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BERICHT/351: Rojava - gegen das Bündnis des Schweigens ... (SB)


Doch der entscheidende Unterschied zu Nordkurdistan ist, dass in Rojava entgegen dem Selbstbild als nichtstaatliche demokratische Gesellschaft eben doch staatliche wenn auch radikaldemokratische und direkt aus der Masse der Bevölkerung gebildete Rätestrukturen einschließlich eines Justizwesens, einer Polizeimiliz und einer professionellen Armee (...) geschaffen wurden, während der gegnerische Staat in Form des syrischen Regimes sich bürgerkriegsbedingt 2012 aus der Region weitgehend zurückgezogen hatte. Die in Rojava realisierte Form der Staatlichkeit ist dabei ihrem Wesen nach nicht nationalstaatlich sondern inklusiv, gemäß der Realität der verschiedenen ethnischen und religiösen Gruppen des Bevölkerungsmosaiks in Nordsyrien.
Nikolaus Brauns / Murat Cakir - Partisanen einer neuen Welt [1]


Auch bei der dritten Invasion türkischer Truppen in die mehrheitlich kurdischen Gebiete im Norden Syriens seit 2016 setzt Machthaber Erdogan darauf, daß der Preis, ihn aufzuhalten, den EU- und NATO-Staaten viel zu hoch ist. Auf dem Spiel stehen der Flüchtlingsdeal als wesentlicher Bestandteil EU-europäischer Abschottung gegen Menschen, die nicht zuletzt vor Kriegen fliehen, die von diesem Staatenbund zu verantwortenden sind, und ein Verlust des NATO-Partners Türkei an Rußland. In beiden Fällen ist die Berechenbarkeit des Verhaltens der EU und Deutschlands ein Aktivposten in der Kriegsplanung des türkischen Despoten. Er konnte selbst US-Präsident Trump zu dem Kalkül veranlassen, daß die strategischen Kosten eines weiteren türkischen Einmarsches in Nordsyrien geringer sind als eine unabsehbare Konfrontation mit dem einzigen NATO-Partner, der über eine mehrheitlich muslimische Bevölkerung verfügt.

Die KurdInnen in Rojava, so ihr Name für die ein Drittel des Territoriums Syriens umfassende Zone basisdemokratischer Selbstverwaltung, sind einmal mehr auf sich selbst gestellt. Wenn sie ein Bündnis mit dem syrischen Präsidenten Assad schließen, dann werden ihnen voraussichtlich erhebliche Zugeständnisse an den von ihm erhobenen Anspruch auf staatliche Souveränität über ganz Syrien abverlangt werden. Zweifellos das kleinere Übel gegenüber einer Besetzung durch türkische Streitkräfte und islamistische Mordschergen, wie die genozidale Turkifizierung in dem seit Anfang 2018 von der Türkei besetzten Kanton Afrin zeigt, gibt eine solche Entwicklung doch Anlaß dazu, sich die wenigen Optionen für die Etablierung emanzipatorischer Projekte im kapitalistischen Weltsystem vor Augen zu führen.


Gelb-rot-grünes Banner von vielen Menschen gehalten - Foto: © 2019 by Schattenblick

Festhalten am Traum
Foto: © 2019 by Schattenblick

Während der sogenannte Bürgerkrieg in Syrien schnell zum Operationsgebiet internationaler Kräfte wurde, die das Ziel des Sturzes der amtierenden Regierung in Damaskus und eines Regimewechsels zugunsten der NATO-Staaten verfolgten, machte die mehrheitlich kurdische Bevölkerung im Norden Syriens aus der Not eine Tugend und erklärte um den Jahreswechsel 2013/2014 herum die drei an der Grenze zur Türkei liegenden Kantone Afrin, Kobani und Cizre zu einer selbstverwalteten Region. Das im März 2016 offiziell zur Demokratischen Föderation Nord- und Ostsyrien - Rojava erklärte Gebiet schloß von Anfang an die arabischen, assyrisch-aramäischen und turkmenischen Minderheiten ein, so daß es trotz jahrhundertealter Siedlungstradition nicht einfach nur als kurdisches Territorium bezeichnet werden kann. Das ist durchaus im Sinne des von Abdullah Öcalan propagierten demokratischen Konföderalismus, könnte diese politische Organisationsform doch ein Vorbild für die unter Kolonialgrenzen leidende, von inneren Konflikten und imperialistischen Kriegen zerrüttete Region des Nahen und Mittleren Ostens sein.


