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BERICHT/282: Gegenwartskapitalismus - frühes Wissen ... (SB)



Krieg als notwendigen Bestandteil des menschlichen Gewalthaushaltes aufzufassen und seine Abwesenheit zur bloßen Utopie zu erklären, die Natur bis zum Kollaps auszubeuten und die Gesellschaft schutzlos den Verwertungsinteressen des Kapitals zu überantworten, funktioniert aus Sicht des Konzeptes der Jineologie nur, weil die Zivilgesellschaft und insbesondere die Frau von der politischen Mitgestaltung ausgegrenzt sind. Jineologie leitet sich aus dem Kurdischen etymologisch einerseits von Frau und andererseits aus der älteren Wortwurzel von Leben her ab. Jineologie als Wissenschaft von der Frau und dem Leben wird im Rahmen der kurdischen Befreiungsbewegung als Ausgangspunkt wie Resultat des Befreiungskampfes der Kurdinnen gegen Patriarchat, Klassenherrschaft und staatliche Gewalt propagiert.

Jineologie als Konzept und Doktrin ist weniger als eine Dekade alt und noch ohne festes Theoriegebäude. Die Wissenschaft von der Frau, so verstanden in der kurdischen Freiheitsbewegung, steckt quasi in einer frühen Entwicklungsphase und ließe sich, wollte man eine Zuordnung vornehmen, irgendwo zwischen Soziologie und Sozialismus ansiedeln. Unverrückbar im Zentrum steht die Aufhebung patriarchaler und kapitalistischer Gesellschaftsstrukturen. Kraft und Ideenreichtum schöpft sie primär aus den Erfahrungen der Frauenfreiheitspartei Kurdistans (PAJK). Dennoch geht die Jineologie über eine bloße Anbindung an eine Parteiideologie oder eine zeitgemäße Modernisierung kurdischer Kultur- und Traditionswerte hinaus.

Der in den Kurdengebieten gelebten und institutionell geförderten Praxis einer Zentrierung der Frau auf allen gesellschaftlichen und politischen Ebenen eine Theorie auf wissenschaftlicher Grundlage zu geben, dürfte den Kern der Jineologie noch am besten treffen. Sie ist bestrebt, Methoden zur Überwindung aller Gesellschaftsstrukturen zu entwickeln, die auf der Herrschaft des Mannes über die Frau basieren und zugleich die Grundbausteine der kapitalistischen Moderne bilden. Eingeschlossen in die Kritik am Patriarchat ist das kurdisch tradierte Rollendiktat in Ehe und Familie ebenso wie das aus dem Westen importierte Emanzipationsverständnis, dessen liberale Akzente mitunter nicht über den Horizont der Partizipation am kapitalistischen Normalbetrieb hinausreichen. Die Jineologie steht damit der sozialistischen Gesellschaftskritik näher als der rein soziologischen Forschung.

Angesichts der Solidarität, mit der große Teile der westlich orientierten Linken den Kampf der kurdischen Befreiungsbewegung begleiten, ist die Auseinandersetzung mit ihren politischen und ideologischen Grundlagen, wie auf der Konferenz in Hamburg geschehen, nicht nur notwendig, sondern auch begrüßenswert. Wie auch immer die Bewertung im einzelnen ausfällt, kann die Debatte zu ihrer zwar von spezifischen Bedingungen bestimmten, zugleich aber universalen emanzipatorische Zielen verpflichteten Entwicklung für linke Bewegungen in aller Welt eigentlich nur produktiv sein.


Aufgenähte Wortteile JINE-OLO-JI - Fotos: © 2017 by Schattenblick Aufgenähte Wortteile JINE-OLO-JI - Fotos: © 2017 by Schattenblick Aufgenähte Wortteile JINE-OLO-JI - Fotos: © 2017 by Schattenblick

Fotos: © 2017 by Schattenblick

Eine Soziologie der Freiheit schaffen

Auf der Konferenz Die kapitalistische Moderne herausfordern III, die vom 14. bis 16. April an der Universität Hamburg stattfand, spielte die Wissenschaft von der Frau eine große Rolle, fand sich doch auf fast jedem Podium eine Referentin, die etwas dazu beizutragen hatte. Einen Einstieg in das Thema vermittelte die Kovorsitzende des Exekutivrates der Demokratischen Föderation Nordsyrien, Fawza Yusuf, in einem ebenfalls auf der Konferenz abgehaltenen Jineologie-Workshop.

