sich wundere, warum die deutschen Gewerkschaften nicht schon beim Binnenmarkt aufgestanden seien, der für die 28 Staaten TTIP pur sei. Der EuGH sei die Schiedsstelle, die beim TTIP kritisiert wird. Das Verhandlungsmandat werde im Rat festgelegt, und dies sei nach Lissabon noch eine Stufe weiter von der demokratischen Entscheidungsfindung entfernt. Durch die Verlagerung auf europäische Ebene hätten die nationalen Parlamente faktisch keine Macht mehr.

Wehr stimmte mit Diskussionsbeiträgen überein, die unter verschiedenen Gesichtspunkten einen EU-Austritt thematisierten, und erinnerte daran, daß es in den 50er Jahren in der Linken und in den Gewerkschaften noch klare Positionen gegen ein Europa der Monopole gegeben habe. Selbst der DGB habe anfangs noch eine kritische Position eingenommen, doch habe die SPD 1957 erstmals in ihrer Mehrheit den Römischen Verträgen zugestimmt und dies dann auch im Godesberger Programm verankert.

Was Griechenland betreffe, sei es eine Tragödie, daß der Aufbruch zerstört werden konnte. Dies sei jedoch nicht vom Himmel gefallen, da sich schon bei den Wahlen im Februar abgezeichnet habe, daß Syriza seine Vorhaben nicht durchsetzen konnte. Während die Euro-Länder klarstellten, daß es mit den Griechen nichts auszuhandeln gebe, holten sich Tsipras und Varoufakis auf ihrer Rundreise überall Abfuhren. Diese Vorgehensweise habe eines tragfähigen Fundaments entbehrt, da die griechische Regierung zu keinem Zeitpunkt einen Plan B, nämlich das Verlassen der Eurozone, vorgehalten habe. Statt dessen sei die Syriza-Führung zu Kreuze gekrochen, worauf selbst die deutsche Konzernpresse ihren Frieden mit Tsipras schloß, habe dieser doch am 12. Juli seine Lernfähigkeit unter Beweis gestellt. Die euphorische Parole auch unter deutschen Linken "heute Athen, morgen Madrid, übermorgen Berlin" sei Enttäuschung gewichen. Um wieder Fuß zu fassen, sei es im ersten Schritt unabdingbar, diese Ernüchterung für eine projektionsfreie Analyse der EU zu nutzen, die sie als Herrschaftsinstrument ausweist, das keinesfalls mit den Interessen einer Linken in Einklang zu bringen ist.


Parteibüro Bezirksverband Die Linke - Foto: © 2015 by Schattenblick

Veranstaltung in Hamburg-Altona
Foto: © 2015 by Schattenblick


Fußnoten:


[1] http://www.kapitalismus-in-der-krise.de/

[2] Rezensionen im Schattenblick:

REZENSION/619: Andreas Wehr - Der europäische Traum und die Wirklichkeit (SB)
http://www.schattenblick.de/infopool/buch/sachbuch/busar619.html

REZENSION/599: Andreas Wehr - Die Europäische Union (SB)
http://www.schattenblick.de/infopool/buch/sachbuch/busar599.html

REZENSION/329: A. Wehr - Das Publikum verläßt den Saal (EU-Politik) (SB)
http://www.schattenblick.de/infopool/buch/sachbuch/busar329.html

REZENSION/198: Andreas Wehr - Europa ohne Demokratie? (EU-Verfassung) (SB)
http://www.schattenblick.de/infopool/buch/sachbuch/busar198.html

23. September 2015


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