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BERICHT/241: Soziale Löcher - soziale Kompressen ... (SB)


Euphemismus Schuldenbremse

Scheibchenweise weggekürzt: soziale Einrichtungen in Hamburg

Veranstaltung der Hamburger Bürgerschaftsfraktion der Partei Die Linke am 30. Juni 2016 im Bürgerhaus Wilhelmsburg



C. Özdemir in Großaufnahme - Foto: © 2016 by Schattenblick

Cansu Özdemir, Fraktionsvorsitzende der Partei Die Linke in der Hamburgischen Bürgerschaft
Foto: © 2016 by Schattenblick

Kausale Verknüpfungen erweisen sich als trügerisch nicht selten gerade dann, wenn ihnen auf den ersten Blick eine gewisse Plausibilität nicht abzusprechen ist. Weit verbreitet ist die Annahme, daß Kürzungen im Bereich sozialer Ausgaben und sonstiger staatlicher Leistungen alternativlos seien in Zeiten wirtschaftlicher Krisen und deshalb auch sinkender Staatseinnahmen. Daß eine solche Lesart im Interesse all jener liegt, die von der Aufrechterhaltung der herrschenden Eigentums- und Verfügungsverhältnisse profitieren, liegt auf der Hand, läßt sich doch dieser Glaube respektive Irrglaube bestens zur Akzeptanzförderung auf der Seite derer instrumentalisieren, die die Gürtel nun noch enger als eng schnüren müssen.

Einem solchen Argumentationsstrang mit den besseren Argumenten entgegenzutreten und ihn ersatzlos zu kappen, ist allerdings so einfach nicht. Neben der Bereitschaft, den eigenen Blick überhaupt auf diese medial eher vernachlässigten Zusammenhänge und Fragestellungen zu richten, erweist sich ein gewisser Fundus an Detailkenntnissen und einer wissenschaftlichen wie auch aus der beruflichen Praxis stammenden Expertise als hilfreich. Dies umso mehr, wenn es gilt, die Gegenthese zu erhärten, daß in Zeiten zunehmender sozialer Nöte und eines deshalb auch massiv anwachsenden Bedarfs, um es einmal in der Sprache der sozialen Arbeit auszudrücken, die staatlichen Unterstützungsleistungen und Hilfsangebote systematisch und sukzessive zurückgefahren und zusammengestrichen werden, ohne daß es dafür eine finanzpolitische Notwendigkeit gäbe.

Diese bittere und das bundesrepublikanische Sozialstaatsprinzip ad absurdum führende Einschätzung war Ausgangspunkt einer Veranstaltung der Fraktion der Partei Die Linke in der Hamburgischen Bürgerschaft, die am 30. Juni im Bürgerhaus Wilhelmsburg stattfand. [1] Unter dem Titel "Scheibchenweise weggekürzt: soziale Einrichtungen in Hamburg" hatten sich auf Einladung der Fraktion und unter Moderation ihrer Vorsitzenden und sozialpolitischen Sprecherin Cansu Özdemir Menschen aus Wissenschaft, Verbänden und Einrichtungen der Sozialen Arbeit zusammengefunden, um ihre Erfahrungen bezüglich der konkreten Situation in Hamburg miteinander auszutauschen und die gesamte Problematik im Kreise der Interessierten, die an diesem Abend ins Wilhelmsburger Bürgerhaus gekommen waren, zu diskutieren. Zu den Referierenden gehörten Prof. Dr. Johannes Richter (Evangelische Hochschule für Soziale Arbeit & Diakonie), Joachim Speicher (Geschäftsführender Vorstand Der Paritätische Hamburg), Sieglinde Frieß (Fachbereichsleiterin ver.di Hamburg), Olaf Schweppe (Bürgerhaus Jenfeld) und Bettina Reuter (Beratungsstelle für Wohnungsnotfälle Altona).


