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ARMUT/125: Facetten des Verarmens (WZB)


WZB Mitteilungen - Nr. 123/März 2009
Wissenschaftszentrum Berlin für Sozialforschung

Facetten des Verarmens
Wie Armut Wohlbefinden, Gesundheit und Teilhabe beeinträchtigt

Von Petra Böhnke


Armut betrifft heute nicht mehr nur die Menschen am Rande der Gesellschaft. Auch die Mittelschicht fühlt sich zunehmend von sozialem Abstieg bedroht. Viele Arbeitsverhältnisse sind prekär, und ein Vollzeitjob ist längst kein sicherer Schutz vor Armut mehr. Ein Leben in Armut kann heute jeden treffen - so könnte man das Lebensgefühl vieler Menschen hierzulande beschreiben. Tatsächlich hat die Armut in Deutschland in den vergangenen Jahren zugenommen. 2005 galten 18 Prozent der Bevölkerung als arm; sie hatten weniger als 60 Prozent des durchschnittlichen Haushaltseinkommens zur Verfügung. 1998 lag diese Zahl noch bei 12 Prozent. Außerdem verbleiben heute immer mehr Menschen länger in Armut, wie Daten des Sozio-oekonomischen Panels belegen: Im Jahr 2000 waren 27 Prozent der Betroffenen länger als drei Jahre arm, im Jahr 2006 schon 37 Prozent. Die meisten Übergänge in Armut erfolgen noch immer aus einkommensschwachen Positionen heraus. Unterteilt man die Armutsbevölkerung aus den Jahren 2005 bis 2007 gemäß ihrem Einkommen vor dem Abstieg in fünf gleich große Gruppen (Quintile), so kommen 70 Prozent der Absteiger aus den beiden unteren Einkommensquintilen. Im Vergleich zum Zeitraum 1999 bis 2001 haben die Abstiege aus den mittleren Einkommensgruppen zugenommen. Das Armutsrisiko tragen heute also nicht mehr allein die Einkommensschwachen.

In der politischen Diskussion ergeben sich aus diesen Zahlen Fragen nach der Destabilisierung der gesellschaftlichen Mitte und der Polarisierung der Sozialstruktur. Eine zentrale Annahme lautet: Mangelnde sozialstaatliche Absicherung, Arbeitsplatzverlust und materielle Not gefährden soziale Integration und demokratische Grundeinstellungen. Diese Sichtweise ergänzt die traditionelle Armuts- und Ungleichheitsforschung, die vor allem die materiellen Ressourcen im Blick hat. Heute wird umfassender nach dem Verlust von Teilhabechancen durch Armut gefragt: Führt Armut zu sozialer Desintegration? Die empirische Forschung hat dieser Perspektive bisher nicht ausreichend Rechnung getragen. Einkommensverteilung und Arbeitslosigkeitsquoten sind weiterhin die dominanten Indikatoren, um soziale Ausgrenzung zu messen. Die Mehrzahl der Studien beschränkt sich auf einmalig erhobene Daten. Um Armutsverläufe zu verstehen, müssen aber dieselben Personen zu unterschiedlichen Zeitpunkten befragt werden. Auch reicht es nicht aus zu dokumentieren, wie lange Menschen in Armut verbleiben. Wichtiger ist die Frage, warum sie in Armut abgestiegen oder ihr entkommen sind.

Weitgehend ungeprüft bleibt bislang die These, ob sich finanzielle und nicht-finanzielle Benachteiligungen gegenseitig verstärken: Bedeutet materielle Verarmung, dass soziale, politische und kulturelle Teilhabechancen sinken?

Es ist bekannt, dass arme Menschen eher krank sind und kürzer leben. Ebenso gibt es Hinweise darauf, dass arme Menschen dem politischen System kritischer gegenüberstehen und sich in ihrem Wahlverhalten von der Mehrheit unterscheiden, zum Beispiel seltener zur Wahl gehen. Darüber hinaus wissen wir, dass arme Menschen weniger zufrieden mit ihrem Leben und bei ihnen Anomiesymptome weiter verbreitet sind. Ausgrenzungsempfinden beispielsweise steht in engem Zusammenhang mit Langzeitarbeitslosigkeit und chronischer Armut. Arme Menschen haben zudem kleinere und eher auf den Familienkreis bezogene soziale Netzwerke und können nicht im gleichen Maße wie Wohlhabende Unterstützungsleistungen in Anspruch nehmen.