In ihrem vom Kurdischen ins Englische übertragenen Vortrag betonte sie die spirituelle Dimension der Krise der kapitalistischen Moderne. Gerade weil diese mentale und kognitive Konstrukte einsetze, um ein verzerrtes Bild der Wirklichkeit zu propagieren, müsse die Befreiung der Gesellschaft von den Imperativen der Macht auch dort beginnen. Kritik könne sich nicht auf die politische Ökonomie des Kapitalismus beschränken, denn die von diesem System okkupierten Wissenschaften führten dazu, daß die Gesellschaft in kleinste Teile partikularisiert werde, was insbesondere die Kontrolle des Individuums verstärke. Positivistische Wissenschaften, in denen die Verbindung zwischen Philosophie und Ethik verlorengegangen sei, beeinflußten alle Bereiche des Lebens mit ihrem patriarchalen Mindset, der denn auch eine große Krise der Philosophie verursache. Eine Reinterpretation der Metaphysik, so die Referentin, sei notwendig, um den ökonomischen Reduktionismus zu überwinden und einen vollständigeren Blick auf die Gesellschaft und ihre Erfordernisse zu entwickeln. Dabei gehe es nicht um Religion, sondern um ein menschliches Grundbedürfnis.


Am Rednerpult - Foto: © 2017 by Schattenblick

Fawza Yusuf im Jineologie-Workshop
Foto: © 2017 by Schattenblick

Yusuf hob zudem die Bedeutung gesellschaftlicher Subjektivität hervor, würden Frauen als auch die Wissenschaften im hegemonialen Positivismus doch stets als Objekte behandelt. Diese hierarchische Aufteilung verschärfe die bereits bestehenden Probleme, weshalb es einer neuen Herangehensweise, eines neuen Paradigmas, einer Soziologie der Freiheit, die auch geistige Dispositionen einschließe, bedürfe. Jineologie und die in diesem Kontext vollzogene Reinterpretation der Sozialwissenschaften stelle für sie dieses Paradigma dar.

Tatsächlich, so die kurdische Aktivistin und Politikerin, existiere keine klare Trennung zwischen der geistigen und materiellen Welt, kein Wesen sei nur Subjekt oder Objekt, sondern immer beides. Wo dies nicht realisiert werde, komme es stets zu hierarchischen Aufspaltungen, aufgrund derer das eine unterworfen wird und das andere dominiert. Dementsprechend wichtig sei es, nicht nur analytische, sondern auch emotionale Intelligenz im Umgang mit Mensch, Natur und Gesellschaft zu entwickeln. Analytische Intelligenz könne nicht die alleinige Basis für wissenschaftliche Erkenntnis sein, und es sei, so die Referentin, eine der besten Ideen Öcalans, eine gesunde Balance zwischen emotionaler und analytischer Intelligenz herzustellen.

Jineologie, so Fawza Yusuf abschließend, sei nicht nur eine Aufgabe für Frauen, sondern eine Methode zur Verwirklichung eines freien Lebens in einer freien Gesellschaft, mit der sich jeder Mensch befassen sollte, also insbesondere auch Männer. Die Diskussionen um Jineologie würden erst seit wenigen Jahren, inspiriert durch Öcalans Soziologie der Freiheit, geführt und fänden in Rojava vor allem in den Frauenakademien statt. Dort werde demnächst auch eine Universität eröffnet, an der unter anderem Jineologie gelehrt werden soll.


Am Rednerpult - Foto: © 2017 by Schattenblick

Haskar Kirmizigül
Foto: © 2017 by Schattenblick

"Der Geist der demokratischen Zivilisation"

Als besonders engagierte Vertreterin für Jineologie trat Haskar Kirmizigül, seit 20 Jahren Aktivistin der kurdischen Befreiungsbewegung, auf der Konferenz hervor. Nach ihrem Studium im Fach Geschichte arbeitete sie als Journalistin bei der Frauenzeitschrift Sorgul im Libanon und bei Roj TV. Ausgehend von der Leitprämisse, daß alles, was Menschen geschaffen haben, durch Menschen wieder verändert werden kann, hielt sie einen Vortrag über die Wesensmerkmale der Jineologie im Kontext der Frauenfrage und ihrer Beziehung zur Modernität unter der Überschrift "Der Geist der demokratischen Zivilisation".

