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BERICHT/288: G20-Resümee - Staatsinteresse und öffentliche Wahrnehmung ... (SB)


Der Skandal fängt an, wenn die Polizei ihm ein Ende bereitet.
Karl Kraus, Fackel 263 27-28; Sprüche und Widersprüche


Als Musterfall der Durchsetzung des staatlichen Gewaltmonopols im urbanen Raum einer Metropole war der G20-Gipfel in Hamburg ein Exerzierfeld innovativer polizeilicher Strategien und Taktiken. Das mit rund 31.000 Polizeikräften aller Kategorien größte Aufgebot in der Geschichte der Bundesrepublik entfaltete das gesamte Arsenal repressiver Manöver der Aufstandsbekämpfung. Angefangen vom eingesetzten Gerät wie modernsten Wasserwerfern und dem Survivor, dem vollen Spektrum der Bewaffnung inklusive Maschinengewehren samt Gummigeschossen der SEK, über die verschiedenen Sicherungs-, Angriffs- und Zugriffsmethoden bis hin zur Gefangenensammelstelle blieb nichts ausgespart. Auf Grundlage der Außerkraftsetzung des Versammlungs- und Demonstrationsrechts in ausgewiesenen Zonen wurden scheinbar widersprüchliche Maßnahmen ergriffen, die sich in der Gesamtschau jedoch als jeweils zweckgebundene und insgesamt ineinandergreifende Komponenten identifizieren lassen.

Daß die "Welcome-to-hell"-Demonstration ohne Auflagen genehmigt, dann aber beim Start niedergeknüppelt wurde, daß ein schwarzer Finger auf der Elbchaussee ungehindert agieren konnte, eine andere Gruppe am Rondenbarg brutal niedergemacht und festgenommen wurde, daß das Schanzenviertel stundenlang sich selbst überlassen blieb, bis militärisch gerüstetes SEK einmarschierte, war wohl kaum begrenzten Mitteln, Kontrollverlust oder Versagen der Polizei geschuldet. Ohne eine Omnipotenz der Sicherheitskräfte zu unterstellen, deren Probleme bei der Einhegung und Verhinderung des Protests deutlich zu Tage traten, zeichnet sich doch ein umfängliches und weitreichendes Einsatzkonzept ab.

Frontalangriff auf den Straßenprotest mit Schlagstock, Reizgas und Pfefferspray, Prügel für die Wehrlosesten am Rande, Schockstrategien gegen junge Menschen, Erniedrigung und Entrechtung in der Gesa - die Polizeigewalt brach sich in verschiedensten Szenarien Bahn, diente aber ein- und demselben Zweck: Weit über den unmittelbaren Anlaß hinaus, den Gipfel politischer Sachwalter kapitalistischer Macht und imperialistischer Aggression vor dem Widerstand zahlreicher Menschen zu schützen, sollten die Grenzen der Drangsalierung, Einschüchterung und Diskreditierung des Widerstands weit nach vorn verschoben werden. Zahllose anfechtbare bis offen rechtswidrige polizeiliche Aktionen trugen unter dem Schirm des Ausnahmezustands maßgeblich dazu bei, ein Klima der Furcht zu schüren und repressive Fakten zu schaffen, die wiederum Ausgangspositionen für künftige Verschärfungen zu etablieren drohen.

In diesem Sinn ist der Gipfel in Hamburg solange nicht Geschichte, bis der Kampf um die Deutungsmacht auch hinsichtlich der Polizeigewalt entschieden ist, soweit man im Zuge unablässiger Auseinandersetzungen überhaupt von einem solchen, stets willkürlich gesetzten Schlußpunkt sprechen kann. Es geht um die Inhaftierten und Verurteilten, es geht um straflose Übergriffe der Polizei, es geht um die politische Verantwortung des Freibriefs für die Sicherheitskräfte, es geht um die Einschränkung von Recht und Rechtsbeistand, es geht darum, was die Menschen erwartet, die morgen auf die Straße gehen, um ihren Anliegen zur Durchsetzung zu verhelfen. Noch ist die schrumpfende Lücke zwischen Staatsinteresse und öffentlicher Wahrnehmung nicht geschlossen.

