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BERICHT/021: ECCHR - "Perspektiven der juristischen Menschenrechtsarbeit" (SB)


ECCHR - European Center for Constitutional and Human Rights e.V.

Einweihung des neuen Büros am 21. November 2009 in Berlin

Ausstellung 'Not For Sale' des Künstlers Hady Sy

Ausstellung "Not For Sale" des Künstlers Hady Sy

Die Institutionalisierung des internationalen Strafrechts ist von Widersprüchen geprägt, die im Verhältnis zwischen erwirkter Legalität und machtpolitischer Realität gründen. Die Durchsetzung der Menschenrechte erfolgt beim bisherigen Stand keineswegs nach Maßgabe ihrer Unteilbarkeit, sondern wird häufig durch die Interessen mächtiger staatlicher Akteure korrumpiert. Das gilt nicht nur für den Internationalen Strafgerichtshof für das ehemalige Jugoslawien (ICTY), vor dessen Schranken vor allem mutmaßliche Kriegsverbrecher serbischer Herkunft zitiert werden, dessen Prozeßführung von einer deutlichen Benachteiligung der Angeklagten geprägt ist und dessen Ankläger sich strikt weigerten, gegen Kriegsverbrechen der NATO zu ermitteln. Auch der seit Juli 2002 arbeitende Internationale Strafgerichtshof (ICC) unterliegt dem Manko, den in den Nürnberger Kriegsverbrecherprozessen zum "größten internationalen Verbrechen, das sich von anderen Kriegsverbrechen nur dadurch unterscheidet, daß es in sich alle Schrecken vereinigt und anhäuft", erklärten Aggressionskrieg bislang nicht zu verfolgen.

Das von Menschenrechtsorganisationen wie Amnesty International (AI) und Human Rights Watch (HRW) angestrebte Ziel, die Straflosigkeit staatlicher Akteure aufzuheben, um das Begehen von Menschenrechtsverletzungen wirksam zu verhindern, läuft damit Gefahr, politischen Zwecken unterworfen zu werden, die nicht im Sinne des Eintretens für die Opfer mächtiger Akteure sein können. Die ehemalige Chefanklägerin der Kriegsverbrechertribunale für das ehemalige Jugoslawien und für Ruanda sowie ehemalige UN-Hochkommissarin für Menschenrechte, Louise Arbour, prognostizierte im Juli 2002 auf einer rechtspolitischen Tagung in Berlin eine Entwicklung, die beim ICC tendenziell in eine Form "selektiver Straffreiheit" (Michael Mandel) mündet:

"Es ist nicht schwer vorauszusagen, daß dieses Gericht aufgrund seiner Voraussetzungen zur Ersatzgerichtsbarkeit der Dritten Welt werden wird. Daß die Gerichte in Ländern wie Sierra Leone oder Ruanda nach dem Völkermord nicht funktionieren, wird leicht zu beweisen sein, aber die Staaten der westlichen Welt und alle demokratisch regierten Länder werden die Zuständigkeit des Gerichts immer verhindern können, indem eigene nationale Gerichte tätig werden."

Vor diesem Hintergrund signalisierte die Ende 2004 vom New Yorker Center for Constitutional Rights (CCR) bei der Karlsruher Bundesanwaltschaft gegen den damaligen US-Verteidigungsminister Donald Rumsfeld und neun weitere US-amerikanische Regierungsbeamte und Militärs eingereichte Strafanzeige wegen Kriegsverbrechen und Verstoßes gegen die UN-Folterkonvention im Irak, daß Menschenrechtsanwälte wie CCR-Präsident Michael Ratner nicht bereit sind, das internationale Strafrecht zum legalistischen Arm aggressiver Großmächte verkommen zu lassen. Die Bundesanwaltschaft lehnte es jedoch bei dieser wie einer zweiten Anzeige ab, Ermittlungen nach dem deutschen Völkerstrafgesetzbuch einzuleiten. Sie berief sich darauf, daß das bei seinem Inkraftreten im Juli 2002 als große Errungenschaft bei der Verfolgung mutmaßlicher Kriegsverbrecher gefeierte Völkerstrafgesetzbuch lediglich als "Auffangzuständigkeit" zu verstehen sei, die erst dann tätig zu werden habe, wenn die Zuständigkeit nationaler und internationaler Gerichtsbarkeiten zu keiner Strafverfolgung führt.

