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BERICHT/231: Migrationskonferenz Kampnagel - Teilen und Verweilen (SB)


Flüchtlinge treten als Akteure in der politischen Debatte auf

Migranten fordern ihre Rechte ein


Vom 26. bis zum 28. Februar 2016 kam es in der Hamburger Kulturfabrik Kampnagel zur weltweit ersten International Conference of Refugees and Migrants. Das dreitägige Treffen, zu dem mehr als tausend Flüchtlinge, Migranten und Aktivisten aus dem In- und Ausland angereist waren, fand vor dem Hintergrund einer laufenden Zuspitzung der sogenannten "Flüchtlingskrise" einschließlich einer beängstigenden Welle von Angriffen auf Asylheime und Migrantenunterkünfte in Deutschland statt. Am 25. Februar verabschiedete der Bundestag in Berlin das Asylpaket II, das u. a. Schnellverfahren in fünf grenznahen Aufnahmezentren für Asylbewerber mit geringer Erfolgsaussicht, erschwerten Nachzug von Familienangehörigen und die erleichterte Abschiebung erkrankter Flüchtlinge vorsieht. Einen Tag zuvor hatten die Innen- und Außenminister Österreichs, Sloweniens, Kroatiens, Bosniens, Montenegros, Serbiens, Albaniens, Mazedoniens und Bulgariens bei einem Sondertreffen in Wien drastische Maßnahmen zur Eindämmung des Flüchtlingsverkehrs entlang der "Balkanroute" beschlossen. An der mazedonisch-griechischen Grenze kam es zu immer chaotischeren, menschenunwürdigen Zuständen. Dort sahen sich Tausende Flüchtlinge mit einer undurchdringlichen Mauer aus NATO-Draht und bewaffneter Polizei konfrontiert, während weiterhin täglich mehr als eintausend Syrer, Iraker und Afghanen den gefährlichen Seeweg von der Türkei über die Ägais nach Griechenland wagten, um in die EU zu gelangen.


Großes Transparent mit der Aufschrift 'Refugees Welcome' über dem Eingang des Kampnagel-Theaters - Foto: © 2016 by Schattenblick

Vorbildliche 'Willkommenskultur' auf Kampnagel
Foto: © 2016 by Schattenblick

Der wesentliche Impuls zur ersten Internationalen Konferenz der Geflüchteten und Migranten kam von der Gruppe Lampedusa in Hamburg, deren Mitglieder, allesamt Schwarzafrikaner, die nach dem gewaltsamen Sturz Muammar Gaddhafis 2011 aus Angst um ihr Leben Libyen verlassen hatten, seit drei Jahren höchst publizitätswirksam um die Anerkennung ihrer Rechte als Schutzbedürftige nach der Genfer Konvention kämpfen und deren Schicksal in der Elbemetropole zu einer cause célèbre geworden ist. Bereits 2015 hatten Lampedusa in Hamburg und das Protest Camp Hannover eine bundesweite Bustour mit anschließender Tagung durchgeführt, um die verschiedenen Flüchtlingsgruppen in Deutschland zu vernetzen, eine Zusammenarbeit in die Wege zu leiten und politischen Druck zu erzeugen.


Ali Ahmed von Lampedusa in Hamburg spricht zur versammelten Presse; an der Wand hinter ihm und den anderen Flüchtlingsvertretern hängt das Konferenz-Plakat - Foto: © 2016 by Schattenblick

Pressetermin zum Auftakt der Konferenz
Foto: © 2016 by Schattenblick

Mit der Veranstaltung auf Kampnagel sollte die Sache der in Europa unter schwierigsten rechtlichen und sozialen Bedingungen lebenden Flüchtlinge und Migranten internationalisiert und eine grenzübergreifende, EU-weite Kooperation zustande gebracht werden. In publizistischer Hinsicht ist auf jeden Fall das erste Ziel erreicht worden. Das Medieninteresse an der Konferenz war groß. Beim Pressegespräch zum Auftakt des Treffens waren Journalisten und Kamerateams aus der ganzen Welt zugegen. Namentlich haben sich mit Fragen u. a. Vertreter des dänischen Rundfunks, der Deutschen Presse-Agentur (DPA) und des öffentlich-rechtlichen US-Senders National Public Radio (NPR) zu Wort gemeldet.