"Polizeigewalt hat es nicht gegeben ..."

Bei der Veranstaltung der G20-Plattform zum Thema "G20 - das war der Gipfel - Aktivistinnen und Betroffene berichten" [1] am 15. September im Hamburger DGB-Haus stand auch die Aufarbeitung der Polizeigewalt auf der Tagesordnung. Als Moderatorin des zweiten Abschnitts des Podiumsgesprächs zitierte die freie Journalistin Tina Fritsche, aktiv bei Recht auf Stadt und während des Gipfels im FCMC, dem alternativen Medienzentrum im St. Pauli-Stadion, den Ersten Bürgermeister der Hansestadt. Olaf Scholz am Freitag, 14. Juli 2017, in einem Interview mit dem Hamburger Radiosender 90,3: "Polizeigewalt hat es nicht gegeben. Das ist eine Denunziation, die ich entschieden zurückweise." Zu diesem Zeitpunkt waren bereits zahlreiche Fotos und Videos in Umlauf, die das Gegenteil zeigten: Aggressives Vorgehen der Polizei gegen die "Welcome-to-hell"-Demonstration, am Rondenbarg und an diversen weiteren Orten. Gestoßene, verprügelte Menschen, die in oder am Rande von Demonstrationen durch Beamte zu Schaden kamen. Zahlreiche Polizeimaßnahmen schränkten die Pressefreiheit ein, Journalistinnen wurden verletzt, Reporterausrüstungen beschlagnahmt. Trotz all dieser Belege habe Scholz seine Behauptung bis heute nicht zurückgenommen.

Hartmut Dudde, Gesamteinsatzleiter während des G20-Gipfels, ist in Hamburg ein berüchtigter Polizeiführer, der das Versammlungsrecht zu ignorieren pflegt. Er hatte seit 2001, als der Rechtspopulist Schill Innensenator wurde, Karriere gemacht. Maßnahmen unter seiner Leitung wurden in der Vergangenheit mehrfach gerichtlich für rechtswidrig erklärt. Dies bestätigte auch der Senat der Hansestadt in Beantwortung mehrerer parlamentarischer Anfragen von Christiane Schneider, Abgeordnete und Innenpolitische Sprecherin der Linksfraktion in der Bürgerschaft. Dennoch habe Dudde nie dienstrechtliche Folgen zu fürchten gehabt. Seine Berufung bei G20 sei eine klare Ansage an die Protestbewegung gewesen. Wie um die Befürchtungen zu bestätigen, habe Dudde in den Pressekonferenzen der Innenbehörde und des Senats betont, daß die Polizei alles auffahren und anwenden werde, was sie zu bieten hat. Er sei sich dabei der Unterstützung des Innensenators Andy Grote und des Ersten Bürgermeisters Olaf Scholz sicher gewesen.


Polizeikolonnen marschieren auf - Foto: CC BY-NC 2.0 [https://creativecommons.org/licenses/by-nc/2.0/]

Rasande Tyskar - G20 Protest Hamburg "Welcome to hell" Demonstration 2017-07-06
Foto: CC BY-NC 2.0 [https://creativecommons.org/licenses/by-nc/2.0/]