Obwohl in den USA bis heute nur wenige niedrigrangige Angehörige der US-Streitkräfte wegen Folterungen und Kriegsverbrechen im Irak angeklagt und zu meist geringen Strafen verurteilt wurden, hat weder der ICC noch die deutsche Justiz Schritte unternommen, gegen die politisch Verantwortlichen der Bush-Regierung vorzugehen. Da deutsche Regierungen sich im Fall Jugoslawiens stets hinter die Zuständigkeit des ICTY gestellt haben, anstatt den Justizbehörden der postjugoslawischen Staaten die Strafverfolgung mutmaßlicher Kriegsverbrecher zu überlassen, zeigt sich nicht nur im Fall des NATO-Verbündeten USA, sondern auch der wegen des Überfalls auf Gaza des Begehens von Kriegsverbrechen bezichtigten israelischen Regierung, daß gewichtige politische Gründe gegen den Anspruch auf eine Beendigung der Kultur der Straflosigkeit sprechen.

Wolfgang Kaleck

Wolfgang Kaleck

Der an der Klage gegen Rumsfeld und andere auf deutscher Seite maßgeblich beteiligte Vorsitzende des Republikanischen Anwältinnen- und Anwältevereins (RAV), der Berliner Anwalt Wolfgang Kaleck, hat die negative Entscheidung der Bundesanwaltschaft damals mit den Worten kritisiert, daß sich der Generalbundesanwalt dem "Recht der Macht" beuge. Diese Erfahrung wird dazu beigetragen haben, daß Kaleck und andere Menschenrechtsanwälte in Zusammenarbeit mit dem CCR im Frühjahr 2007 das European Center for Constitutional and Human Rights (ECCHR) aus der Taufe gehoben haben. Als gemeinnützige und unabhängige Menschenrechtsorganisation will das ECCHR die den diversen Menschenrechtsdeklarationen entspringenden Rechtsansprüche mit juristischen Mitteln schützen und durchsetzen. Dabei versteht es sich als Teil der neuen sozialen Bewegungen und sieht sich als solcher "dem kreativen und effektiven Gebrauch des Rechts als Motor für gesellschaftliche und soziale Veränderungen verpflichtet" (zu weiteren Informationen siehe www.ecchr.de).

Am 21. November wurden die neuen Räumlichkeiten des ECCHR in Berlin-Kreuzberg im Beisein geladener Gäste mit einer Selbstdarstellung der Organisation, einer Debatte einiger Beiratsmitglieder zu den "Perspektiven der juristischen Menschenrechtsarbeit" und einer anschließenden Feier eingeweiht. ECCHR-Generalsekretär Wolfgang Kaleck klärte in seiner Ansprache darüber auf, daß man sich bei der Gründung des Vereins am Vorbild der American Civil Liberty Union (ACLU) und des CCR orientiert habe. Bei der Namenswahl habe man sich auf Anraten der amerikanischen Partner für einen europäischen Ansatz entschieden, was in Anbetracht der sich auf EU-Ebene herausbildenden Rechtsorgane zweifellos zukunftsweisend ist. Während das Netzwerk des ECCHR bisher vor allem auf Westeuropa beschränkt sei, habe man die erste Konferenz 2007 in Warschau zum Thema der CIA-Rendition-Flights veranstaltet. Heute sei man an den Ermittlungen zu den Geheimgefängnissen der CIA in Polen beteiligt.

Kaleck betonte, wie wichtig es sei, auch unter der neuen US-Administration nicht darauf zu verzichten, die für die Vergehen der Bush-Regierung verantwortlichen Politiker und Militärs vor Gericht zu bringen. Er verwies zudem auf die Bedeutsamkeit des Kampfes gegen die Folter, von der auch deutsche Justizbehörden profitierten, indem sie etwa im Fall der sogenannten Sauerlandgruppe in Ländern wie Kasachstan und Usbekistan unter Folter erlangte Zeugenaussagen verwendeten. Im Rahmen der Arbeit zu Menschenrechtsverletzungen transnationaler Konzerne setzt sich das ECCHR besonders für Betroffene in den Ländern des Südens ein, indem es mit dortigen Anwälten und sozialen Bewegungen zusammenarbeitet. Kaleck erwähnte in diesem Zusammenhang die Untersuchung des Exports von Überwachungstechnologie durch Siemens und Nokia in den Iran, die Beteiligung einer deutschen Firma an einem Dammbauprojekt im Sudan und die Produktion von Kleidung in Bangla Desh unter menschenfeindlichen Bedingungen im Auftrag des Unternehmens Lidl.

Im Mittelpunkt der Arbeit des ECCHR ständen zwar Prozesse zu Menschenrechtsfragen, nicht weniger wichtig seien jedoch Konferenzen, mit denen Öffentlichkeitsarbeit betrieben und ein Netzwerk gleichgesinnter Anwälte geknüpft werde. Neben der Arbeit auf den Feldern der universellen Justiz, der aus Terrorismusbekämpfung und wirtschaftlichen Interessen resultierenden Menschenrechtsverletzungen sowie der Genderthematik will man sich den Problemen von Flüchtlingen insbesondere an der Südgrenze der EU widmen.