Rede zum Auftakt der Demo - Foto: © 2019 by Schattenblick

Rojava bedeutet für uns die Durchsetzung der Gleichberechtigung von Mann und Frau. Rojava bedeutet für uns ein einmaliges Gesellschaftsmodell in einem kapitalistischen System. Rojava bedeutet für uns, es zu verteidigen, eine Revolution mitten im Krieg - Cansu Özdemir, Die Linke Hamburg
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Rede zum Auftakt der Demo - Foto: © 2019 by Schattenblick

Wir, die Alewiten, wissen was Genozid ist. An uns wurden Massaker begangen. Aber wir wissen, was Widerstand ist. Jahrhundertelang hat Pir Sultan Widerstand geleistet und sich nicht den osmanischen Tyrannen gebeugt. Wir beugen auch in Rojava nicht unser Haupt gegen den Erdogan-Faschismus - Mahmut Erdem, Alewitische Gemeinde
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Rede zum Auftakt der Demo - Foto: © 2019 by Schattenblick

Wir, Schülerinnen und Schüler, Arbeiterinnen und Arbeiter, Azubis und Studierende, haben niemals den Krieg als Interesse. Nur die herrschenden Regierungen, Banken und Konzerne profitieren von dem Leid und der Zerstörung. Sie marschieren in Länder ein, als würde es nicht um Menschenleben gehen, sondern als würden sie eine Runde Schach spielen - Emre Ögüt, DIDF
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Rede zum Auftakt der Demo - Foto: © 2019 by Schattenblick

In Syrien ist während der letzten Jahre ein großartiges Projekt entstanden. Multiethnisch, multireligiös, föderalistisch und demokratisch. Eine Gesellschaft, in der Frauen und Männer, Assyrer, Kurden und Araber gleichberechtigt und friedlich zusammenleben. Denn nicht gegeneinander, miteinander ist die Losung - Aziz Aygün, European Syriac Union
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Was dort trotz des Angriffes des IS auf das Gebiet, der nur unter großen Verlusten zurückgeschlagen werden konnte, an demokratischen, sozialökologischen und geschlechtergerechten Errungenschaften entwickelt wurde, kann durchaus als Ergebnis des von ihrem Vordenker Abdullah Öcalan inspirierten Kampfes der kurdischen Befreiungsbewegung verstanden werden. In den kurdischen Siedlungsgebieten der Türkei, des Irans und des Iraks durch die dortigen Machthaber stark behindert, konnte die an Öcalan orientierte Befreiungsbewegung im Schatten des mörderischen Syrienkrieges auf so beeindruckende Weise Fuß fassen, daß Rojava auch für viele Linke in der westlichen Welt zu einem Orientierungspunkt für gelebte sozialrevolutionäre und internationalistische Praxis wurde.

Davon zeugen auch die freiwilligen KämpferInnen, die nach Rojava reisten, um dieses Projekt in den Einheiten der Volksverteidigungskräfte YPG und der Frauenverteidigungskräfte YPJ gegen den IS und die türkischen Invasoren zu verteidigen. Unter ihnen finden sich junge AktivistInnen ohne jegliche militärische Ausbildung als auch SoldatInnen, die aus Großbritannien, Italien, Frankreich, Deutschland oder den USA nach Syrien reisen, um ganz praktische Solidarität zu üben. Nichts wäre erfreulicher, als ein sozial gerechtes, um ökologische Integrität bemühtes und kollektiv verwirklichtes Projekt emanzipatorisch gesonnener Menschen aufzubauen, ohne Gefahr zu laufen, dabei ums Leben zu kommen. Um Ausbeutung und Unterdrückung im kapitalistischen Weltsystem aufrechterhalten zu können, baut dieses von der sozialdarwinistischen Logik neoliberal formierter Sozialbeziehungen über die Tauschwertlogik der Kapitalakkumulation und lohnbasierten Arbeitsgesellschaft bis zur Durchsetzung der privatwirtschaftlichen Eigentumsordnung durch Polizei und Militär auf Zwang und Gewalt.