Frontalangriff auf die internationale "Welcome-to-hell"-Demo

Von dem Angriff auf die internationale Demonstration berichtete eine Aktivistin aus dem "Welcome-to-hell"-Bündnis. Zu dieser Demonstration seien Aktivistinnen aus verschiedenen Ländern und Kontinenten eingeladen worden, die von ihren Kämpfen berichten sollten: "Was uns eint, ist der Kampf gegen ein unmenschliches System, das von Beginn an raubend und mordend durch die Welt gezogen ist und eine Schneise der Verwüstung hinterlassen hat." Die Demo sollte sich auf der Hafenstraße aufstellen, um dann auf einer komplett genehmigten Route bis zum Millerntorplatz zu ziehen. Daß keinerlei Auflagen gemacht wurden, habe natürlich im Vorfeld Anlaß zu Bedenken gegeben. Als sich die Demo nach der Auftaktkundgebung um 18:30 Uhr sammelte, rückten plötzlich immer mehr Polizeikräfte mit Wasserwerfern an. Der Zug wurde vorn blockiert und konnte nicht losgehen. Nach einer Abklärung zwischen dem Demoleiter und dem Einsatzleiter der Polizei sei die Aufforderung ergangen, die Vermummung abzulegen. Ein Großteil habe die Vermummung abgelegt, nur ein kleiner Teil sei noch verhüllt gewesen. Ohne daß etwas vorgefallen wäre, sei eine Hundertschaft prügelnd und mit Pfefferspray in die Demo hineingegangen. Eine Polizeigewalt, wie sie sie zuletzt in Genua erlebt habe, so die Aktivistin. Es sei in dieser Situation nicht um Festnahmen, sondern darum gegangen, die Leute zusammenzuschlagen, sie schwer zu verletzen und zu traumatisieren: Das blüht euch, wenn ihr auf eine linksradikale Demo geht! Die Menschen seien an die Flutschutzmauer gedrückt worden, wo Panik entstand, weil es keinen Fluchtweg gab. Szenen wie auf der Love Parade in Duisburg. Daß es nicht zu Toten gekommen sei, sei nicht das Verdienst der Polizei, die keine Rücksicht auf Menschenleben genommen habe.

Vermummung sei in der 70er Jahren ein ganz normaler Selbstschutz auf Demos gewesen, wurde aber 1985 zum Straftatbestand. Für Aktivistinnen sei dies nach wie vor ein wichtiger Schutz, da Dokutrupps der Polizei entlang der Demos alles abfilmen und die Daten unüberprüfbar und unkontrollierbar speichern.

Obwohl die Demo zerschlagen worden war, habe sie sich neu formiert. Dies sei auch deshalb möglich gewesen, weil viele Leute bei dem ersten Angriff gesammelt ausgewichen seien und Barrikaden errichtet hätten, die Polizeikräfte banden. Die Demo sei losgezogen und später an der Sternbrücke zum zweiten Mal angegriffen worden, wo sie dann endgültig beendet wurde. Es sei großartig, daß Menschen aus vielen Ländern mit auf die Straße gegangen seien und ihre Solidarität gezeigt hätten, so die Aktivistin. Sie erinnerte abschließend daran, daß an jedem ersten Sonntag im Monat eine Knastkundgebung vor der JVA Billwerder durchgeführt wird, wo viele der G20-Gefangenen sitzen: "United we stand - niemand wird alleingelassen!"

Schwerverletzte am Rondenbarg

Nils Jansen, Mitglied im ver.di-Jugendvorstand NRW Süd, erzählte vom Rondenbarg. Seine Gewerkschaftssektion habe trotz der Drohkulisse im Vorfeld des Gipfels ihre Jugendlichen mobilisiert, auf die Straße zu gehen und sich das Demonstrationsrecht nicht nehmen zu lassen. Die Gruppe sei am Donnerstagabend ins Camp gekommen und habe geplant, sich am Freitagmorgen an den Blockaden zu beteiligen. Sie seien morgens in guter Stimmung vom Camp losgezogen, doch nach etwa 30 Minuten beim Einbiegen in den Rondenbarg plötzlich gestoppt worden. Von vorn und hinten seien sofort Polizisten mit dem Knüppel im Anschlag auf den Zug losgestürmt und hätten alles niedergeprügelt, was ihnen in den Weg kam: Von hinten hielten zwei Wasserwerfer drauf, vorn zwei Wannen. Die Leute lagen am Boden, kamen nicht weg, auf der einen Seite eine dichte Hecke, auf der andern ein Zaun, der unter dem Druck zusammenbrach. Leute fielen die Böschung hinunter und wurden unter anderen begraben, die nachfielen. Offene Knochenbrüche, Blut, die Polizei prügelte weiter, so die Beschreibung des Gewerkschafters. Das Polizeivideo sei an die Presse gegangen, die Polizei habe sich in Widersprüche verstrickt, von einem behaupteten massiven Angriff seitens der Demo war auf dem Video nichts zu sehen.