Hannes Honecker, Michael Ratner

Hannes Honecker, Michael Ratner

Die Vorstellung des CCR-Präsidenten Michael Ratner, der als Vorsitzender des ECCHR firmiert, wurde von RAV-Geschäftsführer Hannes Honecker in Form eines Interviews moderiert. Da die Zeit viel zu kurz war, die umfassende Arbeit des 1966 im Rahmen der US-Bürgerrechtsbewegung gegründeten CCR zu würdigen, seien hier einige besonders profilierte Aktivitäten der Organisation erwähnt. Als aus den sozialen Kämpfen der sechziger Jahre erwachsene Organisation erhebt das CCR noch heute den Anspruch, sich der Rechtsprobleme sozialer Bewegungen anzunehmen und für die Interessen unterprivilegierter Minderheiten und Bürger vor Gericht aufzutreten. Seine Anwälte haben einen Großteil der gerichtlichen Auseinandersetzungen begleitet, denen politische Aktivisten in den USA aufgrund ihrer Opposition gegen Krieg, Rassismus und Kapitalismus ausgesetzt waren. So verteidigten sie erfolgreich die sogenannten Chicago 8, die nach der berühmten Demonstration im Jahr 1968 während des Parteitags der Demokraten in Chicago wegen Verschwörung und Anstiftung zum Aufstand angeklagt wurden. CCR-Mitbegründer William Kunstler war einer der bekanntesten Bürgerrechtsanwälte der sechziger Jahre, der noch vor Gründung des CCR die Freedom Riders verteidigte, die im Süden der USA gegen die Rassentrennung demonstrierten und dabei häufig verhaftet wurden. Zu seinen Mandanten zählten viele prominente schwarze Aktivisten wie Stokely Carmichael, Angela Davis und Martin Luther King. Kunstler vertrat auch die wegen der Beteiligung an der Knastrevolte in Attica angeklagten Gefangenen und das American Indian Movement in seinem Kampf gegen die US-Regierung in Wounded Knee.

Seit den Anschlägen des 11. September 2001 widmet sich das CCR in besonderer Weise den in US-Folterlager verschleppten Opfern des sogenannten Global War on Terror und geht gegen die drastische Erosion der Bürgerrechte in den USA, die durch die Obama-Administration keineswegs rückgängig gemacht wurde, vor. Das, so führte Michael Ratner aus, habe die Organisation sehr verändert, da sie nun vor allem mit Problemen wie dem der Mißachtung des Habeas Corpus-Rechts, also des Rechts auf Haftprüfung, und anderen Verletzungen grundlegender Rechte von Gefangenen und Bürgern beschäftigt sei. Dennoch fühle er sich der Tradition progressiver sozialer Bewegungen verbunden, mit denen die Geschichte des CCR begann. Das CCR habe die Arbeit bei Gericht stets als Ausdruck politischen Engagements und Element sozialer Bewegungen verstanden, bei der es, wie im Fall rassistischer Gesetze in den Südstaaten der USA, unter anderem darum geht, das Recht selbst zu verändern.

In diesem Zusammenhang sei es für Bürgerrechtsanwälte durchaus von Bedeutung, etwa im Rahmen der Antikriegsbewegung Prozesse anzustrengen, auch wenn man sie absehbar verliert, um Öffentlichkeit für die Sache herzustellen und Veränderungen in Rechtsprechung wie Politik zu erreichen. Allerdings habe man in jüngster Zeit immer mehr Fälle gewonnen, weil die Situation durch die USA irgendwo auf der Welt gefangengenommener und in Lager verschleppter Menschen sich so sehr verschlechtert habe, daß selbst US-Gerichte sich genötigt sehen, zugunsten der Betroffenen zu entscheiden. Das CCR hat bereits Anfang 2002 die ersten Klagen von Guantanamo-Gefangenen eingereicht, obwohl dies in der aufgeheizten Stimmung der damaligen Zeit ein in der US-Bevölkerung äußerst unpopulärer, um nicht zu sagen verhaßter Schritt war. Der Fall des nach Guantanamo verschleppten Briten Shafiq Rasul hat Rechtsgeschichte geschrieben, entschied der Supreme Court doch letztinstanzlich, daß Bürger anderer Staaten, die auf Kuba in Guantanamo gefangengehalten werden, den Anspruch besitzen, vor US-Gerichten gegen ihre widerrechtliche Inhaftierung zu klagen. Laut Ratner hat der US-Kongreß jedoch stets mit Hilfe neuer Gesetze versucht, die für die Gefangenen erstrittenen Erfolge null und nichtig zu machen. So wurde das im Fall Rasul erstrittene Recht 2006 durch den Military Commissions Act (MCA), ein besonders monströses Werk rechtsförmiger Repression, wieder aufgehoben. Daraufhin nahm sich das CCR des Falls des Gefangenen Lakhdar Boumediene an, dem 2008 letztinstanzlich vom Supreme Court in Washington die Inanspruchnahme des Habeas Corpus-Rechts zugestanden wurde, so daß der MCA dementsprechend verändert werden mußte.