Demo mit Fronttransparent - Foto: © 2019 by Schattenblick

Zwischenstation Bahnhof Dammtor
Foto: © 2019 by Schattenblick


Im Schatten herrschender Gewalten den Gegenentwurf proben

So auch in Syrien. Dort war die paradoxe Situation entstanden, daß die Schwächung des Assad-Regimes durch die innere Opposition im Rahmen des Arabischen Frühlings wie durch die geostrategischen Winkelzüge imperialistischer Akteure, die diese Bewegung nach allen Regeln machiavellistischer Kunst in ihrem Sinne kooptierten, die Möglichkeit eröffnete, in einem regionalen Freiraum etwas anderes zu tun, als sich auf diese oder jene Seite in einem angeblichen Bürgerkrieg zu stellen. Für die Tragik des Syrienkrieges, Millionen Menschen aus machtpolitischem Kalkül in die Flucht zu schlagen und so die Faschisierung der EU als janusköpfiges Gesicht ihrer imperialistischen Ambition zu befeuern, war Rojava ein Lichtblick für die im Norden Syriens bereits lebenden und die dorthin aus anderen Regionen des Landes wie aus dem Irak flüchtenden Menschen.

Das Modell der von kommunaler Ebene aufsteigenden demokratischen Selbstorganisation, einer verteilungsgerechteren Wirtschaftsweise, der Demokratisierung gesellschaftlicher Institutionen wie der des Bildungs- und des Gesundheitswesens, der ebenfalls nach demokratischen Gesichtspunkten organisierten militärischen Selbstverteidigungskräfte und der Gleichstellung der Geschlechter in allen administrativen Belangen wie des organisierten Schutzes von Frauen vor gewalttätigen Ehemännern kann selbst dort, wo es nur gegen Widerstände und vielleicht nicht in jeder Konsequenz etabliert werden konnte, als Vorbild für den gesamten Nahen und Mittleren Osten gelten [2]. Der Demokratische Konföderalismus wäre die Antwort auf viele Probleme dieser von Eroberungskriegen und kolonialistischer Staatenbildung zerrissenen wie von einer extraktivistischen Wirtschaftsweise verwüsteten Region, die in den letzten Jahren den Klimawandel in Form ungewöhnlich lang anhaltender Dürren mit dementsprechend negativen Folgen für die Ernährungslage zu spüren bekam. Wenn nicht eben jene Kräfte, deren Herrschaft dadurch überwunden würde, versuchten, die kurdische Befreiungsbewegung im allgemeinen und das Experiment Rojava im besonderen zunichte zu machen.


verschiedene Parolen auf Seitentransparenten - Foto: © 2019 by Schattenblick verschiedene Parolen auf Seitentransparenten - Foto: © 2019 by Schattenblick verschiedene Parolen auf Seitentransparenten - Foto: © 2019 by Schattenblick

Was auf der Hand liegt, ist keineswegs selbstverständlich ...
Fotos: © 2019 by Schattenblick

Die Bekämpfung des IS durch die Demokratische Kräfte Syriens (SDF), in denen die kurdischen Selbstverteidigungskräfte YPG/YPJ das Gros der operativen Einheiten stellen, wird häufig erwähnt, um den Entzug jeglicher militärischer Rückendeckung durch die USA zu kritisieren. Damit werden diese Milizen in die Nähe einer Fußtruppe der US-Regierung gerückt, was sie niemals waren. Ihr eigenes Gebiet verteidigen zu können und dabei Schutz durch die US-Luftwaffe zu erhalten entspricht einer strategischen Ratio, bei deren Inanspruchnahme sich niemand dem Glauben hingeben muß, damit so etwas wie ein dauerhaftes Bündnis oder gar eine Art von Freundschaft etabliert zu haben. Gerade weil sich im Norden des Landes eine lebensfähige Form der demokratischen Selbstorganisation entwickelte, wurde es zum Ziel der Aggressionen des IS wie der Türkei. Diesen standzuhalten ist nicht möglich, ohne befristete Bündnisse zu schließen und dadurch Rückhalt auf internationaler Bühne zu erhalten.