Ethik und Moral einer Gesellschaft zeigen sich Haskar Kirmizigül zufolge am prägnantesten in der Definition der Frau. Dieser von überkommenen als auch modern übertünchten patriarchalen Strukturen der Frau zugewiesene Stellenwert kreist in der Regel zwischen den Mühlsteinen einer biologistischen und ökonomischen Ausbeutung, zwischen Kinderaufzucht und billiger Arbeitskraft im kapitalistischen Produktionsbetrieb. Daß Männer seit jeher definiert haben, was eine Frau sei, wie viel sie zu leisten vermag und welche Rolle sie in der Gesellschaft zu spielen habe, steht nach Ansicht der Aktivistin in einem direkten Zusammenhang damit, daß Frauen in bestimmten Kulturen im Kindesalter verheiratet und überall auf der Welt sexuell ausgebeutet werden und jeden Tag mit Gewalt konfrontiert sind.

Die Definition der Frau spiegelt, wie versteckt oder offen auch immer im Getriebe herrschender Gewaltverhältnisse, stets patriarchale Herrschaftsansprüche wider. Ob revolutionäre Bewegungen oder auf Pluralismus und Menschenrechten beruhende Demokratien, das Versprechen, die Frauen vom patriarchalen Joch zu befreien, erweist sich häufig genug als rhetorisches Lippenbekenntnis oder wird dem Fernziel einer klassenlosen Gesellschaft nachgeordnet.

Der Aufruf der Kurdinnen - Die Freiheit der Frau ist die Freiheit der Gesellschaft - markiert einen Bruch mit allen Konventionen und politischen Verheißungen und stellt so gesehen einen Neuanfang dar. Die Revolution ist jetzt: Sie richtet sich gegen die Kolonialisierung des Menschen und die Herrschaft des kapitalistischen Systems, das in seiner Ausbeutungsprämisse keinen Unterschied zwischen Geschlecht, Rasse und Religion macht und Kulturen ebenso verschlingt wie die Ressourcen der Welt.

Da der Kapitalismus Begriffe mit suggestiven Inhalten befrachte und durch manipulative Kampagnen so weit verzerre, bis sie nur noch reine Marktinteressen widerspiegeln, müßten ideologisch verwendete Begriffe immer auf ihre gesellschaftliche Relevanz hin abgeklopft werden. Für Kirmizigül ist Modernität solch ein seine eigentlichen Intentionen verhüllender Begriff. Als Totschlagargument dient sie vor allem dazu, emanzipatorische Bewegungen, die sich dem Primat eines bedingungslosen Fortschrittsdenkens verweigern, als anachronistisch, im Kern fehlgeleitet oder schlicht im Gegensinn zur Moderne stehend zu diskreditieren.

Als Beispiel für den dogmatischen Umgang mit dieser Begrifflichkeit führte die Referentin zwei Jahreszahlen an: 500 v. Chr. und 500 n. Chr. Welchen Unterschied machen tausend Jahre? Der Fortgang der Zeit erweckt den Eindruck einer voranschreitenden positiven Entwicklung, aber in manchen Bereichen waren die Menschen des Altertums viel weiter in ihrem Denken und Handeln als die jener Epoche, als Europas Geschichte nicht mit der Feder, sondern mit dem Schwert geschrieben wurde. Dennoch wird stets so getan, als ob mit jedem Jahr auf dem Kalender zugleich auch die Kulturen und Gesellschaften der Menschen von einer niedrigeren zur nächsthöheren Stufe voranschreiten.

Modernität mit Fortschritt gleichzusetzen, ist aus Sicht Kirmizigüls jedoch ein Trugschluß. Solange die kapitalistische Moderne die Deutungsmacht über die Geschichte in Händen hält, gilt Fortschritt fast schon als eigendynamische Kraft. Zur Hinterfragung der mit dem Konstrukt der Modernität verwachsenen Verheißungen müsse Geschichte daher aus dem Griff ihrer Sachwalter befreit werden. Der Fokus müsse sich nicht nur auf die Zeitkomponente, sondern auch auf Umfang und Art der Veränderungen innerhalb einer historischen Epoche richten. In diesem Sinne fällt ein besonderes Augenmerk auf die Lebensweise der Menschen in den Strukturen, die Ethnologen als natürliche Gesellschaft bezeichnen: Wie haben sie damals gelebt, was hat ihren Zusammenhalt geprägt?