Michael Ratner

Michael Ratner

Gefragt nach dem Stand der Dinge unter der Obama-Administration konnte Ratner keine Entwarnung geben. Die USA hätten das Gewebe der Menschenrechte vollständig zerrissen, was den Regierungen anderer Staaten in Notstandssituationen Anlaß gebe, Gefangene unbefristet festzuhalten und zu foltern. Erst wenn es in den USA zur Strafverfolgung der, wie Ratner es nennt, "Folterverschwörung" käme, könnten die destruktiven Auswirkungen dieser Entwicklung aufgehalten werden. Die USA hätten die Uhr im Fall der Menschenrechte wahrscheinlich um mehrere hundert Jahre zurückgedreht, so die so pessimistische wie realistische Einschätzung des CCR-Präsidenten.

Um nicht den Eindruck zu erwecken, daß das CCR nur mit Fällen in der Folge von 9/11 befaßt ist, stellte er weitere Aktivitäten der Organisation vor, bei denen Menschen vertreten werden, die durch Wirtschaftskonzerne geschädigt werden oder rassistischen Anfeindungen ausgesetzt sind. Dabei hob er einen vom CCR im Jahr 1980 verlorenen Fall hervor, bei dem es um das Recht mittelloser Frauen auf Abtreibung ging. Heute nun, so Ratner als Beispiel für die Rückständigkeit der USA, setzt der Kongreß durch, daß bei der Reform der Krankenversicherung auf keinen Fall finanzielle Unterstützung für Abtreibungen in sozial indizierten Fällen gewährt werden soll. Prozesse, in denen zugunsten der ökonomischen und sozialen Interessen unterprivilegierter Gruppen entschieden werden soll, hätten in den USA kaum Aussicht auf Erfolg. Die sozialen Rechte der Bevölkerung würden weitgehend durch politische Rechte überformt, da die Meinung vorherrscht, mit dem Wahlrecht hätten sich auch alle anderen Probleme erledigt. Ratner hält es für eine Fehleinschätzung der US-amerikanischen Menschenrechtsbewegung, daß sie sich vor allem auf politische und bürgerliche Rechte konzentriert, anstatt ökonomische und soziale Rechte in den Mittelpunkt ihrer Arbeit zu stellen.

Florian Jeßberger, Monika Lüke, Miriam Saage-Maaß, Reed Brody

Florian Jeßberger, Monika Lüke, Miriam Saage-Maaß, Reed Brody

Bei der Einleitung der anschließenden Podiumsdiskussion zu den "Perspektiven der juristischen Menschenrechtsarbeit" legte Miriam Saage-Maaß, ECCHR-Program Manager für Business and Human Rights, Wert auf die Feststellung, daß man bei der juristischen Menschenrechtsarbeit nicht nur die Dimension des jeweils zu verhandelnden Falles im Auge haben sollte, sondern daß es idealerweise darum geht, die öffentliche Debatte um die jeweils in Frage gestellten Rechte zu eröffnen und so soziale und politische Veränderungen zu erwirken. Die Zusammenarbeit mit den Betroffenen und ihrem Umfeld wäre wesentlich für die Arbeit des ECCHR, um deren Forderungen und Interessen besser vertreten zu können.

Reed Brody von Human Rights Watch betonte anhand des Beispiels der erfolgreich eingeleiteten Strafverfolgung gegen den ehemaligen chilenischen Militärdiktator Augusto Pinochet, wie wichtig die politischen Rahmenbedingungen für die juristische Menschenrechtsarbeit seien. Ohne die Unterstützung einflußreicher politischer Akteure wie in diesem Fall die Regierungen Spaniens und Britanniens wären derartige Erfolge für die Anwälte kaum zu erzielen. Als Negativbeispiel führte er die Ablehnung der beiden gegen Rumsfeld und andere eingereichten Klagen in der Bundesrepublik an.