Einen entscheidenden Mangel haben Studien, in denen diese Zusammenhänge gezeigt werden: Sie unterscheiden nicht zwischen Ursache und Wirkung. Ist etwa soziale Isolation eine Folge von Armut, weil arme Menschen stigmatisiert sind, sich schämen und sich von Freunden zurückziehen, deren Lebensstandard sie nicht mehr teilen können? Umgekehrt ließe sich auch argumentieren, dass Armut eine Folge weniger sozialer Kontakte ist, weil Größe und Vielfalt des Bekanntenkreises über den Zugang zu Informationen und Unterstützung entscheiden.

In Bezug auf das subjektive Wohlbefinden müsste gefragt werden: Sind Lebenszufriedenheit und Optimismus eine Folge von abgesicherten Verhältnissen und einem Leben in Wohlstand? Oder ist, wie die psychologische Perspektive unterstellt, subjektives Wohlbefinden ein stabiler Persönlichkeitsfaktor und Armut somit auch eine Folge von Mut- und Antriebslosigkeit? Die Konsequenzen sozialer Abstiege für gesellschaftliche Partizipation und subjektives Wohlbefinden sind bislang nicht genügend erforscht.

Ausgehend von diesem Mangel an dynamischen Armutsanalysen, die kausale Zusammenhänge zwischen finanziellen und sozialen Benachteiligungen zum Gegenstand haben, ergeben sich zwei Fragen: In welcher Weise bringt der Abstieg in Armut einen Verlust an Teilhabechancen mit sich, und sind die Folgen von Verarmung unterschiedlich je nach gesellschaftlicher Position, aus der heraus der Abstieg erfolgt?

Folgende Verläufe sind denkbar: Die Kumulationsthese geht davon aus, dass sozialer Abstieg die Partizipationschancen, die Gesundheit und das Wohlbefinden des Einzelnen verschlechtert. Wer weniger Geld hat, muss seine Aktivitäten wie Kino-, Theater- oder Konzertbesuche, die Teilhabe bedeuten, einschränken. Stigmatisierung, Rückzug und Depression werden wahrscheinlicher. Unterscheidet man zwischen kurz- und langfristigen Effekten, so sind zwei Szenarien möglich: Zum einen könnte - etwa in der Art eines Schocks - unmittelbar nach dem Abstieg ein Partizipationsrückgang stattfinden, auf den eine Stabilisierung und Anpassung auf dann niedrigerem Niveau folgt. Oder der Abstieg bleibt ohne unmittelbare Wirkung, weil der Rückgriff auf finanzielle Ressourcen und Netzwerke zunächst noch gelingt. Partizipationschancen sinken erst, wenn Armut länger dauert und die Rücklagen aufgebraucht sind.

Die Adaptionsthese nimmt an, dass nach kurzer Zeit eine Anpassung an die neuen Verhältnisse stattfindet und gesellschaftliche Teilhabe aufrechterhalten bleibt. Netzwerke können sich verändern, bleiben aber in Umfang und Qualität bestehen. Vorstellbar ist auch eine Kompensation von Armut durch die Intensivierung sozialer Kontakte und Engagement. Das Ausweiten sozialer Kontakte kann rational begründet sein: Ein großes Bekanntennetzwerk ist hilfreich, wenn es um Informationen und informelle Unterstützung geht.

Es könnte auch gar kein Zusammenhang zwischen Armut und Partizipationschancen bestehen, weil es sich beispielsweise bei kultureller Teilhabe und politischem Interesse eher um stabile Persönlichkeitsmerkmale handelt. Dahinter kann sich allerdings ein Selektionseffekt verbergen: Abstiege in Armut erfolgen möglicherweise von so armutsnahen Positionen, dass die Lebensqualität schon vor Überschreiten der Armutsgrenze stark beeinträchtigt war.

Eine Analyse mit Daten des Sozio-oekonomischen Panels zeigt: Menschen, die zwischen 2000 und 2006 nie arm waren, zeigen mehr politisches Interesse, nehmen häufiger an kulturellen Veranstaltungen teil und sind mit ihrem Leben und mit ihrer Gesundheit zufriedener als Menschen, die in diesem Zeitraum ein Jahr oder länger in Armut leben (Abbildung). Benachteiligungen von Armen werden aber nicht nur im Vergleich zu Nicht-Armen sichtbar, sondern auch im Vergleich zu der Teilgruppe der Nicht-Armen, deren Abstieg in Armut kurz bevorsteht. Verblüffenderweise unterscheiden sich die Noch-Nicht-Armen von den bereits Abgestiegenen kaum. Hier kommt der oben erwähnte Selektionseffekt zum Tragen: Abstiege in Armut erfolgen überwiegend aus Lebenslagen heraus, die bereits durch geringere Partizipationschancen gekennzeichnet sind.