Viele Linke aus dem antiimperialistischen Lager kritisieren dies bis heute, haben aber keinen Einwand dagegen, daß Rojava nun vielleicht den Schutz der syrischen Regierung und damit Rußlands in Anspruch nimmt. Deren Interesse an den emanzipatorischen Strukturen und Entwicklungen in Rojava läßt sich nicht minder als dasjenige auf der Seite der EU und USA darin zusammenfassen, daß diese Errungenschaften lieber heute als morgen beseitigt werden sollen. Kein autoritärer Staat mit kapitalistischer Gesellschaftsordnung kann Interesse an einer selbstbestimmten und potentiell sozialistischen Gesellschaft haben. Das zeigt sich auch darin, daß die von PolitikerInnen und JournalistInnen geübte Kritik am Aggressionskrieg der Türkei vor allem mit dem Argument der Erpressung durch Erdogan im Rahmen der EU-Flüchtlingsabwehr, der Angst vor terroristischen Anschlägen durch zurückkehrende IS-Kämpfer und dem militärischen Beitrag der SDF zum Sieg über den IS begründet wird.


Rede beim Zwischenstopp am Dammtor - Foto: © 2019 by Schattenblick

Lassen wir nicht zu, daß unsere kurdischen Freunde und Freundinnen, die kurdische Bewegung, die ein Zusammenleben aller Völker und Religionsgemeinschaften erschaffen will, von Erdogan und seinen Handlangern zerschlagen wird. Das geht auch raus an die, die wegschauen, das betrifft uns alle! Wir müssen in die Offensive gehen. Es reicht nicht aus, nur anwesend zu sein. Wir müssen lebendig aktiv kämpfen und uns dem entgegenstellen, was unsere Welt und die Menschen ausbeutet und vernichten will - Radouane A. Benhammou, Seebrücke
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Rede beim Zwischenstopp am Dammtor - Foto: © 2019 by Schattenblick

Wir kämpfen nicht für Rojava, nur weil die Kurden so gut gekämpft haben gegen den IS. Wir kämpfen für Rojava, weil es das leuchtende Beispiel in dieser Region ist, für mehr Demokratie, für mehr Rechte der Frauen, und dementsprechend ein wichtiger Kampf für uns nicht nur in Solidarität, sondern für unsere Zukunft. Es lebe Rojava - Norbert Hackbusch, Die Linke Hamburg
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Mehr denn als Mittel zum Zweck zu fungieren scheint den KurdInnen in Nordsyrien durch die führenden Agenturen deutscher Deutungsmacht nicht zugedacht zu sein. Das ist insbesondere in bezug auf die Unterdrückung der Frau bezeichnend, wurde doch die Bundeswehr 2001 ausdrücklich mit dem Ziel nach Afghanistan geschickt, auch etwas für die zivilgesellschaftliche Integration vom islamischen Patriarchat unterdrückter Frauen zu tun. Was scheitern mußte, wenn das Anliegen der Befreiung zum Vorwand militärischer Intervention verkommt, tritt in der Mißbräuchlichkeit des Arguments vollends hervor, wenn die deutsche Politik gegenüber den KurdInnen als weitreichende Unterstützung der AKP/MHP-Regierung in der Türkei manifest wird.

So wird die in Rojava mit viel Entschlossenheit und Mut vorangetriebene Politik der Geschlechtergerechtigkeit wenn nicht systematisch ignoriert, dann keinesfalls als in besonderem Maße verteidigenswert erachtet. Die Ermordung der kurdischen Frauenrechtlerin und Generalsekretärin der Future Syria Party, Hevrin Khalaf, am 12. Oktober in Rojava durch islamistische Milizen, die ihr Auto anhielten und ihren Fahrer und sie regelrecht hinrichteten, hatte für deutsche Medien keinen Nachrichtenwert. Man schaut angestrengt daran vorbei, daß der Haß islamistischer Mordschergen sich insbesondere gegen Frauen richtet, die die Unterwerfung unter das Diktat der religiös begründeten Männerherrschaft überwinden wollen. Was auf diesem Gebiet in Rojava etwa durch die programmatische Geschlechterparität in allen administrativen Ämtern und Funktionen bereits geleistet wird, geht deutlich weiter als die Verwirklichung der Frauenemanzipation in der Bundesrepublik. Vor dem Hintergrund dessen, daß kurdische und arabische Frauen gegen das in der Region immer noch in familiären und tribalistischen Strukturen tiefverwurzelte Patriarchat antreten, können die bereits erreichten Fortschritte gar nicht hoch genug bewertet werden.