Die Genannten nebeneinander am Podiumstisch sitzend - Foto: © 2016 by Schattenblick

Olaf Schweppe, Bettina Reuter, Cansu Özdemir, Sieglinde Frieß, Joachim Speicher und Prof. Dr. Johannes Richter (v.l.n.r.)
Foto: © 2016 by Schattenblick


Verheißung Stadtgesellschaft

Prof. Dr. Johannes Richter [2], der in der Evangelischen Hochschule für Soziale Arbeit & Diakonie in Hamburg die Erziehungswissenschaften vertritt, begann seinen Vortrag mit den Verheißungen einer Stadtgesellschaft. Stadtluft mache frei, so das mittelalterliche Motto, das den historischen Übergang der in Leibeigenschaft lebenden Menschen in die Stadtgesellschaft beschreibe. Sie mache aber nicht gleich, so Richter, was schon im Mittelalter gegolten habe, und sie mache in zunehmendem Maße sogar unfrei. Die bürgerliche Stadt sei eine soziale Utopie nicht nur im Klassensinne, sondern auch als bürgerschaftliches, kommunales Projekt, was sich insbesondere im 19. Jahrhundert im Zuge der Urbanisierung gezeigt habe.

Die Profession der sozialen Arbeit sei aus den vielfältigen Projekten bürgerlicher Sozialreformen jener Zeit hervorgegangen. Dieser Aufbruch des Bürgertums des 19. Jahrhunderts sei gekennzeichnet gewesen einerseits von einer moralisch konnotierten Verteufelung der Stadt als einem Sünden-Babel oder, ordnungspolitisch formuliert, von der Vorstellung der Stadt als einer Unruhestifterin, die die alte Ständeordnung aufzuweichen drohte. Zugleich habe es innerhalb des Bürgertums immer schon Bestrebungen gegeben, die sich entwickelnden Städte als eine Chance zu begreifen, ein friedliches gesellschaftliches Miteinander zu organisieren. Es wurden Stadtparks angelegt und soziale Projekte eingeleitet immer vor dem Hintergrund, in dieser Frühphase des Kapitalismus dessen Verwerfungen etwas entgegenzusetzen in der Absicht, die von der organisierten und erstarkenden Arbeiterschaft ausgehende - und vom Bürgertum auch so erlebte - Umsturzdrohung zu entschärfen.

Nicht ohne Grund gelten ländliche Regionen noch heute als strukturschwach. Häufig ist die Stadt für die Menschen, die in sie zogen - die heutigen Geflohenen inklusive - eine unerfüllte Hoffnung geblieben. Das ziehe sich wie ein roter Faden bis heute durch, die Recht-auf-Stadt-Bewegung knüpfe genau daran an. Es sei aber auch wichtig darauf hinzuweisen, so Prof. Richter, daß die Ordnungsvisionen, die gegen eine phantasierte Unordnung in Szene gesetzt wurden, wie sich anhand der Vorstellungen der Stadtplaner des 19. Jahrhunderts belegen lasse, immer auch drohten, ins Totalitäre zu kippen. Wer sich mit seinen Interessen bei der Gestaltung der Stadt durchsetzen kann und wer nicht, sei immer auch ein Machtaspekt gewesen.


Prof. Richter während seines Vortrags - Foto: © 2016 by Schattenblick

Prof. Dr. Johannes Richter
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Prof. Richter sprach von vier zentralen Herausforderungen, vor denen eine heutige Stadtgesellschaft steht: Segregationserscheinungen, die sich in Armut und insbesondere auch Kinderarmut sowie in der Bildungspolitik niederschlagen; Zuwanderung, die alle gesellschaftlichen Bereiche und die Angebote der sozialen Arbeit betrifft; dann die Raumverknappung, die der Referent als einen Euphemismus bezeichnete, da die Verteilung knappen Raums stets eine Machtfrage sei; und schließlich der schwindende Bürgersinn, also die lange Zeit auch im bürgerlichen Lager tief verankerte Vorstellung einer Stadtgesellschaft als einer solidarischen Gemeinschaft, die natürlich auch finanziell abgesichert werden müsse.