Am Rednerpult - Foto: © 2017 by Schattenblick

Haskar Kirmizigül im Jineologie-Workshop
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Grundthesen einer Soziologie der Freiheit

Eine über Kunst- und Kulturkritik hinausgehende Auseinandersetzung mit der Moderne hatte Abdullah Öcalan im Sinn, als er 2009 seine Grundthesen zur Soziologie der Freiheit verfaßte. Wie die Referentin anführte, habe weder Hoffnungslosigkeit noch bloße Skepsis an der Gegenwart ihn dazu inspiriert, sondern das Aufzeigen von Alternativkonzepten und Wegen mit neuer Zuversicht in die Zukunft. Öcalan hebt in seinem Entwurf zur demokratischen Moderne auf das Bild eines Flusses ab, der von altersher die Menschheitsgeschichte durchzogen habe, aber von den Mächtigen stets totgeschwiegen und aus dem Bewußtsein gedrängt wurde. So hätten die Sozialwissenschaften mit ihrer positivistischen Deutung der Moderne dazu beigetragen, Errungenschaften wie die kommunale Bewegung, die im wesentlichen auf das Wirken der Frauen zurückgeht, in der Forschung auszublenden. Überhaupt sei es der Referentin zufolge falsch, sozialistische oder nationale Befreiungsbewegungen bzw. Denkanstöße von Menschen, die Alternativen erprobt haben, separat voneinander zu betrachten. Das scheinbar Verschiedene sind für sie ungeachtet der Herkünfte und Motivationen alles Tropfen im Fluß der demokratischen Moderne. Erst so bekämen sie ihre unverwechselbare Farbe zurück.

In Praxis und Theorie richte sich die Jineologie gegen die dominierende Lesart der Zivilisationsgeschichte. Soziologie und Jineologie schließen sich demnach vor allem hinsichtlich der Rolle der Frauen in der Geschichte wie Feuer und Wasser aus. Die Frau als älteste Kolonie der Menschheitsgeschichte mußte mitansehen, wie ihr Beitrag zur Entwicklung der Gesellschaft vom Patriarchat okkupiert und bis zur Unkenntlichkeit verzerrt wurde. So gesehen sei die Geschichte der Frauen bis heute nicht geschrieben worden. Dieser Aufgabe habe sich die Jineologie angenommen. Kirmizigül zufolge sind erhebliche Teile der Historie anders verlaufen, als in den Geschichtsbüchern geschrieben steht. Die Gesellschaften von heute zehrten noch immer von den Kulturleistungen der Frauen, die einst in Führungspositionen saßen und die Geschicke der Menschheit geleitet hatten.

Von der Methodologie der dominierenden Sozialwissenschaften trenne die Jineologie demnach die radikale Rückbesinnung auf die den Frauen vom Patriarchat geraubten und mißbrauchten Kulturwerte. Diese müßten wieder der Gesellschaft zugute kommen und nicht nur den Nutznießern der auf Ausbeutung abonnierten kapitalistischen Produktionsweise. Kirmizigül unterstrich mit Nachdruck, daß es keineswegs darum gehe, die Geschichte lediglich aus der Perspektive von Frauen umzuschreiben. Im Schulterschluß mit einer kritischen Sozialwissenschaft sollen vielmehr die Elemente der demokratischen Moderne zum Wohle der gesamten Menschheit wieder ihre einstige Gültigkeit bekommen. Spuren davon seien in der kurdischen Freiheitsbewegung wie auch in den Gebieten, wo Kurden leben, unabhängig von der jeweiligen Religions- oder Stammeszugehörigkeit, durch alle Verwüstungen und Manipulationen hinweg bis auf den heutigen Tag erhalten geblieben. So bete eine sunnitische, alevitische oder schiitische Frau am Morgen nach wie vor die Sonne an, wenn sie aus der Tür tritt, auch wenn die Bedeutung dessen für Menschen aus dem Westen schwer nachvollziehbar ist.


Podium mit Haskar Kirmizigül - Foto: © 2017 by Schattenblick

Panel "Jenseits des Staates: Alternativen denken und aufbauen"
Foto: © 2017 by Schattenblick

Bis vor einem Jahrzehnt haben die Leute in Rojava auf dem Land noch kommunal zusammengearbeitet, und nach wie vor werden in Kurdistan wichtige Entscheidungen in den Ältestenräten diskutiert. Dies sei ein weiterer Beleg dafür, daß der kohärente Kern der natürlichen Gesellschaft durch die kapitalistische Moderne nicht komplett zerstört wurde. Die Jineologie erfinde demzufolge keine Konzepte aus dem Nichts heraus, sondern greife auf das Echo von Erinnerungen zurück, die in der kurdischen Bevölkerung ihre Spuren hinterlassen haben. Diese Reminiszenzen auf der Basis soziologischer Analyse und Diskursivität aus den patriarchalen Fängen herauszulösen biete die Gewähr, die mißverstanden interpretierte Kultur der Frauen im Kontext von Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft wieder zum Leitmotiv für jede Art von emanzipatorischer Praxis zu machen.