Die Beispiele verweisen allerdings auch auf Opportunitätskriterien, die Einfluß auf die Auswahl der jeweiligen Causa haben könnten. So bestand im Falle Pinochets ein breiter internationaler Konsens über den verbrecherischen Charakter seines Regimes. Seine Strafverfolgung zu unterstützen, konnte daher anderen Regierungen helfen, eigene Praktiken fragwürdigen Charakters in einem besseren Licht erscheinen zu lassen. Dennoch mußte sich die Regierung Blair eher zum Jagen tragen lassen, als daß sie die Auslieferung Pinochets, eines erklärten Freundes der ehemaligen Premierministerin Margaret Thatcher, offensiv betrieben hätte. Die US-Regierung wiederum verstand es, die eigene Beteiligung am Putsch gegen Salvador Allende und die Installierung einer Militärdiktatur in Chile bei der Freigabe von Dokumenten für die Anklageerhebung gegen Pinochet außen vor zu lassen. In Washington zog man sich auf die Sprachregelung zurück, in der Vergangenheit Fehler begangen zu haben, weil man nicht richtig aufgepaßt habe. Mit dieser verharmlosenden Behauptung hat man nicht nur das eigene Licht unter den Scheffel einer falschen Unschuld gestellt, man konnte sogar im Umkehrschluß interventionistische Vorwandslagen erwirtschaften. Das wäre nicht möglich gewesen, wenn der imperialistische Charakter der damaligen US-Politik in Lateinamerika ins Zentrum des Pinochet-Falls gerückt worden wäre.

Daß die Bundesrepublik im Rumsfeld-Fall den USA nicht die Stirn bieten konnte, hat zum einen damit zu tun, daß das Völkerstrafgesetzbuch kaum dazu gedacht war, als Rechtsmittel gegen NATO-Verbündete eingesetzt zu werden. Entstanden im politischen Kontext des Angriffs der NATO auf Jugoslawien und des dabei erfolgten Einsatzes des ICTY als Instrument zur Kriminalisierung der gegnerischen Führung sollte es vor allem die Handlungsfähigkeit der deutschen Außenpolitik durch die legalistische Überformung profaner Interessenpolitik stärken. Als die rot-grüne Bundesregierung bei der Einschaltung des Internationalen Gerichtshofs (ICJ) gegen den Bau der Trennmauer auf palästinensischem Gebiet durch Israel mahnte, man müsse bei der Verrechtlichung der internationalen Beziehungen darauf achten, "dass die rechtlichen Instanzen nicht überstrapaziert werden" (Süddeutsche Zeitung, 04.02.2004), artikulierte sie einen exemplarischen Vorbehalt gegen die Anwendung internationalen Rechts. Unterstützt wird es in Fällen, in denen es den eigenen bündnispolitischen und geostrategischen Interessen zuarbeitet, kritisiert wird es, wenn es diesen entgegenläuft. Bislang hat sich in Fällen, in denen sich die Inanspruchnahme des Weltrechtsprinzips durch die Justizbehörden westlicher Staaten antagonistisch zu den Leitlinien ihrer Politik entwickelte, stets erwiesen, daß man Mittel und Wege findet, den Anspruch der Betroffenen auf Gerechtigkeit zu negieren.

Zum andern ist die negative Entscheidung der Bundesanwaltschaft im Fall Rumsfeld das Ergebnis einer bilateralen Zusammenarbeit, die etwa im geheimdienstlichen Informationsaustausch durchaus Formen einer die Interessen der eigenen Bürger ignorierenden Kollaboration mit einem Staat annimmt, der auch unter Präsident Barack Obama Formen exekutiver Ermächtigung aufrechterhält, die sich mit den rechtsstaatlichen Grundlagen der Bundesrepublik nicht in Übereinstimmung bringen lassen. Nimmt man nur die jüngste Rede der Bundeskanzlerin Angela Merkel vor dem US-Kongreß in Washington, in der sie die Bundesrepublik und die Vereinigten Staaten unter eine "gemeinsame Wertebasis" subsumiert, die "in der einzigartigen transatlantischen Partnerschaft und der Wertegemeinschaft der NATO" (03.11.2009, Presse- und Informationsamt der Bundesregierung) die ideologischen und operativen Maßgaben staatlichen Handelns setzt, dann deutet sich eine Erosion verfassungsrechtlicher Prinzipien von höchst bedrohlicher Art an.

Die Beispiele zeigen, daß die politische Determination menschenrechtlicher Arbeit nicht der Beliebigkeit staatlicher Interessen und gesellschaftlicher Verhältnisse überlassen werden darf, sondern nach streitbarer Einmischung in die hegemonialen politischen Diskurse verlangt. Andernfalls laufen Menschenrechtler Gefahr, ins Fahrwasser konträrer politischer Zwecke und Ziele zu geraten, so daß man nur dem Wunsch Michael Ratners beipflichten kann, der die Anwälte wieder mehr auf der Straße an der Seite sozialer Bewegungen sehen will.