Die Stadt sei aus seiner Sicht nicht einfach nur ein umbauter Raum, sondern etwas Lebendiges mit einer über die Jahrhunderte hinweg durch Zuwanderung weiterentwickelten Kultur. Prof. Richter sprach sich gegen die bis heute fortdauernde Tendenz aus, den städtischen Raum als eine Art Container aufzufassen, der abgeschlossen sei und gegen das urwüchsige soziale Leben abgegrenzt werden müsse. Zu den sozialen Einrichtungen erklärte er, daß sich bei ihnen, wenn vom Bedarf und nicht von Bedürfnissen die Rede sei, eine bestimmte administrative Art zu denken niederschlage, womit er an seinen emeritierten Kollegen Timm Kunstreich anknüpfte. [3]

Einrichtungen der offenen Kinder- und Jugendarbeit [4], die häufig unter steuerungspolitischen Gesichtspunkten skandalisiert werden so nach dem Motto: was machen die da eigentlich? stünden tatsächlich vor neuen Herausforderungen und müßten neu überdacht werden, ohne daß sie sich von den profunden Erfahrungen der sozialen Arbeit abkoppeln sollten. Es müsse offene soziale Einrichtungen geben, wozu auch die ambulante Sozialpsychiatrie gehöre, so Prof. Richter. Transversalität müsse berücksichtigt werden, also daß Menschen nicht von vornherein in behinderte oder nicht-behinderte, ältere oder jüngere etc. sortiert werden. Und die Einrichtungen müßten aneignungsoffen sein, d.h. sie müssen von den Menschen, für die sie gedacht sind, angenommen werden können. Wichtig sei in jedem Fall, daß die offenen Einrichtungen das eigene Handeln und dessen Wirkungen kritisch in den Blick nehmen, doch selbstverständlich nicht in der Steuerungslogik, die die städtischen Kämmerer der sozialen Arbeit aufzuzwingen versuchen.


C. Özdemir, S. Frieß, J. Speicher und Prof. Richter, der gestikulierend spricht, rechts ein Plakat 'DIE LINKE. Fraktion in der Hamburgischen Bürgerschaft' - Foto: © 2016 by Schattenblick

Die Profession soziale Arbeit darf die Kürzungspolitik nicht flankieren
Foto: © 2016 by Schattenblick

Zur Förderung gesellschaftspolitischer Verantwortung erklärte der Referent, daß es wenig bringe, sich gegenseitig den Schwarzen Peter zuzuschieben. Die soziale Arbeit dürfe das scheibchenweise Wegkürzen durch die Kommunalpolitik weder flankieren noch legitimieren. Wenn 25 Prozent der Arbeitszeit darauf verwendet werden müssen, Anträge zu schreiben und Formulare auszufüllen, führe das dazu, die Finanzierungsmöglichkeiten so zu verkomplizieren, daß sie zum Teil gar nicht mehr in Anspruch genommen werden. In einem Ausschußbericht hieß es dazu vor kurzem in der Stellungnahme eines Senatsvertreters, daß laut aktuellem Rechnungshofsbericht nicht der Vorwurf des Wegkürzens zuträfe, sondern der umgekehrte Vorwurf gemacht werden könne, nämlich daß man es in Hamburg mit einer sehr inhaltlich orientierten Bewilligungspraxis zu tun habe und durchaus mehr Kontrollmechanismen vorstellbar wären.

Bei einer solchen, die Inhalte der sozialen Arbeit betreffenden Frage stehen wir als Profession, so Prof. Richter, in der Pflicht, erklärbar zu machen, warum zum Beispiel ein offenes Angebot für Menschen mit psychischen Problemen keine Wirkungen erzielen kann, die mit Kennzahlen unterlegt werden könnten. Er unterstütze voll und ganz die Forderung nach mehr offenen Räumen, was natürlich auch ein rechtliches Problem sei, weil da umgesteuert werden müsse. Da werde sich in Zukunft sicherlich etwas ändern, doch ob es sich tatsächlich zum Guten wende oder die Entwicklung doch wieder steuerungspolitisch vereinnahmt werde, sei eine noch offene Frage.

