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DISKURS/020: Politische Narrative zum Thema Integration in Deutschland (spw)


spw - Ausgabe 1/2014 - Heft 200
Zeitschrift für sozialistische Politik und Wirtschaft

Integration, Inklusion, Interkultur - oder ganz was anderes?
Politische Narrative zum Thema Integration in Deutschland

Von Claudia Walther



Wer und was steckt eigentlich hinter dem Streit um Begrifflichkeiten, wenn es um Einwanderung nach Deutschland geht - und der Frage, wie man mit den eingewanderten Menschen umgeht?

Obwohl in Deutschland gerade eine große Integrationsleistung erfolgreich erbracht worden war, nämlich die Eingliederung von ca. 13 Millionen Vertriebenen des zweiten Weltkrieges[1], war in der Phase der Anwerbung der sogenannten "Gastarbeiter" aus Südeuropa und der Türkei zwischen 1955-1973[2] von Integration keine Rede. Bekanntlich rief man Arbeitskräfte, obwohl Menschen kamen[3]. Nach dem "Anwerbestopp" 1973 holten paradoxerweise viele der sogenannten "Gastarbeiter" ihre Familien nach, weil sie fürchteten, dass der "Anwerbestopp" die Türen nach Deutschland bald versperren könnte. Die "Gastarbeiter" blieben also - anders als Deutschland und anders als sie selber dies erwartet hatten.


Assimilation und Multikulti

Auf diese Entwicklung gab es eine zweigeteilte Antwort: Wenn sie schon bleiben, so sollen sie sich auch anpassen - so das konservative Lager, das sich damit für Assimilation aussprach. Die Gegenantwort im alternativ-progressiven Lager hieß: Multikulturelle Gesellschaft.

Während "Assimilation" das völlige Aufgehen einer Gruppe (ethnisch, religiös, kulturell) in einer anderen Gruppe bezeichnet, beschreibt der Begriff "Multikulturelle Gesellschaft" den Zustand, dass sich mehrere Kulturen in einer Gesellschaft befinden. Dies kann sowohl deskriptiv, ohne Bewertung, verstanden werden oder normativ, als Bereicherung und als Gegenentwurf zu einer homogenen Gesellschaft.[4] "Multikulti" wurde zum Schlagwort und häufig (miss-)verstanden als Gerede von einer bunten Traumwelt ohne Probleme. Durch Daniel Cohn-Bendit propagiert, identifizierten sich vor allem die Grünen mit dem Bild einer multikulturellen Gesellschaft.[5] Der Begriff wurde übernommen aus dem Diskurs in anderen Ländern, beispielsweise Kanada: Dort bereits in den 60ern entstanden, wurde der Begriff Multiculturalism 1971 zur offiziellen Regierungspolitik. Der Begriff bezieht sich nach kanadischem Verständnis auf eine ethnisch und kulturell heterogene Gesellschaft und strebt das Ideal von Gleichheit und Respekt gegenüber den Gruppen unterschiedlicher Kulturen an.

Erst seit Beginn der Jahrhundertwende, um das Jahr 2000, setzte sich in Deutschland der Begriff Integration als Mainstream der Fachpolitik durch. Grundlage dafür war, dass endlich ein politischer Konsens erreicht war, dass Deutschland überhaupt ein "Zuwanderungsland" ist - festgestellt durch die sogenannte Süssmuth-Kommission, eingesetzt von dem damaligen Innenminister Otto Schily, geleitet von Rita Süssmuth. Was aber ist unter Integration zu verstehen? Während die konservative Seite auch den Begriff Integration mit Assimilation gleichzusetzen versuchte, setzte sich in breiten politischen Kreisen allmählich ein Verständnis durch, das Integration als "wechselseitigen Prozess" und als "gleichberechtigte Teilhabe" sieht. Die EU gab hier mit den 11 common basic principles 2004 einen Bezugsrahmen, der u.a. den "two way process" beinhaltete.[6] Der Begriff Integration ist damit nach mehreren Seiten anschlussfähig.