Ziel der Jineologie sei, die Frau in den Fokus der Gesellschaft zu rücken, weil sie selbst unter dem schwersten Joch in der Lage war, entwickelte Strukturen des zivilen Miteinanders aufzubauen. Die Frau sei die Ehre und das Gewissen sowohl der Dorfgemeinschaften als auch in den städtischen Kommunen gewesen. Solange Ehefrau, Mutter und Tanten chauvinistischen Allmachtsphantasien in den Familien- und Sippenverbänden Einhalt boten, seien Korruption, ungerechte Verfolgung und die Pein erniedrigender Rücksichtslosigkeiten gegenüber Waisen und Witwen als auch Auswüchse von Armut, wie sie im Kapitalismus gang und gäbe sind, nicht möglich gewesen.

Die Aktivistinnen der Jineologie seien, eben weil sie der Frau einen hohen gesellschaftlichen Wert beimessen und damit gleichermaßen den Männlichkeitskult wie auch die auf der Geschlechterkonkurrenz aufbauenden Privilegien in Frage stellen, das wiederholte Angriffsziel für Repressionen seitens des kapitalistischen Systems. Daß der Feind immer auf der anderen Seite des Widerspruchs steht, ist Inbegriff der Dialektik. Kein Ausbeuter predigt Humanität oder die Gleichrangigkeit von Mann und Frau. Beklagenswert aus Sicht der Referentin ist jedoch, daß selbst oppositionelle und linke Bewegungen oftmals Männerdomänen blieben. Dabei spielten in der Geschichte aller revolutionären und nationalen Befreiungsbewegungen, ob in der Pariser Kommune, in den lateinamerikanischen Erhebungen oder beim Sturz des feudalen Zarenreichs durch die russische Revolution, Frauen immer eine wichtige Rolle. Dennoch hätten sie dafür nie die nötige Anerkennung oder Wertschätzung erhalten. Wer diese Art der Unterschlagung geringfügig oder mit Verweis auf größere Ziele nebensächlich nennt, mache sich wie ungewollt auch immer zum Komplizen des Systems.


Ausstellung zu kurdischen Frauenaktivitäten - Fotos: © 2017 by Schattenblick Ausstellung zu kurdischen Frauenaktivitäten - Fotos: © 2017 by Schattenblick

Fotos: © 2017 by Schattenblick


Ausstellung zu kurdischen Frauenaktivitäten - Fotos: © 2017 by Schattenblick Ausstellung zu kurdischen Frauenaktivitäten - Fotos: © 2017 by Schattenblick

Fotos: © 2017 by Schattenblick

Aufbau eines konkreten Gegenentwurfs

Seit jeher gehöre zur Ideologie der Herrschenden, ihre Macht dadurch zu festigen, daß sie das Sozialgefüge und damit die organisatorische Verteilung von Rechten und Pflichten einer strikten Hierarchie unterwerfen. Das ehernste Kettenglied im Getriebe der Herrschaftssicherung sei dabei das Verhältnis von Mann und Frau. Nicht von ungefähr erkenne der Marxismus darin die Elementarform des Eigentums. Eine revolutionäre Bewegung müsse gegen jede Form der Denunziation gewappnet sein. In erster Linie bedeute dies, das reaktionäre Denken in den eigenen Reihen aufzudecken und restlos zu beseitigen. Hinter den Attacken der kapitalistischen Moderne auf Frauenbewegungen, ob die Anti-Abtreibungsbewegung in Polen 2016 oder der im November letzten Jahres in der Türkei vorgelegte Gesetzesentwurf, demzufolge Vergewaltigern Straffreiheit zugesichert wird, wenn sie die Frau, an der sie sich vergangen haben, heiraten, steckt nach Ansicht Kirmizigüls die Strategie, den politischen Widerstand gegen die kapitalistische Moderne insgesamt durch gezielte Schläge und Spaltungsversuche zu schwächen. Deswegen dürfe man die einzelnen Phänomene nicht losgelöst voneinander analysieren, sondern müsse das sie verbindende Motiv einer strengen aufklärerischen Kritik unterziehen.