Cansu Özdemir ergänzte zu dem von Prof. Richter erwähnten Bericht, daß es im Mai eine Ausschußsitzung gegeben hat, in der die Große Anfrage ihrer Partei zur sozialen Infrastruktur in Hamburg behandelt wurde, und las - so ein bißchen zur Provokation, wie sie sagte - aus besagtem Bericht folgendes Zitat vor: "Die Abgeordneten der SPD-Fraktion äußerten, daß sie kein Ausbluten der sozialen Infrastruktur in den Bezirken sehen würden, sondern im Gegenteil eine Stärkung der Kinder- und Familienangebote, und zwar dort, wo es notwendig sei." Desweiteren habe dort gestanden, daß man einen Antragsdschungel, wie von der Linksfraktion geltend gemacht, nicht habe bestätigen können, schließlich seien auf der Webseite der zuständigen Behörde [5] sämtliche Förderprogramme, Antragsformulare und Ansprechpartner zu finden.


J. Speicher im Porträt - Foto: © 2016 by Schattenblick

Joachim Speicher
Foto: © 2016 by Schattenblick


Per Durchschnittseinkommen in die Altersarmut

Als nächstes ergriff Joachim Speicher das Wort. Er ist seit 2009 Geschäftsführender Vorstand des Paritätischen Wohlfahrtsverbandes in Hamburg, der sich als "Solidargemeinschaft unterschiedlichster und eigenständiger Initiativen, Organisationen, Einrichtungen und Verbände, die das breite Spektrum sozialer Arbeit repräsentieren", versteht. [6] Unser Verband werde sehr stark kritisiert, weil wir in bezug auf die Frage, was Armut sei, den relativen Armutsbegriff verwenden, erklärte er zum Einstieg in seinen Vortrag. Häufig werde die absolute Armut, also daß Menschen erfrieren oder verhungern und kaum eine Möglichkeit haben, überhaupt ihr Leben aufrechtzuerhalten, benutzt. Ein solches Armutsverständnis sei unter Menschen aus der Nachkriegsgeneration, die das noch selbst erlebt haben, häufig anzutreffen.

Der Paritätische Wohlfahrtsverband verwende allerdings den europaweit definierten relativen Armutsbegriff. Dieser werde in Deutschland über die sogenannte Einkommensverbrauchsstatistik errechnet. Bei dieser statistischen Methode werden 60.000 Menschen in ganz Deutschland per Zufallsprinzip ausgewählt und sind verpflichtet, ihre Einkommens- und Verbrauchssituation haargenau aufzuschreiben. Das gelte dann als repräsentativ. Auf dieser Basis wird ein Durchschnittseinkommen errechnet, von dem 60 Prozent als Armutsgefährdungsquote gelten. In Hamburg liege diese Zahl bei einem Einzelhaushalt zur Zeit bei knapp 960 Euro. Zwischen 15 und 16 Prozent lebten in der Stadt an der Armutsschwelle, was bei einer Gesamtbevölkerung von 1,8 Millionen bei 15 Prozent 270.000 Menschen seien.

Solche Zahlen sagten noch nichts darüber aus, auf welche Gruppen sich diese Armut verteilt. Da tauchten dann drei Gruppen auf: Die erste betrifft die Kinder, was für eine Stadt wie Hamburg und eine Gesellschaft wie die bundesdeutsche schlichtweg eine Katastrophe sei. Den offiziellen Zahlen zufolge liege die Zahl der Kinder, die in Haushalten an oder unter der Armutsschwelle leben, etwa bei 50.000. Rechnet man die Dunkelziffer hinzu, gelten nach offiziellen Definition der OECD, der EU - auch der EU-Kommission - und der deutschen Behörden 70.000 Kinder als arm. Die nächste Gruppe sind die Alleinerziehenden mit Kindern, in der Regel Frauen mit Kindern unter 14 Jahren, die in sehr großer Zahl armutsbedroht sind.