Amelie Deuflhard, auf der Bühne stehend, mit Mikrophon in der Hand - Foto: © 2016 by Schattenblick

Begrüßungsworte von Gastgeberin Amelie Deuflhard, der künstlerischen Leiterin von Kampnagel
Foto: © 2016 by Schattenblick

Für allgemeines Kopfschütteln sorgte der Journalistenkollege aus Kopenhagen, der unbedingt wissen wollte, was die in Europa Gestrandeten den rechtsradikalen "Söhnen Odins", die den Schutz der Ehre skandinavischer Frauen und Mädchen vor der Besudelung durch testosteron-gesteuerte Mohammedaner auf ihre Fahne geschrieben haben, zu sagen hätten. Unzufrieden mit der Antwort, daß Gewalt gegen Frauen kein ausschließlich asiatisches oder afrikanisches Phänomen sei, stichelte er weiter, indem er fragte, woher in Dänemark zum Beispiel die Arbeitsplätze für die Neu-Ankömmlinge kommen sollten. Als ihm eröffnet wurde, man müsse den Migranten und Flüchtlingen nur das Recht auf Berufstätigkeit gewähren, dann würden diese schon für die Schaffung eigener Arbeitsplätze durch die Gründung kleiner Unternehmen und Betriebe sorgen, ließ er von weiteren Provokationen ab.


Acht Mitglieder von Lampedusa in Hamburg, alle in roten T-Shirts, sitzen in Sesseln auf der Bühne bei einer Panel-Diskussion - Foto: © 2016 by Schattenblick

Lampedusa in Hamburg lädt zum Gespräch ein
Foto: © 2016 by Schattenblick

Den Teilnehmern der Konferenz wurde eine breite Palette größerer Diskussionsrunden und kleinerer Workshops zu Themen wie NSU-Terror, struktureller Rassismus, Neokolonialismus, Selbstorganisation und Solidarität, deutsche und europäische Gesetzgebung - Stichwort Dublin II -, Residenzpflicht, sexistische Gewalt, Abschottung der EU und die Rolle von Frontex und NATO im Mittelmeer geboten. In den verschiedenen Foren traten die Mitglieder von Lampedusa in Hamburg, CISPM - International Coalition of Sans-Papiers Migrants and Refugees -, Voix de Migrants, Refugee Movement Berlin, Refugee Bus Tour, Refugee Protest Camp Hannover, World Refugee Support und Asmara's World - Refugee Support auf, erzählten von ihren eigenen Erlebnissen auf der Flucht sowie nach der Ankunft in der EU und luden zum Gespräch ein. Es gab erschütternde Berichte wie zum Beispiel eines Flüchtlings aus Äthiopien, der erzählte, die Asylverfahren von ihm und den anderen nach Deutschland geflohenen Angehörigen der Volksgruppe der Oromo würden seit Jahren wegen des völligen Fehlens geeigneter Dolmetscher für ihre Sprache nicht bearbeitet; die 5000 Betroffenen steckten im behördlichen Niemandsland fest.


Blick von den oberen Rängen des Haupttheaters auf die Bühne bei einer Panel-Diskussion - Foto: © 2016 by Schattenblick

Vorstellung des Projekts 'Alarm Phone - Watch the Med'
Foto: © 2016 by Schattenblick

Beeindruckend war die Vorstellung der Gruppe "Alarm Phone - Watch the Med", deren 120 Aktivisten seit dem Sommer 2014 rund um die Uhr, sieben Tage die Woche, über die Nummer +334 86 51 71 61 Notrufe von Bootsflüchtlingen im Mittelmeer entgegennehmen und an die entsprechenden Stellen bei den nationalen und internationalen Behörden für den Küstenschutz weiterleiten. Seit der Gründung haben die Freiwilligen von "Alarm Phone - Watch the Med" nach eigenen Angaben mehr als 5000 Notrufe erhalten und geholfen, mehr als 60.000 Menschen vor dem Ertrinken zu retten. Pfiffig ist auch der Ansatz der multinationalen Gruppe "We are here - Occupying the Border", die im kommenden Juni für drei Tage unmittelbar auf dem Grenzknotenpunkt bei Aachen ein Amphitheater aus Holz errichten will, damit dort die Abgesandten verschiedener Flüchtlingsgruppen aus Belgien, Deutschland und den Niederlanden eine Art Thing abhalten können, ohne dabei das jeweilige Gastland zu verlassen. Mit der symbolträchtigen Aktion will man auf die eingeschränkte Reisefreiheit der Migranten innerhalb der EU aufmerksam machen sowie gleichzeitig die Europäer an ihren ureigenen demokratischen Idealen packen.


Plakat der Gruppe 'Voix des Migrants' mit der Aufschrift 'Schluß mit den Morden an Migrant-innen!!' - Foto: © 2016 by Schattenblick

Von der Konferenz geht eine eindeutige Botschaft aus
Foto: © 2016 by Schattenblick

Ein immer wiederkehrendes Thema der Konferenz war der systemische Export von Krieg und Instabilität durch die Industrieländer in die Länder des globalen Südens. Im Pressegespräch brachte Ali Ahmed von Lampedusa in Hamburg mit einem Satz die Sichtweise der Migranten auf den Punkt: Wenn die Europäer keine Kriegsflüchtlinge aus Asien und Afrika bei sich haben wollten, sollten sie und ihre nordamerikanischen NATO-Verbündeten endlich aufhören, in die Krisenregionen dieser Welt große Mengen Waffen zu verkaufen. Vielfach kritisiert wurde auch die kapitalistisch-neokolonialistische Ausbeutung, die nach Ansicht der Betroffenen neben Krieg die Hauptursache der Flucht aus den sogenannten Entwicklungsländern sei.