Die Generalsekretärin der deutschen Sektion von Amnesty International, Monika Lüke, hob die Bedeutung der politischen Lobbyarbeit im Anschluß an die Menschenrechtsprozesse, an denen ihre Organisation teilhat, hervor. Ihrer Ansicht nach sorgen rechtliche Interventionen darüberhinaus dafür, vorhandene Rechtsstandards zu schützen. Lüke belegte dies mit Fällen, in denen sich Amnesty gegen die Verwendung von Beweismaterial engagierte, die unter Folter erlangt wurden.

Das ECCHR-Beiratsmitglied Florian Jeßberger, Professor für Internationales Strafrecht und Strafrechtsvergleichung an der Humboldt-Universität zu Berlin, gab zu bedenken, daß der ICC sich in einer kritischen Phase befindet, da seine Arbeit kaum Ergebnisse erzielt. Das gleiche gelte für nationale Instanzen der universellen Justiz, die zu motivieren und unterstützen eine zentrale Aufgabe des ECCHR wäre.

Auf die Kritik der Moderatorin Saage-Maaß, daß die Interessen der Opfer unter die Räder einer zu langsam arbeitenden internationalen Strafjustiz gerieten, führte Monika Lüke das Beispiel des Rote-Khmer-Tribunals in Kambodscha an. Dort erwüchse den Opfern bereits aus der aktiven Teilnahme an den Verhandlungen und der sich daraus ergebenden gesellschaftlichen Diskussion so viel Genugtuung, daß sie nicht auf eine finanzielle Kompensation oder das schnelle Erreichen eines Urteils angewiesen wären.

Jeßberger erinnerte in seiner Entgegnung daran, daß es sich auch bei internationaler Justiz um Strafrechtsverfahren mit dem Ziel handelt, Menschen hinter Gitter zu bringen. Daher gehe es auch beim ICC vor allem darum, daß der Prozeßverlauf fair sei und auch auf diese Weise wahrgenommen werde.

Reed Brody gab zu bedenken, daß internationales Recht zwar im Trend liegt, man jedoch Gefahr läuft, zu viel Gewicht auf diese Institution zu legen. So verhandle der ICC mit seinem Stab von tausend Mitarbeitern lediglich zwei Fälle. Andererseits könnten die Kosten keine Rolle spielen, so Brody unter Verweis auf die produktive Rolle der Nürnberger Kriegsverbrecherprozesse. Wichtiger als die Bestrafung der Angeklagten sei, daß Opfern wie Tätern damit gezeigt würde, daß derartige Verbrechen nicht ungesühnt bleiben. In diesem Zusammenhang erwähnte Brody auch das Problem der doppelten Standards, wie sie sich etwa in den Fällen Pinochet und Rumsfeld gezeigt hätten. So habe man das belgische Gesetz zur universellen Justiz großartig gefunden, als es auf Tatverdächtige aus Ruanda angewandt wurde. Als Ariel Sharon, US-General Tommy Franks und Donald Rumsfeld auf seiner Grundlage zur Rechenschaft gezogen werden sollten, hätte der US-Verteidigungsminister damit gedroht, daß die NATO dann in einem anderen Land als Belgien angesiedelt werden müsse, weil man als Beschuldigter nicht mehr an ihren Treffen teilnehmen könne. Daraufhin sei das Gesetz wie ein Kartenhaus in sich zusammengebrochen, was einen Beamten im belgischen Außenministerium zu der Äußerung veranlaßt habe, er wisse nun, wie es sich anfühlt, in einer Bananenrepublik zu leben.

Abschließend erhob Brody die Frage, ob man in der Lage sei, Gerechtigkeit für die palästinensischen Opfer in Gaza zu schaffen, zum Prüfstein für die Glaubwürdigkeit des internationalen Rechts. Mit dieser nüchternen Bilanz legte der HRW-Aktivist Zeugnis davon ab, daß sich Menschenrechtsanwälte allemal der politischen Fallstricke ihrer Arbeit bewußt sind. Nicht zuletzt das Beispiel Gaza und die gegen HRW seitens der Parteigänger Israels erhobenen Vorwürfe zeigen, daß versucht wird, aus politischen Gründen aktiv Einfluß auf Menschenrechtsaktivisten zu nehmen, um ihre Arbeit zu behindern oder zu manipulieren. Sich demgegenüber unter Verweis auf die Neutralität des Rechts freizuhalten, anstatt von vornherein Position für die Schwächeren zu beziehen, scheint jedenfalls nicht davor zu schützen, dennoch zum Ziel von Intrigen und Denunziationen zu werden.