Die dritte Gruppe sind die sogenannten Altersarmen, für Hamburg ebenfalls eine Katastrophe, die aber nicht über uns hereingebrochen sei, sondern die man sich spätestens seit der Einführung der Agenda 2010 ausrechnen konnte. Wir haben nur sehr gerne darüber hinweggesehen, so Speicher. Altersarme sind Menschen ab 65, die in die sogenannte Grundsicherung kommen, weil ihre Rente nicht ausreicht, um über die Armuts- bzw. die Hartz-IV-Grenze zu kommen. Das wird Grundsicherung genannt, weil die Betroffenen das eher hinnehmen würden, als wenn sie von Hartz IV für Alte oder von Sozialhilfe leben müßten. Diese Zahl liege in Hamburg am höchsten in ganz Deutschland, nämlich bei 6,5 Prozent. Doch es werde noch schlimmer kommen, denn wir könnten uns heute schon ausrechnen, wie diese Zahl von Jahr zu Jahr weiter steigen wird.

Menschen, die heute schon im sogenannten Hartz-IV-Bezug stehen, aus dem sie nicht mehr herauskommen, wechseln, sobald sie 65 werden, automatisch in die Grundsicherung. Davon seien Frauen besonders stark betroffen in einer Stadt wie Hamburg mit einer hohen Quote an Single-Haushalten. Ihre Renten reichten nicht einmal mehr aus, um über die Hartz-IV-Schwelle zu kommen. Man mag es ja gar nicht laut sagen, aber in Deutschland sei es so, daß die sogenannte Hartz-IV-Schwelle unterhalb der Armutsschwelle liegt. In Hamburg könnten 23- bis 24.000 Menschen von ihrer Rente nicht leben.

Mit der Einführung der Agenda 2010 wurde die Absenkung des Rentenniveaus von seinerzeit 57 auf bis zu 43 Prozent beschlossen. Das sei ein sehr geschickt gemachtes Gesetz, weil es die Rentenkürzungen in die Zukunft verlagert, was die meisten Menschen, die heute sehen müssen, wie sie über die Runden kommen, nicht interessiere. Die durchschnittliche Rente betrage in Deutschland nur 960 Euro - in Hamburg wie gesagt die Armutsschwelle bei Einzelhaushalten. Nun könne man einwenden, daß die Durchschnittsrente nicht aussagekräftig sei, weil in ihr neben Geringverdienenden auch Gutverdienende enthalten wären. Aus solchen Gründen sei der Eck- oder Standardrentner erfunden worden, von dem angenommen wird, daß er 45 Jahre lang ununterbrochen gearbeitet und mit einem Durchschnittseinkommen in Rente gegangen ist, die dann mit knapp 1260 Euro nicht sonderlich hoch liegt. Wegen all dieser Regelungen und Gesetze könnten die Statistiker heute schon auf den Tag genau ausrechnen, wann die Rente unter die Armutsschwelle fällt, und zwar auch für alle mit einem Durchschnittseinkommen. Die Frage sei, wie man dem entgegentreten könne und was das alles für Hamburg bedeutet.


J. Speicher spricht - Foto: © 2016 by Schattenblick

Hamburg - Armut in einer als reich geltenden Stadt
Foto: © 2016 by Schattenblick

Es werde natürlich, auch von Verbandsseite, versucht, auf die Bundespolitik Einfluß zu nehmen. Die Kollegen vom Sozialverband Deutschland e.V. sagen, wir brauchen eine neue Rentenreform und müssen mindestens zurück zu einem Rentenniveau von 50 Prozent. Die Idee bei der Riesterreform war ja, die Alterversorgung auf zwei Säulen zu stellen, also die - stark gekürzten - Renten durch Bezüge aus der betrieblichen Alterversorgung und aus privater Versicherung (Riester-Rente) aufzustocken. Doch wie gut funktioniert das, wenn auch in vielen Betrieben die Betriebsrenten weggekürzt werden? Und wie sollen diejenigen, die mit ihrem Lohn vorher schon nicht mehr über die Runden kommen, noch in die Vorsorge gehen können?

