Schattenblick →INFOPOOL →POLITIK → REPORT

BERICHT/049: Moshe Zuckermann in Kiel ... ein heißes Eisen behutsam angefaßt (SB)


"ANTISEMIT!" Ein Vorwurf als Herrschaftsinstrument

Vortrag und Diskussion am 19. November 2010 in Kiel

Moshe Zuckermann beim Vortrag - © 2010 by Schattenblick

Moshe Zuckermann
© 2010 by Schattenblick
Der zu den namhaftesten Linksintellektuellen Israels zählende Soziologe und Historiker Prof. Dr. Moshe Zuckermann war kürzlich zu Gast in Kiel, wo er im Landeshaus seine jüngste Publikation vorstellte. Veranstalter waren der Flüchtlingsrat Schleswig-Holstein e.V., die Landeszentrale für politische Bildung Schleswig-Holstein und die SPD-Fraktion im schleswig-holsteinischen Landtag. Moderiert wurde der Abend von Iris Hefets, die dem Vorstand der "Jüdischen Stimme für einen gerechten Frieden" angehört. Sie hat Israel vor acht Jahren aus politischen Gründen verlassen und lebt heute in Berlin. Die einleitenden Worte sprach Martin Link vom Flüchtlingsrat.

Mit seiner kritischen Analyse der Instrumentalisierung des Antisemitismusvorwurfs nimmt Moshe Zuckermann eines der heißesten Eisen der bundesdeutschen Nahostpolitik und des kontroversen Verhältnisses zu Israel aufs Korn. Dies ließ eine erregte öffentliche Debatte, wenn nicht gar einen Sturm der Entrüstung erwarten - doch weit gefehlt. Von wenigen Ausnahmen abgesehen ignorieren die Medien die brisante Neuerscheinung, und dem Lager der Unterstützer israelischer Regierungspolitik scheint es die Stimme verschlagen zu haben.

Da Zuckermanns profilierte Position kein Geheimnis ist und die Thematik seines aktuellen Werks einem Stich ins Wespennest gleicht, ist kaum anzunehmen, daß diese Veröffentlichung den Radar der allzeit wachsamen Hüter israelisch-deutscher Staatsräson unterläuft und schlichtweg nicht wahrgenommen wird. Eher schon kann man vermuten, daß die inhaltliche Qualität der Publikation die potentielle Gegnerschaft vor unüberwindliche Hindernisse stellt. Statt sich mangels überzeugender Einwände selbst ein Armutszeugnis auszustellen, scheint man sich darauf verlegt zu haben, das Ärgernis totzuschweigen, um keine Nachdenklichkeit oder gar einen Stimmungswandel der breiteren Öffentlichkeit zu riskieren.

Moshe Zuckermann und die interessierten Zuhörer im gut gefüllten Schleswig-Holstein Saal des Landeshauses hielt das nicht davon ab, gemeinsam zentrale Thesen zu entwickeln und in der anschließenden ausgiebigen Diskussion zu erörtern. Wie immer aus dem Vollen schöpfend, mußte sich der Autor auf einige wenige wesentliche Gesichtspunkte beschränken, um den seinem Vortrag eingeräumten Rahmen nicht zu sprengen. Da Zuckermann gern mit seinen Zuhörern in Kontakt tritt, erwies sich als glückliche Wahl, der Debatte ungewöhnlich breiten Raum zu geben. So konnten Fragen, Einwände und Zweifel in angemessenem Umfang geäußert und aufgegriffen werden, weshalb man dem angeregten und zugewandten Gespräch mit dem Publikum Ansätze einer Streitkultur attestieren kann, welche die ansonsten gerade in diesem thematischen Kontext verfestigten Grabenkämpfe und Bezichtigungen vermissen lassen.