Nach der Debatte um die Frage, ob man mit verlorenen Prozessen auch negative Präzedenzwirkung erzeugen könne, meldete sich ein Zuhörer zu Wort, der die Einseitigkeit der internationalen Justiz am Beispiel des in Afghanistan von einem deutschen Offizier befohlenen Luftangriffs auf zwei in einem Flußbett festgefahrene Tanklastzüge beklagte. Brody führte einmal mehr das Beispiel des Rumsfeld-Falls an, um deutlich zu machen, daß es eine Frage des politischen Willens sei, in einem solchen Fall Anklage zu erheben. Man müsse die politischen Voraussetzungen dafür schaffen, daß derartige Fälle vor Gericht gebracht werden, so Brody unter Verweis darauf, daß er selbst an der Ausarbeitung der Klage gegen Rumsfeld und andere beteiligt war. Obwohl diese sehr gut begründet war, sei man am nichtvorhandenen politischen Willen gescheitert.

Aus dem Publikum ergänzte die für Deutschland zuständige HRW-Direktorin Marianne Heuwagen die Frage nach der Untersuchung des Luftangriffs vom 4. September mit der Information, daß diese bereits auf Grundlage des Völkerstrafgesetzbuches von der Bundesanwaltschaft eingeleitet worden sei. Sie glaube allerdings nicht, daß es zu einer Anklageerhebung kommt, da man dem Kommandanten nachweisen müsse, daß er die betroffenen Zivilisten absichtlich habe umbringen lassen. Weil entsprechende Vorkommnisse stets untersucht würden, müsse man den Strafverfolgungsbehörden zumindest in diesem Fall attestieren, daß sie ihre Arbeit verrichteten, nahm Heuwagen die Bundesanwaltschaft in Schutz. Wenn man die Details des Luftangriffs kennt und von den Alternativen weiß, die der Bundeswehr in diesem Fall zur Verfügung standen, kann man sich kaum vorstellen, daß es keine offensivere Möglichkeit der Strafverfolgung gibt.

Mit der aus dem Publikum gestellten Frage danach, ob die Kriege in Afghanistan und im Irak nicht hätten verhindert werden können, wenn man nach dem 11. September 2001 auf das Angebot der Taliban eingegangen wäre, Osama Bin Laden bei Vorlage entsprechender Beweise auszuliefern, um ihm den Prozeß machen zu können, und dem Verweis darauf, daß die von der US-Regierung damals angekündigte Präsentation der Beweise für seine Täterschaft bis heute nicht erfolgt ist, ging die Podiumsdiskussion zuende. Mit der Eröffnung einer Ausstellung des Künstlers Hady Sy, der sich gegen die weltweite Verbreitung von Kleinwaffen engagiert, und einer Party wurde die Einweihung der neuen Räumlichkeiten des ECCHR fortgesetzt.

... dem Gewaltproblem auf den Grund gehen

... dem Gewaltproblem auf den Grund gehen

Der Besucher erhielt einen authentischen Einblick in die Probleme, die sich Menschenrechtlern bei dem Versuch stellen, auf von massiven Interessen mächtiger Akteure besetzten Feldern den Anspruch des internationalen Rechts zugunsten von Menschen durchzusetzen, die im Unterschied zu den Tätern in der Regel weder über politischen noch ökonomischen Einfluß verfügen. Zwar erhebt die universelle Justiz den Anspruch, diese konstitutive Ungleichheit wenn schon nicht aus der Welt zu schaffen, dann zumindest in einem positiven Sinn zu regulieren. Dennoch bleibt die Frage offen, wie Menschenrechtsanwälte aus Staaten, die in den Ländern des Südens eigennützige Interessen verfolgen und zu deren Durchsetzung auch vor Krieg nicht zurückschrecken, den Vorwurf widerlegen, diesen Interessen indirekt zuzuarbeiten, schon indem sie den Anspruch westlicher Staaten auf die Universalität der eigenen Normen und Werte legitimieren.

Das wesentliche Manko des internationalen Strafrechts besteht darin, daß es für das Verbrechen des Aggressionskriegs, das bei den Nürnberger Kriegsverbrecherprozessen im Mittelpunkt stand, nach wie vor keine Jurisdiktion im beanspruchten Sinne individueller Strafbarkeit gibt. Den seine Glaubwürdigkeit beschädigenden doppelten Standards liegt nicht nur die Abwehr aller Versuche zugrunde, Politiker und Militärs westlicher Staaten mit gleicher Elle zu messen wie ihre Kollegen in den Ländern Afrikas, Asiens und Lateinamerikas. Die Ungleichbehandlung basiert auf einem ökonomisch wie militärisch gesicherten Gewaltverhältnis, das bestimmten Akteuren das Privileg an die Hand gibt, die rechtlichen und ethischen Parameter zu bestimmen, nach denen andere sich zu richten haben. Dies wird von großen Teilen nicht nur der Bevölkerungen, sondern auch der Eliten in den Ländern des Südens als ungerecht und demütigend empfunden.