Nicht nur auf Bundesebene, auch für Hamburg gelte es, Stellung zu beziehen. Der Paritätische Wohlfahrtsverband habe festgestellt, daß wir sowohl bei den Alleinerziehenden wie auch den Altersarmen überhaupt nicht wüßten, wo sie leben und in welchen Stadtteilen es an welcher Infrastruktur fehle. Er kenne viele "altersarme" Menschen, so Speicher, die sich in Grund und Boden schämten, weil sie sich überhaupt nichts mehr leisten können und dann noch nicht einmal die Grundsicherung beantragten. Was tut die Stadt für diese Menschen? Gibt sie ihnen kostenlose Möglichkeiten zu Begegnungen, Mobilität und kultureller Teilhabe? Nein, lautete die Antwort des Referenten. Es sei sogar so, daß solche Begegnungsstätten zurückgefahren werden, und möglicherweise befinden sich die Angebote noch nicht einmal an den Orten, an denen die größten Gruppen Altersarmer leben.

Deshalb schlägt der Referent die Einrichtung einer unabhängigen Enquete-Kommission vor, die herausfinden solle, wo genau in Hamburg welche Gruppen von Armutsbetroffenen leben und wie es in den einzelnen Stadtteilen um die soziale Infrastruktur bestellt ist. In Steilshoop beispielsweise lebe ein sehr hoher Anteil alleinerziehender Frauen. Um sie auf dem Arbeitsmarkt, der ja angeblich boomt, unterzubringen, müßte für die Betreuung ihrer Kinder gesorgt sein. Tatsächlich habe sich jedoch herausgestellt, daß die Dichte der Kitas in Steilshoop geringer ist als beispielsweise in Duvenstedt, wo durchaus auch bessergestellte Menschen leben. In Hamburg werde nach dem Gießkannenprinzip verfahren, was unbedingt geändert werden müsse, so das Schlußwort des Referenten.


S. Frieß während ihres Wortbeitrags - Foto: © 2016 by Schattenblick

Sieglinde Frieß
Foto: © 2016 by Schattenblick


Auch Beschäftigte stehen an der Armutsschwelle

Sieglinde Frieß, Fachbereichsleiterin Bund, Länder, Gemeinden bei ver.di Hamburg, referierte über die Lage der in der sozialen Arbeit Beschäftigten. Auch deren Einkünfte reichten oft nicht zum Leben. In der Politik herrsche die Grundeinschätzung vor, daß, wer soziale Arbeit mache, nicht viel zum Leben bräuchte. So wie mit Menschen in Not umgegangen werde, gehe man auch mit den Beschäftigten um, lautete ihre These. In einer Gesellschaft, in der ein Drittel der Menschen für überflüssig erklärt wird, wird sich nur insoweit um sie gekümmert, daß sie nicht aufständisch werden.

In Hamburg begannen der damalige SPD-Senat und die Bürgerschaft 1992 mit einem großen Sparprogramm, weil es angeblich wichtig sei, dem freien Markt seinen Lauf zu lassen. Das hatte immense Auswirkungen auf die Angebote der sozialen Arbeit. Beratungsstellen wurden zurückgefahren immer dort, wo es am wenigsten Widerstand gab. Die soziale Arbeit wurde in ein wirtschaftliches System umgebaut, in denen alles "getaktet" werden muß, verbunden mit dem Zwang, noch mehr Kontrolle auszuüben. Anfang 2000 wurde mit der Nichtausfinanzierung der Tarife begonnen. Die Einrichtungen wurden nicht direkt geschlossen, weil das zuviel Ärger gegeben hätte. Die Budgetierung wurde damit begründet, daß die Stadt aufgrund der Schuldenbremse sparen und deshalb die Einrichtungen zwingen müsse, wirtschaftlich zu arbeiten.