Viele Menschen seien festgesetzt und in die Gesa abtransportiert worden, ein Containerdorf in einer riesigen Lagerhalle. Dort mußten sich alle nackt ausziehen und eine Kniebeuge machen. Diese Erniedrigung sei für die jungen Leute ein erneuter Schock gewesen, dem weitere folgen sollten. Frauen wurde der Tampon oder die Brille weggenommen, 24 Stunden grelles Neonlicht in engen fensterlosen Kisten, draußen knallende Schritte, Psychostimmung. Dann die Drohung, man prüfe jetzt, alle in Haft zu nehmen, obgleich niemand wußte, was ihnen vorgeworfen wurde. Erst am Abend sei es möglich gewesen, die Anwälte zu sprechen, nach über 30 Stunden sei man endlich einem Richter vorgeführt worden. Der habe dann keine U-Haft verhängt, aber auf Gewahrsam bis Sonntagabend 18:00 Uhr entschieden, worauf nach insgesamt bis zu 50 Stunden in der Gesa alle bis auf die Minderjährigen nach Billwerder gebracht worden seien. Drei von den Bonner Kolleginnen seien eine Woche in U-Haft festgehalten worden, gegen dreizehn Kolleginnen liefen Strafverfahren, nach den neuen Gesetzen drohten mehrjährige Haftstrafen.


Transparente Aufschrift 'Apocalypse. Zombie. Polizist.' - Foto: CC BY-NC 2.0 [https://creativecommons.org/licenses/by-nc/2.0/] https://www.flickr.com/photos/rasande/35290388401/in/album-72157684783897226/

Rasande Tyskar - G20 Hamburg Protest
Foto: CC BY-NC 2.0 [https://creativecommons.org/licenses/by-nc/2.0/] https://www.flickr.com/photos/rasande/35290388401/in/album-72157684783897226/

Zwangsmaßnahmen bei der An- und Abreise im Buskonvoi

Christoph Barta von der Linksjugend ['solid] Berlin hat in einem Bündnis Busfahrten von Berlin nach Hamburg und zurück mitorganisiert. Er berichtete davon, wie die Busse mehrfach von der Polizei aufgehalten wurden. In seinem Fahrzeug, dem dritten von insgesamt acht Bussen, fuhren vor allem junge Aktivistinnen von den Falken Brandenburg, der Grünen Jugend Berlin und Sympathisantinnen mit, ein Kreis von 52 jungen Leuten im Alter von 17 bis 30 Jahren. Es habe während dieser Zeit mehrere unangenehme Polizeikontakte gegeben, er beschränke sich auf die Kontrollen auf dem Weg nach Hamburg und zurück. Auf der Hinfahrt am Donnerstag sei der Bus am Rande der Hamburger Innenstadt von zwei Einsatzhundertschaften aus Wiesbaden abgefangen und in die Freiluftgesa gebracht worden. Dort sei es zu einer Körper- und Gepäckdurchsuchung gekommen, alle wurden fotografiert. Diese Maßnahmen hätten vier bis fünf Stunden gedauert, seien unangenehm und rechtswidrig, aber nichts im Vergleich zu dem gewesen, was sie auf der Rückfahrt erleben mußten.

Am Sonntag gegen 10:30 Uhr sei der Bus vom Camp in Altona nach Berlin gestartet und habe gegen 12.00 Uhr planmäßig einen Halt auf der Raststätte Stolpe bei Parchim eingelegt. Dort seien bereits Polizeiautos gestanden. Die Businsassen hätten sich zunächst zerstreut, als auf einmal Mannschaftswagen der 25. Einsatzhundertschaft der Berliner Bereitschaftspolizei aufgefahren seien. Unter Rufen wie "Jetzt haben wir euch, linkes Dreckspack! Wir kriegen euch alle!" seien die Genossinnen eingekesselt, weitere aus der Gruppe von der Tankstelle herbeigeschubst, geschleift und teilweise auch geschlagen worden. Die Polizisten hätten gerufen: "Ihr stinkt! Ihr seid linkes Dreckszeug! Jetzt seid ihr dran!" Die Stimmung sei so aggressiv gewesen, daß man befürchten mußte, unvermittelt eins in die Fresse zu krigeen. Schließlich sei ein Zivilpolizist aufgetaucht, der sich umschaute und so etwas wie "nicht relevant" sagte. Ohne jede Erklärung oder Begründung sei die Gruppe zur Weiterfahrt aufgefordert worden, jedoch mit Polizeibegleitung vor und hinter dem Bus. Dieser wurde auf die Raststätte Stolper Heide geführt, wo ein Großaufgebot Polizei wartete. Dort seien alle acht Busse abgefangen worden. Es folgten Kessel, Gesa, Personenkontrollen, alle wurden durchsucht und fotografiert. Das Gepäck im Bus wurde in Abwesenheit durchsucht. Schließlich seien Anwälte eingetroffen. Nach fünf Stunden konnte die Rückfahrt nach Berlin endlich fortgesetzt werden.