Gerade weil Frauen in der Vergangenheit das primäre Subjekt und die Architekten der demokratischen Moderne waren, galt der Angriff des vorherrschenden patriarchalischen Systems zuallererst ihnen. Beispiele dafür seien die Hexenverfolgung im ausgehenden Mittelalter, die massenhaften Vergewaltigungen durch die japanische Armee im Zweiten Weltkrieg oder in neuerer Zeit die Pseudohochzeiten des IS, die den systematischen Mißbrauch von Frauen mit einer bizarren Rechtsgültigkeit versehen. So stellt denn auch Kirmizigül zufolge die Unterjochung der Frau eine der vordringlichsten Aufgaben des Kapitalismus dar, um weiter existieren und die Ausbeutung der Gesellschaft ungehemmt praktizieren zu können. Dagegen zeige der demokratische Konföderalismus in Rojava, daß die Organisierung von Frauen dafür sorgen könne, jeden Bereich des gesellschaftlichen Lebens sozial, ökonomisch gerecht und fortschrittlich zu gestalten. Auf der Grundlage unverhandelbarer ethischer Richtlinien würden in den befreiten Gebieten im Norden Syriens, aber auch in Shingal viele sozialen Probleme in den dort errichteten Frauenakademien gelöst. Die kurdische Befreiungsbewegung organisiere sich über Tausende von Frauenräten, alternative Einrichtungen für die medizinische Versorgung und Kooperativen zur Deckung der Bedürfnisse der Bevölkerung, um so ein Gegenmodell zur kapitalistischen Moderne aufzubauen. Damit wäre der Beweis erbracht, daß das Patriarchat und das ihm entspringende Ausbeutungssystem des Kapitalismus überwunden werden können.

Das primäre Subjekt in diesem Konflikt müsse jedoch die Frau sein, nicht aus biologistischen Gesichtspunkten oder um unter vertauschten Vorzeichen ein Matriarchat zu errichten, sondern im Sinne einer Integration der gesamten Gesellschaft. Daher müßten Soziologie und Geschichte laut Öcalan Hand in Hand gehen, um die verschollenen Werte und Wissensfragmente der natürlichen Gesellschaft, als das Kollektiv und nicht die zerstörerische Kraft des Kapitals Grundlage menschlicher Zusammenkünfte war, für die heutige Zeit zu bergen und nutzbar zu machen. Die Institutionalisierung des Co-Vorsitzes beispielsweise, wonach stets ein Mann und eine Frau gemeinsam politischen Gremien, Parteien und Vereinen vorstehen, ist ein Schritt zu diesem Ziel.

Die PKK habe, als sie begriff, selbst in das patriarchale Denken verstrickt zu sein, Methoden ausgearbeitet, um die Trennung zwischen Mann und Frau und damit das auf Unterdrückung basierende System der Geschlechterzuordnung aufzubrechen. Die daraus gewonnenen Erkenntnisse müßten nun auf die Gesellschaft umgemünzt werden. Der Eigentumsanspruch in den Beziehungen der Menschen zueinander ist für Kirmizigül Quelle und Brennstoff aller gesellschaftlichen Krisen. Öcalans radikalem Ansatz eine wissenschaftsfundierte Richtung zu geben markiert den akademischen Schwerpunkt innerhalb der Jineologie. Sie erhebt den Anspruch, in den Bereichen Ethik, Ästhetik, Ökonomie, Demographie, Ökologie, Historie, Gesundheit, Bildung und Politik eine revolutionäre Perspektive zu entwickeln und verhält sich demnach zu den hegemonialen Strukturen in der Zivilisationsentwicklung, die Geschichte und Gesellschaft stets aus dem Blickwinkel des Staates betrachten, geradezu antithetisch.


Aus der Eröffnungsperformance des Ensemble Mezopotamya - Foto: © 2017 by Schattenblick

Geschlechterverhältnisse ...
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Aus der Eröffnungsperformance des Ensemble Mezopotamya - Foto: © 2017 by Schattenblick

... in Bewegung ...
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Aus der Eröffnungsperformance des Ensemble Mezopotamya - Foto: © 2017 by Schattenblick

... immer wieder zurück ...
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Aus der Eröffnungsperformance des Ensemble Mezopotamya - Foto: © 2017 by Schattenblick

... auf die eigenen Füße
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Aus der Eröffnungsperformance des Ensemble Mezopotamya - Foto: © 2017 by Schattenblick

Szenen aus der Eröffnungsperformance des kurdischen Tanzensembles Mezopotamya
Foto: © 2017 by Schattenblick


Beiträge zur Konferenz "Die kapitalistische Moderne herausfordern III" im Schattenblick unter:
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17. Juli 2017


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