nie arm
Jahr vor Abstieg
Abstieg
zwei oder drei Jahre arm
vier oder mehr Jahre arm
33,4 %
24,8 %
24,8 %
20,2 %
23,3 %

Sehr starkes oder starkes politisches Interesse, 2000-2006
Quelle: SOEP, eigene Berechnungen


nie arm
Jahr vor Abstieg
Abstieg
zwei oder drei Jahre arm
vier oder mehr Jahre arm
14,2 %
9,2 %
9,6 %
8,7 %
8,4 %

Wöchentliche oder monatliche Teilhabe an kulturellen
Veranstaltungen

(Konzerte, Theater, Vorträge), 1994-1999

Quelle: SOEP, eigene Berechnungen


nie arm
Jahr vor Abstieg
Abstieg
zwei oder drei Jahre arm
vier oder mehr Jahre arm
6,9 %
6,4 %
6,2 %
6,1 %
6,1 %

Zufriedenheit mit Leben, 2000-2006
Quelle: SOEP, eigene Berechnungen


nie arm
Jahr vor Abstieg
Abstieg
zwei oder drei Jahre arm
vier oder mehr Jahre arm
6,5 %
6,3 %
6,3 %
6,0 %
5,6 %

Zufriedenheit mit Gesundheit, 2000-2006
Quelle: SOEP, eigene Berechnungen


Die Dauer der Armut wirkt sich auf die einzelnen Lebensbereiche unterschiedlich aus. Politisches Interesse und kulturelle Teilhabe scheinen eher stabile und schichtspezifische Eigenschaften zu sein. Sie unterscheiden sich kaum zwischen Gruppen, die unterschiedlich lang in Armut leben, variieren jedoch stark zwischen armutsnahen und armutsfernen Lebenslagen. Anders verhält es sich bei der Gesundheit. Langzeitarme schätzen ihren Gesundheitszustand deutlich schlechter ein als andere. Allein die Lebenszufriedenheit reagiert sofort auf den Abstieg in Armut: Armutserfahrungen lassen unmittelbar die allgemeine Zufriedenheit mit dem Leben sinken. Als noch schlechter schätzen Menschen ihre Lebensqualität ein, die zwei oder drei Jahre lang arm sind. Mit zunehmender Dauer wird dieser Abwärtstrend jedoch gestoppt: Es tritt eine Stabilisierung der gefühlten Lebensqualität auf niedrigerem Niveau ein. Im Hinblick auf die oben aufgestellten Thesen sind also je nach Lebensbereich verschiedene Mechanismen am Werk, die das Zusammenspiel von Armut und Teilhabechancen beeinflussen.

Mit multivariaten Analysen (fixed effects-Modelle) kann sichergestellt werden, dass diese Beobachtungen tatsächlich auf Armutserfahrungen und nicht auf andere Lebensereignisse wie zum Beispiel Scheidung oder Arbeitslosigkeit zurückzuführen sind. Die Analysen bestätigen, dass der Abstieg in Armut die Lebenszufriedenheit negativ beeinflusst. Politisches Interesse, kulturelle Teil-habe und die Zufriedenheit mit dem Gesundheitszustand verschlechtern sich - statistisch signifikant - nicht mit dem Abstieg, aber doch mit der Länge des Armutsverbleibs, wenn andere Einflussfaktoren konstant gehalten werden. Diese Ergebnisse sprechen eindeutig gegen die Adaptionsthese.

Partizipationschancen sinken, je länger Menschen in Armut leben. Es erfolgt keine Anpassung oder gar Erholung. Materielle Benachteiligung übersetzt sich auf lange Sicht in gesellschaftlichen Ausschluss. Im Hinblick auf die Lebenswirklichkeit von Armen verdeutlichen die Ergebnisse die Fragwürdigkeit von statistisch ermittelten Armutsgrenzen: Nicht offiziell als arm klassifiziert zu sein bedeutet gleichwohl geringe Partizipationschancen und eingeschränktes Wohlbefinden, wenn man in der Nähe der Armutsgrenze verbleibt.

Wer aus der Mittelschicht heraus absteigt, muss einen größeren Verlust an Lebensqualität verkraften. Dies hinterlässt deutliche Spuren bei der Entwicklung der allgemeinen Lebenszufriedenheit. Arme, die aus der gesellschaftlichen Mitte kommen, büßen sowohl beim Abstieg in Armut als auch mit den Jahren, die sie in Armut verbringen, massiv an Lebenszufriedenheit ein und sind innerhalb der Gruppe der Langzeitarmen unzufriedener als der Durchschnitt. Hinsichtlich der kulturellen Teilhabe zeigt sich ein abweichendes Muster: Bei Abgestiegenen aus der Mittelschicht erhöhen sich zunächst Konzertteilnahmen, Theater- und Museumsbesuche. Dies spricht für die Annahme, dass hier auf Ressourcen, zum Beispiel Erspartes, zurückgegriffen werden kann, was einen Einbruch der Partizipationschancen zunächst verhindern hilft. Die Netzwerke der ehemaligen Mittelschicht-Angehörigen sind größer und finanzkräftiger, ihre Perspektiven, sich aus Armut wieder zu befreien, sind besser, und möglicherweise werden auch Zeitressourcen frei, die zunächst genutzt werden. Doch bei anhaltender Armutslage kehrt sich dieser Trend um, und es kommt zu einem massiven Einbruch kultureller Teilhabe.