Demo von einer Straßenbrücke aus - Foto: © 2019 by Schattenblick

Von Hamburg ...
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Demo im Display eines Smartphones - Foto: © 2019 by Schattenblick

... in alle Welt
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Solidarität auf die Straße tragen

Wie vermittelt man die Probleme einer Bevölkerung, die seit Jahren um ihr Leben kämpfen muß, einer Gesellschaft, die lebensbedrohliche Situationen üblicherweise nur aus dem Fernsehen kennt? Auf der Demonstration in Hamburg am 12. Oktober, zu der diverse Gruppen und Initiativen unter dem Motto "Solidarität mit den Menschen in Rojava, Solidarität mit der YPG und YPJ" aufgerufen hatten, wurde dies unter anderem dadurch versucht, die Mitverantwortung der deutschen Regierung für den türkischen Angriffskrieg kenntlich zu machen. Wenn dies auf offene Ohren getroffen sein sollte, so war davon nicht allzuviel mitzubekommen. Die Diskrepanz von sonnabendlichen Konsumfreuden und den Nöten von Menschen, deren Angehörige von türkischen Truppen und islamistischen Milizen bedroht werden, fiel wahrscheinlich nur denjenigen auf, die selbst betroffen waren oder sich vor Augen führten, daß die Unkenntnis der Bundesbürger ein Produkt von Nichtwissenwollen und Nichtwissensollen ist. Zwar kam es zu Solidaritätsbekundungen am Rande der Demo, so der langanhaltende Signalton, mit dem der Fahrer eines HVV-Zuges seine Zustimmung zum Anliegen der DemonstrantInnen kundtat. Doch auf der Prachtmeile des Jungfernstiegs und in der von den Glasfassaden der Kaufhäuser gesäumten Mönckebergstraße war den Mienen einiger PassantInnen zu entnehmen, daß sie diese Störung ihres Einkaufserlebnisses überhaupt nicht zu schätzen wußten.

Wie sollte es anders sein, wenn die blutigen Auswirkungen eines auf der Bewirtschaftung massiver Ungleichheit basierenden kapitalistischen Weltsystems die Komfortzone erreichen, wo, ungestört von den Schmerzen der dafür ausgebeuteten Menschen und Lebewesen, die Erträge neokolonialistischer Handelspolitik und einer transnationalen Klassengesellschaft verzehrt werden sollen, in der selbst deutsche Lohnabhängige noch als relativ privilegiert zu gelten haben. Die von deutschen Waffenschmieden ausgehende Aufrüstung der türkischen Streitkräfte wurde auf der Demo vielfach verurteilt, doch die engen Bande, aufgrund derer die Bundesregierung das Erdogan-Regime nach Kräften stützt, reichen tiefer und weiter. Tiefer im Sinne eines historischen Paktes, der dem deutschen Imperialismus Flügel verleihen sollte, seine mittelbare Beteiligung am armenischen Genozid bedingte und seit 150 Jahren, allen Belastungen durch NS-Faschismus und antimuslimischem Rassismus zum Trotz, Bestand hat. Weiter im Sinne zweier hochgradig miteinander verschränkten Wirtschaftssysteme, der die stetige Steigerung des Bruttoinlandsproduktes der Türkei durch den Außenhandel mit der Bundesrepublik ebenso geschuldet ist wie der anwachsende Kapitalexport der Bundesrepublik.


Transparent Klimaschutz statt Rüstungswahn - Foto: © 2019 by Schattenblick

Krieg und Klimakatastrophe zusammendenken
Foto: © 2019 by Schattenblick

Seit 2002 hat sich das BIP der Türkei verdreifacht, unter anderem begünstigt durch das Investitionsförderungsgesetz von 2004, das ausländische mit inländischen Investoren gleichstellt und die Privatisierung ehemaliger Staatsunternehmen massiv beschleunigt hat. Deutsches Kapital nimmt das relativ niedrige Lohnniveau in der Türkei in Anspruch, um Waren für den europäischen Markt herzustellen, deren Personalkosten hierzulande zu teuer wären. Die Bundesregierung sichert derartige Investitionen mit Hermes-Bürgschaften ab, die im Falle der Türkei das höchste Ausmaß dieser Form staatlicher Deckung privatwirtschaftlicher Risiken einnimmt.