Man habe Feststellungsklagen eingereicht, die jedoch bestenfalls dazu führen könnten, daß die Maßnahmen nachträglich für rechtswidrig erklärt werden. Für die betreffenden Polizisten habe das keinerlei Folgen. Wie den jungen Genossinnen, die am harmlosesten daherkämen, auf diese brutale Weise mitgespielt werde, sei schockierend und ein starkes Stück.

Internationale Aktivistinnen im Visier

Die Aktivistin Lucienne aus den Niederlanden und Guiseppe Caccia (Euronomades) aus Italien berichteten, wie sich die Jagd auf internationale Aktivisten abgespielt hat.

Lucienne gehört der Organisation International Socialists an, die in einer Koalition mit weiteren Gruppierungen für die Teilnahme an den Protesten gegen G20 mobilisiert hatte. Im Vorfeld des Gipfels hätten die Medien die Teilnahme Tausender gewalttätiger Aktivisten angekündigt, die aus dem Ausland zum Gipfel anreisen würden. Damit seien Grenzkontrollen unter Außerkraftsetzung der Schengener Abkommen, geheimdienstliche Überwachung und andere Schikanen gerechtfertigt worden. Das sei zwar nicht überraschend gekommen, habe aber Konsequenzen für die internationale Beteiligung an den Protesten nach sich gezogen. Sie selbst sei in einer Gruppe von rund 30 Leuten gereist, die an der Grenze aufgehalten und sechs Stunden lang vollständig durchsucht wurde. Ähnliches berichteten auch Leute, die einzeln oder in kleineren Gruppen einreisen wollten. Einigen sei die Weiterreise unter absurden Begründungen verwehrt worden, die einer gerichtlichen Überprüfung nicht standhalten würden. Diese Probleme hätten es erschwert, größere Gruppen für die Teilnahme an den Protesten zu organisieren. Generell handele es sich um eine Einschüchterung und Abschreckung der Aktivisten. Es sei auch zu Durchsuchungen von Wohnungen, der Bekanntgabe von Namen angeblich Verdächtiger und weiteren repressiven Maßnahmen gekommen. Auch habe man festgestellt, daß die Polizei in Hamburg offenbar auf Informationen zurückgreifen konnte, die sie von Polizeien anderer Länder erhalten hatte. Das Ausmaß der Repression während des Gipfels habe eine zuvor in solchen Zusammenhängen kaum erlebte Form angenommen, doch sei die Entschlossenheit der Aktivistinnen in Deutschland zugleich eine Inspiration und eine ermutigende Erfahrung praktizierter Solidarität gewesen.