Negative Folgen von Armutserfahrungen für die soziale Integration überwiegen somit eindeutig. Doch lohnt es sich, auf die wenigen Fälle zu schauen, bei denen Desintegration trotz Armut ausbleibt. Für einen geringen Teil der in Armut Abgestiegenen verbessert sich die Lebenszufriedenheit sogar. Wer sind diese Menschen, und lassen sich daraus Maßnahmen ableiten, die Armutsfolgen abmildern können? Der Schlüssel liegt in sozialen Beziehungen und Perspektiven. Es sind überwiegend jüngere Menschen, ledig, in Ausbildung, die trotz Armut mit ihrem Lebensstandard, ihrer Gesundheit und ihrer Freizeit zufriedener sind. Sie machen sich weniger Sorgen um ihre wirtschaftliche Entwicklung und sind stärker in freundschaftliche Netzwerke eingebunden. Arbeitslosigkeit und Zukunftssorgen spielen in dieser Gruppe eine untergeordnete Rolle. Fazit: Die Lebensphase (jung, Ausbildung) sowie die Lebensumstände (gutes soziales Netzwerk), in denen man mit wenig Geld auskommen muss, entscheiden mit darüber, ob Armut nur einen niedrigen Lebensstandard bedeutet oder auch den Verlust an Teilhabechancen. Die Mehrheit der Betroffenen büßt Partizipationschancen, Gesundheit und Wohlbefinden ein, und dies umso mehr, je länger die Armut andauert.


Petra Böhnke, Dr. phil., Studium der Soziologie, Politologie und Germanistik in Göttingen, London und Berlin, seit 2002 Mitarbeiterin der Abteilung "Ungleichheit und soziale Integration". Sie hat über Risiken sozialer Ausgrenzung promoviert. In ihrem aktuellen Projekt beschäftigt sie sich mit Mobilitätsprozessen und sozialem Kapital.
boehnke@wzb.eu


Kurz gefasst

Mit dem Übergang in Armut werden gesundheitliche Einschränkungen wahrscheinlicher, und die Lebenszufriedenheit sinkt. Kulturelle Teilhabe und politische Partizipation armer Menschen sind gering und nehmen mit zunehmender Armutsdauer weiter ab. Arm sein bedeutet in hohem Maße Desintegration. Die Verarmung von Mittelschicht-Angehörigen erfolgt nach wie vor selten und verursacht andere Reaktionsmuster als der Abstieg aus armutsnahen Schichten. Langfristig bleiben aber auch hier existenzielle Einschränkungen der Lebensqualität nicht aus.


Literatur

Petra Böhnke, "Are the Poor Socially Integrated? The Link Between Poverty and Social Support in Different Welfare Regimes", in: Journal of European Social Policy, Vol. 18, No. 2, 2008, S. 133-150

Petra Böhnke, "Feeling left out? Patterns of social integration and exclusion", in: Jens Alber, Tony Fahey, Chiara Saraceno (Eds.), Handbook of Quality of Life in the Enlarged European Union, London/New York: Routledge 2008, S. 304-327

Markus M. Grabka, Joachim R. Frick, "Schrumpfende Mittelschicht - Anzeichen einer dauerhaften Polarisierung der verfügbaren Einkommen?", in: DIW Wochenbericht, Nr. 10, 2008, S. 101-108

Olaf Groh-Samberg, "Armut und Klassenstruktur. Zur Kritik der Entgrenzungsthese aus multidimensionaler Perspektive", in: Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie, Jg. 56, Nr. 4, 2004, S. 654-683


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Quelle:
WZB Mitteilungen Nr. 123, März 2009, Seite 8 - 11
Herausgeberin:
Die Präsidentin des Wissenschaftszentrums Berlin für Sozialforschung
Professorin Jutta Allmendinger Ph.D.
10785 Berlin, Reichpietschufer 50
Tel.: 030/25 49 10, Fax: 030/25 49 16 84
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veröffentlicht im Schattenblick zum 26. März 2009