Die Möglichkeiten der Berliner Regierung, Druck auf Ankara auszuüben, gehen also weit über den eher symbolpolitischen Stopp von noch nicht in Auftrag gegebenen Rüstungslieferungen an das Land hinaus. Auch daran ist zu messen, daß die Bundesregierung keinesfalls entschlossen ist, auf die Feststellung des völkerrechtswidrigen Charakters des Überfalls der Türkei auf Nordostsyrien Taten folgen zu lassen. Wieso auch, wenn die Aufrechterhaltung des PKK-Verbotes trotz der grundsätzlichen Revision der Ziele der Arbeiterpartei Kurdistans, die längst keine Abtrennung vom türkischen Staat mehr verlangt, und der Einstellung ihres militanten Widerstandes in der EU weiter besteht. Die auf die Symbole der in Rojava aktiven Partei PYD, der kurdischen Selbstverteidigungskräfte YPG/YPJ und diverser kurdischer Organisationen ausgedehnte Kriminalisierung der PKK hat sich längst, wie auch die in der Bundesrepublik geführten politischen Strafprozesse nach dem Organisationsstrafrecht 129 b gegen kurdische AktivistInnen zeigen, als willfährige Maßnahme zur Unterstützung des AKP/MHP-Regimes erwiesen.


Transparent gegen das PKK-Verbot - Foto: © 2019 by Schattenblick

Ohne PKK-Verbot kein Gesinnungsstrafrecht
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Wer abwartet, hat schon verloren

Die zahlreichen Verweise auf die große Bedeutung, die die Unterstützung der Türkei durch imperialistische Akteure für den Angriff auf Rojava spielt, änderten nichts daran, daß die auf der Hamburger Demo am meisten zu vernehmenden Sprechchöre darauf abzielten, Erdogan als Terroristen zu brandmarken. Was auf der Ebene persönlicher Betroffenheit allemal verständlich ist, trägt zugleich zu einer Verengung des Protestes auf die Person des Despoten bei, als sei dieser allein für die jüngste Aggression der türkischen Streitkräfte verantwortlich. Allein deren Befürwortung durch die kemalistische Oppositionspartei CHP zeigt, daß dem nicht so ist. Indem die linke HDP nun mit der Kritik an der Invasion in Nordsyrien alleingelassen wird, obwohl sie vor kurzem die Wahl des CHP-Bürgermeisters von Istanbul durch den Verzicht auf eine eigene Kandidatur ermöglichte, bietet die politische Opposition gegen das AKP/MHP-Regime nun das Bild eines Trümmerhaufens. Dieser Erfolg ist nicht nur dem Geschick Erdogans geschuldet, seine politischen Gegner gegeneinander auszuspielen, sondern wurzelt ebensosehr in einem türkischen Nationalismus, mit dem klassengesellschaftliche Widersprüche eingeebnet werden, um einer Entwicklung den Weg freizumachen, für die die ebenfalls häufig zu vernehmende Anklage eines türkischen Faschismus tatsächlich relevant wäre.

Bedeutsam ist dieser Nationalismus auch für die Mobilisierung türkischstämmiger BundesbürgerInnen und in Deutschland lebender TürkInnen zur Unterstützung des Krieges gegen Rojava. Die Abwesenheit aller im Bundestag vertretenen Parteien bis auf Die Linke auf der Hamburger Demo dürfte nicht zuletzt auf die Befürchtung zurückzuführen sein, es sich nicht mit einer der Türkei verbunden fühlenden Klientel in den eigenen Reihen zu verscherzen. Türkischstämmige Deutsche nehmen zudem höchste Posten in staatlichen Institutionen ein, die mit der politischen Verfolgung kurdischer AktivistInnen befaßt sind, wie etwa die Ernennung des Verwaltungsjuristen Sinan Selen zum Vizepräsidenten des Bundesamtes für Verfassungsschutz Anfang des Jahres zeigt.