O. Schweppe in Großaufnahme - Foto: © 2016 by Schattenblick

Olaf Schweppe
Foto: © 2016 by Schattenblick


In den Bürgerhäusern reicht es vorne und hinten nicht

Olaf Schweppe leitet seit 2010 das Bürgerhaus Jenfeld. [7] Es ist ein Ort der Kultur, Begegnung und Kommunikation im Osten Hamburgs und wird vom Bezirksamt Wandsbek unterstützt. Für kulturelle Dinge sei nicht viel Geld da, so Schweppe. Der Laden sei, als er die Leitung übernahm, eigentlich pleite gewesen. Er habe sehr viele Mitarbeiter entlassen und sich viel Arbeit selbst aufgelastet. Mit Politik und Verwaltung in Wandsbek käme er nun ganz gut zurecht, das Haus hätte sogar eine Erhöhung der Zuwendung bekommen. Dennoch reiche es bei weitem nicht. Viele Aufgaben könnten nicht erfüllt werden, weil er sich um den Eigenfinanzierungsanteil kümmern müsse. Rund 35.000 Euro müsse das Haus nur durch die Vermietung von Räumen einnehmen.

Der Leiter des Jenfelder Hauses brachte die Sprache auch auf die anderen Bürgerhäuser, in denen die Situation oft noch viel schlechter sei. Da werde, unter den gegebenen Bedingungen, eine hervorragende Arbeit gemacht mit viel zu wenig Personal - und das gehe nur zu Lasten der Gesundheit der Beschäftigten.


B. Reuter berichtet - Foto: © 2016 by Schattenblick

Bettina Reuter
Foto: © 2016 by Schattenblick


Von wegen Schuldenbremse ...

Bettina Reuter [8] berichtete von ihrer Arbeit in der Beratungsstelle für Wohnungslose in Altona, die 1984 die erste ihrer Art war. [9] Inzwischen gäbe es solche Beratungsstellen in jedem Bezirk der Stadt. Die Beratungsstelle Altona hat einen freien Träger, den Verein Ambulante Hilfe Hamburg e.V., der zur Diakonie Hamburg gehört. Ihre Arbeit macht sie im Auftrag der Stadt, sie wird durch Zuwendungen der Sozialbehörde finanziert. Doch seit 2012 erhalte sie wegen der Schuldenbremse nur noch eine sogenannte eingefrorene Zuwendungssumme. Das bedeutet, daß alle Preissteigerungen, die es seitdem gab, von der Sozialbehörde nicht akzeptiert und nicht refinanziert werden - egal, ob es nun Mieterhöhungen oder steigende Strompreise sind. Die Beratungsstelle ist gezwungen, mit ihrem Budget auszukommen, was einfach überhaupt nicht möglich sei, denn schon vor der Schuldenbremse seien die finanziellen Mittel sehr knapp gewesen.

Ihre Einrichtung, so Bettina Reuter, habe das Problem einer Jahr für Jahr größer werdenden Lücke im Personalkostenbereich, doch auch im Sachkostenbereich gäbe es bereits eine große Lücke. 2013, bei einem Gespräch mit dem Zuwendungsverantwortlichen der Sozialbehörde, sei ihnen klar gemacht worden, daß sie überhaupt nichts zu verlangen und zu fordern hätten. Es wurde ihnen vorgeschlagen, doch 'mal einen Flohmarkt zu machen, um Einnahmen zu erzielen. Doch wie Frau Reuter erklärte, könnten sie in der Beratungsstelle überhaupt keine Einnahmen erzielen, da sei nichts zu holen. Es gäbe keine freien Räume, nicht einmal eine Besenkammer, die untervermietet werden könnten. Nicht ohne Erfolg hätten sie Spenden gesammelt, doch das sei eine sehr unsichere Sache. Brächen die eines Tages weg, müßten sie dichtmachen.