Zwölf Dolmetscher, die Kopfhörer tragen, sitzen an einem langen Tisch vor Mikrophonen - Foto: © 2016 by Schattenblick

Dolmetscher-Kollektiv BLA in Aktion
Foto: © 2016 by Schattenblick

Auf der Diskussion "Moving Beyond Welcoming - Deutsche Gesetzgebung und Kämpfe in Deutschland" hat Tahir Khair Khowa, der erst seit wenigen Monaten in Deutschland ist, mit der Vorführung eines bewegenden Kurzfilms über den Niedergang Afghanistans sämtliche Anwesenden im Kampnagel-Haupttheater in Rührung versetzt. Auf alten Schwarz-Weiß-Aufnahmen war zu sehen, wie modern Afghanistan einst war. Im sozialen Alltag - bei der Arbeit, an den Hochschulen, bei den Pfadfindern et cetera - verkehrten Männer und Frauen, Jungen und Mädchen miteinander. Viele Frauen trugen westliche Kleider. Zwar war das Kopftuch bei Frauen in den Dörfern noch gängig, doch auf keinem der Bilder war eine Burkha zu sehen. 1979 brach Afghanistans Weg in die Moderne durch den Aufstand der Mudschaheddin und den Einzug der Sowjets ab. Später folgten der Bürgerkrieg und die kurze Taliban-Herrschaft, die wiederum durch den Einmarsch der US-Streitkräfte im Oktober 2001 abgelöst wurde. Inzwischen dauert das Kriegschaos in Afghanistan fast vierzig Jahre. Ein Ende ist nicht in Sicht. Im Anschluß an die kurze Dokumentation entschuldigte sich Tahir bei seinem traumatisierten Publikum dafür, es mit solch deprimierenden Material konfrontiert zu haben. Dafür brachte er alle Anwesenden im Saal zum Lachen, als er das Argument der Großen Koalition in Berlin, in Afghanistan herrschten sichere Verhältnisse, die Asylsuchenden aus Afghanistan könne man mit guten Gewissen wieder dorthin abschieben, durch Bilder vom letzten Besuch Thomas de Maizières am Hindukusch widerlegte. Darauf war der amtierende deutsche Minister für Inneres mit Helm und kugelgesicherer Weste, Panzerwagen und einem Pulk ihn begleitender Soldaten und Polizisten zu sehen.


Sechs Musiker spielen auf der Bühne, während davor bereits getanzt wird - Foto: © 2016 by Schattenblick

Das große Abendkonzert geht los!
Foto: © 2016 by Schattenblick

Man diskutierte nicht nur auf der Konferenz. Es gab auch eine Rechtsberatung mit mehreren Anwälten für Flüchtlinge. Für das leibliche Wohl war auch gesorgt durch zwei Mensen, eine vegetarische und eine nicht-vegetarische, in denen Freiwillige die verschiedensten Leckereien - zum Beispiel zum Frühstück frisches Fladenbrot und hausgemachten Schokoladenaufstrich und am Abend Ratatouille bzw. Goulaschsuppe - servierten. Dank der finanziellen Unterstützung der Stiftungen Rosa Luxemburg, Robert Bosch und Gabriele Fink war alles, auch die Übernachtung in einem provisorischen "Hotel", kostenlos; um eine Spende wurde lediglich gebeten. In einem Kino liefen verschiedene Filme über die Flüchtlingsthematik. Am Samstagabend kam es im großen Theatersaal zu einem stundenlangen, rauschenden Afro-Beat-Konzert, bei dem man zum Schluß vor lauter Tänzern aus dem Publikum die Musiker auf der Bühne fast nicht ausmachen konnte. Ein besonderes Lob gebührt dem Dolmetscher-Kollektiv BLA, das bei den Panel-Diskussionen per Kopfhörer und Radio Simultanübersetzung in sieben Sprachen - Deutsch, Englisch, Französisch, Serbo-Kroatisch, Türkisch, Arabisch und Farsi - anbot. Die Flüchtlinge und Migranten können auf die von ihnen veranstaltete internationale Konferenz auf Kampnagel stolz sein. Sich selbst sowie den anwesenden EU-Ureineinwohnern gegenüber haben sie einen beeindruckenden Beweis dafür geliefert, wie sie das gesellschaftliche Leben auf dem "alten Kontinent" bereichern könnten, würden man es ihnen nur erlauben.


Auf dem Konferenz-Plakat prangt eine geschlossene Faust; dazu die Bildunterschrift 'Welcome everyone! We are happy that you are here!' - Foto: 2016 by Schattenblick

Flüchtlinge und Migranten nehmen die Herausforderung der deutschen Streitkultur an
Foto: 2016 by Schattenblick


5. März 2016


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