Rede zum Auftakt der Demo - Foto: © 2019 by Schattenblick

Die GEW Hamburg ist an der Seite der Menschen in Rojava und kämpft dafür, daß dort der Frieden sofort wiederhergestellt wird. Ich bin vom Bleiberechtsausschuß der GEW. Wir kämpfen gegen Abschiebungen und für die Gleichberechtigung und Teilhabe aller Menschen in Hamburg im Bereich Bildung, Arbeit, Wohnen, der Kultur und der politischen Mitbestimmung. Genau das wird seit einigen Jahren in Rojava praktiziert und immer weiter ausgebaut - Karin Haas, GEW Hamburg
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Rede auf Abschlußkundgebung - Foto: © 2019 by Schattenblick

Es ist auch unsäglich, wenn genau zu Kriegsbeginn die Entscheidung bekanntgegeben wird, daß Volkswagen ein großes Autowerk in der Türkei errichten will. Damit wird das Erdogan-Regime noch zusätzlich stabilisiert. Das Gegenteil ist erforderlich. Die Bundesregierung und die EU müssen jetzt und unmittelbar die wirtschaftliche Zusammenarbeit stoppen - Reinhardt Schwandt, ver.di AK Frieden
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Nicht einmal die in Hamburg auf der Regierungsbank des Senats sitzenden Grünen, zu deren älteren Parteimitgliedern viele ehemalige AktivistInnen der Kurdistan-Solidaritätsbewegung zählen, haben Flagge gezeigt oder eine RednerIn entsandt. Als Außenminister Joseph Fischer vor 20 Jahren die deutsche Beteiligung am Angriffskrieg gegen Jugoslawien mit dem Argument legitimierte, es gelte, ein zweites Auschwitz zu verhindern, obwohl das, was die Belgrader Regierung im Kosovo anrichtete, bei weitem nicht den Grad an Zerstörungskraft erreicht hat, die türkische Regierungen seit Jahrzehnten gegen die kurdische Bevölkerung im eigenen Land wie in den Nachbarstaaten aufbringen, hob er damit das politische Kalkül der NATO-Staaten auf eine neue Ebene des Opportunismus. Wenn tatsächlich einmal genozidale Konsequenzen drohen, was die von Erdogan angekündigte Ansiedlung von bis zu vier Millionen Flüchtlingen in Nordsyrien zweifellos tut, glänzt der lodengrüne Furor eines Fischer durch Abwesenheit.

Ausgerechnet in einer von mehreren simultan verlaufenden Krisen erschütterten Zeit - der von faschistischen Kräften herausgeforderten und neoliberal entkernten Demokratie, der anwachsenden sozialen Ungleichheit in aller Welt, dem an seiner eigenen Expansion scheiternden Kapitalismus, der anwachsenden Zahl vor Hunger und Krieg flüchtender Menschen, der in vielen Regionen der Welt bereits manifesten Klimakatastrophe - dabei zuzuschauen, wie eines der wenigen Projekte vernichtet werden soll, das Aussicht auf eine menschenwürdige und die Natur schonende Form der Vergesellschaftung eröffnet, paßt aufs Beste zu der suizidalen Ignoranz nichtvorhandener Krisenbewältigung. Einfach abzuwarten, bis einem das Wasser buchstäblich bis zum Hals steht, kann zwar als urmenschliche Fluchtstrategie bezeichnet werden, ist aber von dementsprechend finaler Konsequenz. Sich solidarisch und kollektiv für die Verbesserung nicht nur des eigenen Lebens, sondern des aller Menschen einzusetzen muß in einer Gesellschaft konkurrenzgetriebener Atomisierung und systematischer Isolation vielleicht neu gelernt werden. Das entschiedene Eintreten für die Existenz des emanzipatorischen Projektes Rojava, auf welcher Ebene politischer Intervention und mit welchen Mitteln persönlicher Intervention auch immer, wäre ein Anfang.


Foto: © 2019 by Schattenblick Plakat - Foto: © 2019 by Schattenblick Plakat und Mann mit Tochter - Foto: © 2019 by Schattenblick

Vielfalt im Großen wie im Kleinen
Fotos: © 2019 by Schattenblick


Fußnoten:

[1] Nikolaus Brauns / Murat Cakir (Hg.): Partisanen einer neuen Welt - Eine Geschichte der linken und Arbeiterbewegung in der Türkei, Berlin 2018, S. 499

[2] Zur Entwicklung des Demokratischen Konföderalismus und eines neuen Internationalismus im Rahmen der kurdischen Freiheitsbewegung siehe auch Berichte und Interviews zu drei Konferenzen 2012, 2015 und 2017 in Hamburg mit den kategorischen Titeln
Kongreß Kurdischer Aufbruch, Kurdischer Aufbruch, Gegenwartskapitalismus unter
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15. Oktober 2019


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