2014 habe die Sozialbehörde ihnen vorgeschlagen, eine halbe Stelle zu streichen und nur noch viereinhalb Sozialarbeiter zu beschäftigen. Das bedeutete, daß noch weniger Sprechstunden angeboten werden konnten. Aber die Hilfesuchenden blieben ja nicht weg, schilderte die Referentin die Situation. Die werden sogar immer mehr, weil es immer mehr soziale Problem gibt. Wir müssen sie teilweise wegschicken, weil wir die Zeit und die Kapazitäten einfach nicht mehr haben. 2015 wurde uns die halbe Stelle wieder bewilligt, inzwischen konnten wir sie auch wieder besetzen. Im Moment kommen wir schon irgendwie klar. Doch weshalb wir wirklich auf dem Zahnfleisch gehen, so das eindringliche Fazit der Altonaer Sozialarbeiterin, sind die äußeren Umstände, die es erforderlich machen, daß wir für so viele Menschen diese Hilfen bereitstellen müssen.


Blick aufs Bürgerhaus, davor der Bürgerhausteich - Foto: © 2016 by Schattenblick

Bürgerhäuser - wie hier in Wilhelmsburg - durch Hamburger Kürzungspolitik in Gefahr
Foto: © 2016 by Schattenblick


Fußnoten:

[1] Siehe den Auftaktbericht zu der Veranstaltung im Schattenblick unter
www.schattenblick.de → INFOPOOL → POLITIK → REPORT:
BERICHT/240: Soziale Löcher - da hilft auch keine Naht ... (SB)

[2] Siehe auch das Interview mit Prof. Dr. Johannes Richter im Schattenblick unter
www.schattenblick.de → INFOPOOL → POLITIK → REPORT:
INTERVIEW/320: Soziale Löcher - meistbietend verkauft ...    Johannes Richter im Gespräch (SB)

[3] Siehe auch das Interview mit Prof. Dr. Timm Kunstreich anläßlich des 8. Bundeskongresses Soziale Arbeit vom 13. bis 15. September 2012 in Hamburg im Schattenblick unter:
www.schattenblick.de → INFOPOOL → SOZIAL → REPORT:
INTERVIEW/008: Quo vadis Sozialarbeit? - ... aber zusammen (SB)

[4] Zur Situation der Offenen Kinder- und Jugendarbeit in Hamburg 2012 siehe die Interviews mit Ralf Helling, Heike Lütkehus und Thomas Kühl im Schattenblick unter:
www.schattenblick.de → INFOPOOL → SOZIAL → REPORT:
INTERVIEW/005: Quo vadis Sozialarbeit? - Sparen, kürzen und ersticken ... (SB)
INTERVIEW/009: Quo vadis Sozialarbeit? - Kontrollvorwände (SB)

[5] Behörde für Arbeit, Soziales, Familie, Integration Hamburg (BASFI) - www.hamburg.de/basfi/

[6] http://www.paritaet-hamburg.de/verband/wir-ueber-uns/selbstverstaendnis.html

[7] http://www.jenfeld-haus.de/index.php?id=9

[8] Siehe auch das Interview mit Bettina Reuter im Schattenblick unter
www.schattenblick.de → INFOPOOL → POLITIK → REPORT:
INTERVIEW/319: Soziale Löcher - privat initiativ, Staatshilfe schief ...    Bettina Reuter im Gespräch (SB)

[9] http://www.wohnungslose.de/index.php?cat=BS%20Altona


Weitere Beiträge zur Veranstaltung "Scheibchenweise weggekürzt: soziale Einrichtungen in Hamburg" im Schattenblick unter
www.schattenblick.de → INFOPOOL → POLITIK → REPORT:

BERICHT/240: Soziale Löcher - da hilft auch keine Naht ... (SB)
INTERVIEW/319: Soziale Löcher - privat initiativ, Staatshilfe schief ...    Bettina Reuter im Gespräch (SB)
INTERVIEW/320: Soziale Löcher - meistbietend verkauft ...    Johannes Richter im Gespräch (SB)


23. Juli 2016


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