Moshe Zuckermann beim Vortrag - © 2010 by Schattenblick

Das Thema verlangt dem Referenten einiges ab ...
© 2010 by Schattenblick

Wie Zuckermann eingangs hervorhob, gehe es um ein heikles Problem, das ein Großteil der deutschen Bevölkerung gar nicht als solches wahrnimmt. Antisemitismus müsse bekämpft werden, wo immer er auftritt, doch gelte es auch zu diskutieren, daß der Vorwurf des Antisemitismus instrumentalisiert und damit ein neues Problem geschaffen wird, das mit der ursprünglichen Widerspruchslage kaum noch etwas zu tun hat. Zwei zentrale Kategorien entschlüsselte der Referent in seinem Vortrag, nämlich Instrumentalisierung und inflationären Gebrauch des Begriffs Antisemitismus, was er anhand aufschlußreicher Beispiele erläuterte. Unter Instrumentalisierung ist die Vereinnahmung für einen Zweck zu verstehen, der mit dem Inhalt nichts zu hat. Beschimpft man in diesem Zusammenhang jemanden als Antisemiten, so geschieht das in der Absicht, ihn mit diesem Vorwurf einzuschüchtern.

Als die israelischen Streitkräfte 1982 in den Libanon eindrangen, ließ der damalige Verteidigungsminister Ariel Sharon die Truppen eigenmächtig über die geplante "Schutzzone" von 40 Kilometern hinaus bis nach Beirut vorrücken. Dort wurden Arafat und seine Leute eingeschlossen, was Premierminister Menachem Begin mit den Worten kommentierte, man habe es endlich geschafft, Hitler in seinem Bunker einzukesseln. Die Gleichsetzung Arafats mit Hitler und der Palästinenser mit den Nationalsozialisten ungeachtet der Übermacht der israelischen Armee setzte Begin damals gezielt ein, um den militärischen Vorstoß für die eigene Bevölkerung akzeptabel zu machen, was auch gelang.

Als ein weiteres griffiges Beispiel für Instrumentalisierung führte Zuckermann die Strategie Sharons in dessen Zeit als Premierminister an, jede Kritik aus Europa mit Antisemitismus gleichzusetzen. Mit der Finte, so könne man verstehen, wie es zur Shoah kam, diskreditierte Sharon, was eigentlich nicht wegdiskutiert werden konnte. Man brauchte sich nicht mit den Einwänden auseinandersetzen und schmiedete Israel gegen vermeintlich bösartige Angriffe enger zusammen.

Was nun den inflationären Gebrauch des Begriffs Antisemitismus betrifft, so erinnerte Zuckermann daran, daß Adorno in seiner Auseinandersetzung mit Auschwitz von dem Unsäglichen sprach, da dieser Zivilisationsbruch für ihn so einzigartig und katastrophisch war, daß jede Belegung mit einem Namen nur dazu führen konnte, zur Tagesordnung überzugehen. Damit wird das entscheidende Moment der unabgeschlossenen Frage nach der Genese massenmörderischer Gewalt entsorgt, wie es längst der Fall ist, wenn der Begriff "Genozid" auf der Agenda der UNO abgehakt wird. Der inflationäre Gebrauch derart zentraler Begriffe sei dann besonders schlimm, wenn er zum Totschlagargument gerät. Belegt man alles und jedes mit der Kategorie Antisemitismus, bekommt diese Inflation Zuckermann zufolge eine ideologische Funktion.

In Israel setzte die Instrumentalisierung von Antisemitismus und Shoah sehr früh ein, da sich der Zionismus durch ein ambivalentes Verhältnis dazu auszeichnet. Einerseits entstand der klassische Zionismus in Europa wegen des Antisemitismus, den er bekämpfte. Andererseits war dessen Existenz aber Sinn und Zweck des Zionismus. Man brauchte und benutzte den europäischen Antisemitismus, um die Einwanderung ins gelobte Land für unabdingbar zu erklären und zugleich die Überzeugung zu befördern, daß die ganze Welt gegen Israel sei.