Guiseppe Caccia, der in NoG20 international aktiv ist, hob den transnationalen Charakter der G20-Proteste hervor. Viele linke Bewegungen, Strukturen, Gewerkschaften und Parteien hätten sich an der Mobilisierung beteiligt. Noch bedeutsamer sei die spontane Präsenz von Teilnehmerinnen aus ganz Europa gewesen. Aktivisten aus dem Ausland seien gezielt von den Mainstreammedien und den Repressionsorganen ins Visier genommen worden. Am Samstagnachmittag sei es zu einer regelrechten Hetzjagd auf ausländische Aktivistinnen auf den Straßen rund um das Heiligengeistfeld gekommen, die förmlich durchkämmt wurden. Zudem seien Einsätze auf Plätzen, in Jugendherbergen und anderen Unterkünften durchgeführt worden, in denen viele Leute aus dem Ausland regulär registriert waren. Viele Menschen seien mehr als 24 Stunden lang festgenommen worden. Die Europaabgeordnete Eleonora Forenza, MdEP (GUE/NGL), sei mit einer Gruppe anderer Italiener festgenommen und zu einer Gefangenensammelstelle gebracht worden, obwohl sie sich mit ihrem Parlamentarierdokument ausgewiesen hatte. Viele Menschen säßen immer noch im Gefängnis, darunter auch fünf Italiener. Die Situation von Fabio V. erscheine besonders problematisch, zumal der 19jährige nach der deutschen Strafprozeßordnung als minderjährig gelte und nicht vorbestraft sei. Er könnte bis zu sechs Monaten in U-Haft gehalten werden. Die deutschen Mainstreammedien hätten sich mehrmals mit seinem Fall beschäftigt und die Haltlosigkeit der Vorwürfe und offenkundigen Widersprüche der ihn belastenden Polizeiberichte hervorgehoben. Die Bewertung seiner Persönlichkeit als Haftgrund sei unhaltbar, er müsse sofort freigelassen werden. "Alle müssen freigelassen werden!" In Italien habe es verschiedene Solidaritätskundgebungen wie auch Initiativen auf institutioneller Ebene gegeben, darunter auch parlamentarische Anfragen verschiedener politischer Gruppierungen außerhalb der Linken. Die Demonstranten aus dem Ausland müßten als Sündenböcke herhalten, um das Versagen der Apparate im Ausnahmezustand zu kaschieren. Sie würden diskriminiert und an ihnen werde Rache geübt, was beides den Rechtsstaatsprinzipien widerspreche, wie sie die europäische Grundrechtscharta und das Grundgesetz der Bundesrepublik garantieren: "Versammlungsfreiheit und Demonstrationsrecht müssen überall in Europa gegen den Ausnahmezustand verteidigt werden!"


Demonstrant mit Schild gegen Polizeigewalt - Foto: CC BY-NC 2.0 [https://creativecommons.org/licenses/by-nc/2.0/] https://www.flickr.com/photos/rasande/35871851085/in/album-72157682897590804/

Rasande Tyskar - Lieber Tanz ich als G20 - Demo Rave 2017-07-05 https://www.flickr.com/photos/rasande/35871851085/in/album-72157682897590804/
Foto: CC BY-NC 2.0 [https://creativecommons.org/licenses/by-nc/2.0/]

Parlamentarische Kämpfe und Hürden

Christiane Schneider war als parlamentarische Beobachterin beim G20-Gipfel auf der Straße und hat im Namen der Linksfraktion einen parlamentarischen Untersuchungsausschuß in der Bürgerschaft gefordert, was am vereinten Widerstand von SPD, CDU, Grünen, FDP und AfD gescheitert ist. Sie kämpft weiter um Aufklärung, unter anderem als Mitglied in dem nun berufenen Sonderausschuß, um die Forderungen in die Öffentlichkeit zu tragen und zu verlangen, daß die Verantwortlichen zur Rechenschaft gezogen werden. Anträge der Linksfraktion, Ergänzungsvorschläge in den Fahrplan des Sonderausschusses "Gewalttätige Ausschreitungen rund um den G20-Gipfel in Hamburg" einzubringen, seien zwar nicht abgelehnt, aber vertagt worden. Man werde hart kämpfen müssen, um auch nur ein Minimum an Aufklärung zu erreichen. Die Linksfraktion habe seit Anfang Juli insgesamt 24 kleine Anfragen zu den unterschiedlichsten Themen rund um den Gipfel gestellt. Wir die Antworten zeigten, bestehe überhaupt kein Aufklärungsinteresse. Beispielsweise sei Dudde unter fadenscheinigsten Ausflüchten die Antwort schuldig geblieben, welche Reizstoffe bei den Wasserwerfern beigemischt wurden. So werde es wohl auch im Sonderausschuß laufen: Man könne die Verantwortlichen nicht zwingen, etwas zu sagen, geschweige denn die Wahrheit zu sagen. Das Feld dessen, was aufgeklärt und an die Öffentlichkeit gebracht werden müsse, sei weit. So zeigten Videos und Bilder, daß viele Polizisten unterschiedliche Uniformteile mit Kennzeichen aus verschiedenen Bundesländern und SEK-Kräfte nicht identifizierbare oder abgedeckte Abzeichen trugen. Das mache die Identifizierung im Zweifelsfall praktisch unmöglich und erweiterte den Handlungsspielraum jenseits der Legalität. Antwort auf eine entsprechende Anfrage: Der Polizei lägen keine Erkenntnisse über die Nichtbeachtung von Regularien vor. Ein weiteres Beispiel: Bei drei kleinen Anfragen zu technischen Überwachungsmaßnahmen sei immerhin so viel herausgekommen, daß die Polizei in 38 Fällen beim Amtsgericht Antrag auf Funkzellenabfrage gestellt hat. Die Frage, wie vielen dieser Anträge stattgegeben wurde, sei jedoch von der Polizei unter Verweis auf die laufende Untersuchung nicht beantwortet worden.