Das Gewaltverbot der UN-Charta wurde 1974 durch die UN-Generalversammlung in einer ohne Gegenstimme angenommenen Resolution präzisiert, deren Definition des Angriffskrieges sich wesentlich am Nürnberger Kriegsverbrecherprozeß orientierte. Jede "Anwendung von Waffengewalt durch einen Staat, die gegen die Souveränität, die territoriale Unversehrtheit oder die politische Unabhängigkeit eines anderen Staates gerichtet oder sonst mit der UN-Charta unvereinbar ist", gilt demgemäß als völkerrechtswidrige Aggression. Man statuierte kategorisch, daß "keine Überlegung irgendwelcher Art, sei sie politischer, wirtschaftlicher, militärischer oder sonstiger Natur", als "Rechtfertigung für eine Aggression dienen" könne.

Selbst viele Unterzeichnerstaaten des Rom-Statuts zum ICC schrecken vor dem Schritt zurück, die eigene militärische Handlungsfreiheit durch ein strafbewehrtes Gewaltverbot einschränken zu lassen. Den Widerspruch zwischen staatlicher Machtpolitik und universalem Rechtsanspruch hat der Philosoph Jean-Paul Sartre schon am 2. Mai 1967 in seiner Eröffnungsrede zum internationalen Vietnam-Tribunal in Stockholm unter Verweis auf die Nürnberger Prozesse auf den diese Regierungen schmerzenden Punkt gebracht:

"Ab 1939 überzogen die Furien Hitlers die Welt mit derartiger Gefahr, daß die Alliierten entsetzt beschlossen, im Falle des Sieges über die Aggressionskriege und die Eroberung, die Mißhandlung an Gefangenen, die Foltern, die rassistischen Praktiken sogenannten 'Völkermords' zu urteilen und sie zu verurteilen, wobei sie nicht bemerkten, daß sie damit über sich selbst und ihre Praktiken in den Kolonien das Urteil sprechen würden." (Russel, Sartre
(Hg.): Das Vietnam-Tribunal oder Amerika vor Gericht, Reinbek bei Hamburg, 1968)

Sartre hatte damals das schwerwiegende Versäumnis beklagt, das Nürnberger Tribunal nicht zu einer ständigen Einrichtung weiterzuentwickeln, um etwa die Verbrechen der Kolonialmächte verfolgen zu können. Deren dominante Stellung verhinderte dies, denn wer wollte schon wagen, "die Wiedereinrichtung eines Gerichts zu fordern, dessen erste Aufgabe es zweifellos wäre, eine Untersuchung des vietnamesischen Konflikts anzuordnen?" Die Antwort des Philosophen auf dieses Versäumnis bestand in der Forderung, ein "wahres Volksgericht" zu schaffen, das als Organ des Volkssouveräns auch die Staatsmacht belangen könne. Für das aus dem Widerspruch zwischen exekutiver Ermächtigung und rechtlichem Anspruch entstandene Vietnam-Tribunal gelte daher, "daß seine Legitimität sich gerade aus seinem vollkommenen Mangel an Macht und aus seiner Universalität ableitet".

Sartre war sich des Problems bewußt, daß das Vietnam-Tribunal keine Wirkung zeitigen konnte, da es über keine Möglichkeit verfügte, seine Erkenntnisse in strafende Gewalt umzuwandeln. Es gehe den Beteiligten daher darum, "allen die Notwendigkeit einer internationalen Institution sichtbar zu machen, einer Institution, die weder die Mittel noch den Ehrgeiz hat, das jus contra bellum zu ersetzen, sondern deren Ziel es sein wird, das in Nürnberg zu früh geborene Gesetz zum Leben zu erwecken und für das Recht des Dschungels ethische und juristische Regeln einzusetzen". Rein theoretisch hätte das ICC die Frucht seiner Bemühungen sein können, doch ist anzunehmen, daß Sartre sich im Grabe umdrehen würde, wenn er erlebte, daß das internationale Strafrecht unter die Kuratel von Interessen zu geraten droht, gegen die dort eigentlich verhandelt werden sollte.

Unentschieden bleibt allemal, ob die Mahnung des ehemaligen Chefanklägers bei den Nürnberger Kriegsverbrecherprozessen, Robert Jackson, aus seiner berühmten Eröffnungsrede vom 21. November 1945 ernstgenommen werden wird:

"Wir dürfen niemals vergessen, daß nach dem gleichen Maß, mit dem wir die Angeklagten heute messen, auch wir morgen von der Geschichte gemessen werden. Diesen Angeklagten einen vergifteten Becher reichen bedeutet, ihn an unsere eigenen Lippen zu bringen."

26. November 2009