Wenngleich der Zionismus seine empirische Rechtfertigung aus der Shoah bezog, konnte er mit den Überlebenden des Holocaust wenig anfangen. Sie waren keine starken neuen Menschen, keine Agrarpioniere, sondern oftmals gebrochene, leidende Wesen. Daher hielt man es zunächst für geboten, nicht darüber zu reden, wie auch Jiddisch als Sprache der Verlierer verpönt war. Wenngleich man den Opfern und mithin auch den Überlebenden vorhielt, sie hätten sich widerstandslos auf die Schlachtbank führen lassen, wurde die strukturelle Funktion des Gedenkens an den Holocaust doch bereits zu einem frühen Zeitpunkt diskutiert, als die Massenvernichtung noch nicht einmal abgeschlossen war. Im Eichmannprozeß wurde 1961 erstmals die offizielle Verknüpfung mit der Shoah vollzogen, die der Zionismus in seiner staatstragenden Funktion fortan unter der Parole "von der Shoah zur Auferstehung" vereinnahmte.

Moshe Zuckermann, Iris Hefets - © 2010 by Schattenblick

Moshe Zuckermann, Iris Hefets
© 2010 by Schattenblick

Im folgenden kam Zuckermann auf die Bundesrepublik zu sprechen, die nach zwei Weltkriegen und dem Holocaust als Täterland gebrandmarkt war. Deutschland hatte Schlimmstes verbrochen und galt als ein derartiges Ärgernis in der Weltgeschichte, daß seine Rückführung in ein Agrarland nach dem Morgenthau-Plan ernsthaft erwogen wurde. Der geopolitischen Konfrontation mit dem Kommunismus der Sowjetunion verdankte Deutschland jedoch den Marshall-Plan, worauf es sich in nur zehn Jahren aus einem Trümmerhaufen in das Wirtschaftswunderland verwandelte. Im Zuge der Entnazifizierung wurde in großem Stil weißgewaschen, wodurch zahlreiche Funktionsträger des alten Regimes ihr Unterkommen fanden.

Im Wiedergutmachungsabkommen von 1952 zwischen Deutschland und Israel zeigten sich beide Seiten bereit, die Sühne zu materialisieren. Deutschland verpflichtete sich bis auf den heutigen Tag, besondere Beziehungen zu Israel zu unterhalten, und wurde damit zu einem Land, das niemals Kritik an dessen Politik übt. Dabei war die Shoah im restaurativen Klima der Adenauer-Ära ein weithin ausgeblendetes Thema, für das sich außer der Frankfurter Schule um Adorno und Horkheimer kaum jemand interessierte. Erst mit der 68er-Generation kam Bewegung in die Auseinandersetzung mit der deutschen Vergangenheit.

Daß die damals geprägte Parole "Nie wieder Deutschland!" in die heutige Auffassung der Antideutschen mündete, bezeichnete Zuckermann als merkwürdige Metamorphose. Bedingungslose Solidarität mit den Juden und mit Israel führte dazu, dessen Feinde in Gestalt der arabischen Welt, der Palästinenser und schließlich des Islam zu verteufeln. Hinzu gesellte sich die Solidarität mit den USA, also letztlich die Umarmung des Kapitalismus. Wie konnten aus antinationalen Kommunisten proisraelische und proamerikanische Antideutsche werden?

Auch hier stand die Strategie Pate, den Antisemitismus zu instrumentalisieren und inflationär zu gebrauchen, so daß realer Antisemitismus ausgeblendet wurde. Es ging einmal mehr darum, den Gegner zu bezichtigen und in den Abgrund zu ziehen. Dabei macht dieser Diskurs auch vor Juden nicht halt. Wenn ein Bürger Israels Kritik übt, erklärt man ihn kurzerhand zum selbsthassenden Juden. Auf diese Weise werfen Nachkommen der Täter Nachkommen von Shoah-Überlebenden Antisemitismus an den Kopf.

Der Zusammenhang zur hohen Politik liegt auf der Hand. Wenn Bundeskanzlerin Angela Merkel sich vor der Knesset für die Sicherheit Israels verbürgt, bleibt die praktische Bedeutung dieses Bekenntnisses letztlich verborgen. Es geht dabei in erster Linie um deutsche Befindlichkeit und Selbstsetzung. Man konfrontiert sich nicht mit Geschichte, sondern kultiviert Egoismen, die bis in die bürgerliche Presse hinein mitvollzogen werden.