Die Linksfraktion hat zwei Mitglieder im Sonderausschuß, Christiane Schneider und Cansu Özdemir, sowie einen Stellvertreter. Wie es aussehe, werde man Einsatzprotokolle lesen können, aber kein Handy und nichts zu schreiben in den betreffenden Raum mitnehmen dürfen. Für die Arbeit im Sonderausschuß seien weitere Informationen dringend erforderlich, mit denen man die Gegenseite immer wieder konfrontieren könne. Gelinge die Aufklärung nicht, werde vom G20-Gipfel eine dramatische Einschränkung von Grundrechten übrigbleiben. Man erlebe derzeit einen Sprung in der Militarisierung der Polizei. SEK-Einsätze größeren Ausmaßes habe es zuletzt 1981 bei der Startbahn West gegeben. Die SEK hätten eine andere Einsatzlogik als die normale Polizei, denn sie machten keine Gefangenen, sondern setzten Gegner außer Gefecht. Nachdem es damals sehr viele Verletzte gegeben hatte, habe die hessische Polizei in der Folge auf den weiteren Einsatz der SEK verzichtet. Jetzt seien die SEK in Hamburg wieder eingesetzt, und nur drei Wochen später auch in Wurzen bei einer antifaschistischen Gegendemonstration aufgefahren worden. In Hamburg seien zum ersten Mal in der Geschichte der Bundesrepublik Gummigeschoße eingesetzt worden, es wurde massenhaft Reizgas verwendet, die Polizei lief mit Maschinengewehren herum, der Survivor kam zum Einsatz. Eine vorhergehende Anfrage, ob dieses Fahrzeug auch bei Demonstrationen eingesetzt werden solle, sei entschieden verneint worden. Es drohe ein Quantensprung an Militarisierung, wenn es nicht gelinge, dem jetzt etwas entgegenzusetzen und den Polizeieinsatz samt dieser Polizeistrategie zu delegitimieren.

Es gelte nun, die Aufarbeitung im Sonderausschuß, aber auch in der Öffentlichkeit voranzutreiben. Die Arbeit im Sonderausschuß sei um so effektiver, je mehr belastbare Fakten zur Verfügung stehen. Weil es keinen parlamentarischen Untersuchungsausschuß gibt, dem wesentlich wirksamere Mittel als einem Sonderausschuß zur Verfügung stünden, haben sich zudem einige Menschen zusammengetan, um einen außerparlamentarischen Untersuchungsausschuß auf den Weg zu bringen.


Podium mit Projektion 'Grenzenlose Solidarität statt G20' - Foto: © 2017 by Schattenblick

Tina Fritsche und Christiane Schneider
Foto: © 2017 by Schattenblick


Fußnote:


[1] http://www.g20-protest.de/programm/


Berichte und Interviews zu "G20 - das war der Gipfel" im Schattenblick unter:
www.schattenblick.de → INFOPOOL → POLITIK → REPORT

BERICHT/286: G20-Resümee - Schranken bis zum Kessel ... (SB)
BERICHT/287: G20-Resümee - gutes Recht zu nutzen schlecht ... (SB)
INTERVIEW/382: G20-Resümee - Mangel an Avantgarde ...    Denis Ergün im Gespräch (SB)


30. September 2017


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