Dem hält Zuckermann entgegen, daß nicht alle Juden Zionisten, nicht alle Zionisten Israelis und nicht alle Israelis Juden sind. Ungeachtet der natürlich vorhandenen Verbindungen könne von einer Identität keine Rede sein. So könnten selbst Antisemiten Befürworter Israels sein, denn letztlich könne man alles sein, nur müßten die Begriffe differenziert werden. Daher könne man Israel durchaus kritisieren, ohne Antizionist zu sein, denn dessen langjährige Regierungspolitik bedingungslos zu unterstützen, laufe zwangsläufig darauf hinaus, sich mit einem barbarischen Okkupationsregime zu solidarisieren.

An dieser Stelle beendete Moshe Zuckermann seinen Vortrag mit den Worten, er sei gerade dabei, sich zu echauffieren, weshalb er das Mikrofon besser an Iris Hefets weitergeben wolle. Diese warf die Frage auf, welche Erwartungen man überhaupt an die Politik in Deutschland und Israel haben könne. Wie Zuckermann anmerkte, habe er keine Erwartungen an die hohe Politik. Andererseits sei auch politisch, was man im Kreis dieser Veranstaltung diskutiere. Die Einsicht, daß man Israel mit bedingungsloser Unterstützung keinen Gefallen tut, gelte es in der Zivilgesellschaft beider Länder zu fördern. Alles, was historisch entstanden ist, könne auch historisch verändert werden, weshalb keine zwangsläufigen Entwicklungen und unabänderlichen Verhältnisse existierten.

Moshe Zuckermann, Iris Hefets - © 2010 by Schattenblick

... im Dialog mit dem Publikum
© 2010 by Schattenblick

Es schloß sich eine ausgiebige und lebhafte Diskussion an, in der wie immer Fragen und Stellungnahmen, Sachargumente und Emotionen kunterbunt durcheinander wirbelten. Gelegentlich warb Moshe Zuckermann dafür, doch wieder auf die Kernthesen seines Vortrags zurückzukommen, was nur bedingt von Erfolg gekrönt war. Offensichtlich waren an diesem Abend viele Menschen zusammengekommen, die etwas zu sagen und vor allem zu fragen hatten, was über den "Vorwurf als Herrschaftsinstrument" und die diesem implizite Beseitigung emanzipatorischer Herrschaftskritik hinausging.

Auffallend blieb indessen die völlige Abwesenheit von Mißfallenskundgebungen oder Schimpfworten, wenn Äußerungen fielen, die nicht auf allgemeine Zustimmung stießen. Hatte sich Zuckermann schon in seinem Vortrag aller Polemik enthalten und die Aufklärung in den Vordergrund gestellt, so blieb er seiner Linie auch im Eingehen auf die gestellten Fragen oder erhobenen Einwände treu, indem er vor jeglicher Pauschalisierung warnte und geduldig die Fallstricke vorschneller Urteile entwirrte.

Diesem Beispiel folgend zeichnete sich die gesamte Debatte durch eine beträchtliche Bereitschaft aus, einander zuzuhören. In diesem Klima fanden allem Anschein nach auch Zweifel und Skepsis, aufkeimende Erkenntnisse und selbst tendentielle Gegenpositionen Gehör, die unter anderen Umständen sicher verschwiegen worden wären. Moshe Zuckermanns Buchpräsentation, das läßt sich als rundum erfreuliches Fazit dieser Veranstaltung ziehen, hat zur Diskussion angeregt und zweifellos Fragen aufgeworfen, deren Wirkkraft weit über den Abend hinaus reicht.

Frage aus dem Publikum - © 2010 by Schattenblick

Rege Beteiligung der Zuhörer
© 2010 by Schattenblick

23. November 2010