Doch analog zur Bildungsdebatte, wo der Begriff Inklusion den Begriff Integration abgelöst hat, gerät auch in der Diskussion um den Umgang mit Einwandrer/inne/n der Begriff Integration mehr und mehr in die Kritik, weil er vielen zu sehr mit der Forderung nach Assimilation verbunden wird. Ihm scheint zudem ein Bild von Mehrheitsgesellschaft und Minderheit zugrunde zu liegen, das der heutigen Heterogenität der Bevölkerung nicht mehr entspricht - vielleicht sogar nie entsprochen hat.

Mit den Begriffen ethnische Diversity, Diversität, oder Vielfalt wird versucht, gerade diese Assoziation zu vermeiden und von einem anderen Bild, nämlich dem einer vielfältigen Gesellschaft auszugehen. (Dettling 2010). Nach Dettling meint der Begriff Diversität mehr als Toleranz und auch mehr als Vielfalt.

"Dieser Begriff enthält vielmehr eine programmatische Aussage, welche das Denken über das Zusammenleben in modernen Gesellschafen grundsätzlich verändern kann und will. Auf den einfachsten Nenner gebracht lautet dieser Grund-Satz so: Jene Gesellschaften (Parteien, Unternehmen, Bundesligavereine), die mit der Verschiedenartigkeit der Menschen auf eine positive, ja kreative Weise umzugehen verstehen, werden auf Dauer erfolgreicher sein als andere. (...) Das Konzept der Diversität verwandelt den Opferdiskurs in eine Diskussion über die Stärken und den möglichen Beitrag dieser Gruppen. (...) In einer Gesellschaft der Vielfalt und der Verschiedenartigkeit legt das Konzept der Diversität den Nachdruck (...) auf die Beziehungen zwischen diesen Gruppen, die gestaltet werden können und müssen in einer Weise, dass sie für alle von Vorteil sind: für die Alteingesessenen und die neu Zugezogenen, Männer und Frauen, für die Familien und die Singles, die Alten wie die Jungen. (...) Diversität bedeutet deshalb immer auch, Migranten wie Einheimische in einem gemeinsamen Zukunftsprojekt, der Entwicklung des Landes, zu verbinden, sie in eine gemeinsame Zukunft hinein zu integrieren."
(Warnfried Dettling)
[7]

Seit einiger Zeit erhält die Debatte allerdings eine neue aktuelle Richtung. Im Zuge des prognostizierten Fachkräftemangels und zur Abmilderung des demographischen Wandels üben große Teile der Wirtschaft Druck auf Politik und Gesellschaft aus: Deutschland braucht Einwanderung, Einwanderung ist erwünscht. Was ist nun hiervon zu halten?

Diese Fachkräftedebatte auf Drängen der Wirtschaft ist aus meiner Sicht zunächst eine Chance, aber sie beinhaltet auch Risiken.

Wie so oft in der Geschichte setzen sich Paradigmen und Forderungen erst dann durch, wenn zu Perspektiven der Gesellschaft auch die Forderungen der Wirtschaft hinzukommen. Klassisches Beispiel für diese These ist die Bildungsreform in den 70ern, der nicht nur die gesellschaftliche Einsicht, sondern auch der "Sputnik-Schock"[8], der die Wirtschaft befürchten ließ ins Hintertreffen zu geraten, vorausging.

Heute ist der Fachkräftemangel tatsächlich relevant: allerdings branchen- und regionenspezifisch und teilweise erst in einigen Jahren. So wird das Erwerbspersonenpotenzial ohne Zuwanderung bis 2025 um ca. 5,7 Mio. (2035: ca. 11,1 Mio.) schrumpfen. In einer Studie der Bertelsmann Stiftung geht Prof. Herbert Brücker (IAB) davon aus, dass pro Jahr im Saldo ca. 400.000 Einwanderer nötig wären, um diesen Fachkräftemangel auszugleichen[9]. Diese Diskussion ruft nach mehr Attraktivität des Einwanderungslandes Deutschland für potenzielle Neueinwanderer und damit nach der Etablierung einer Willkommenskultur. Sie ist daher eine Chance für Öffnungsprozesse gegenüber Einwanderern.

Risiken bringt diese Debatte mit sich, wenn solche Öffnungsprozesse inklusive einer Willkommenskultur auf hochqualifizierte Einwanderer reduziert werden. Der Vorwurf des Nützlichkeitsdenkens (Utilitarismus) besteht dann, wenn nur "nützliche" Einwanderer mit den gewünschten Qualifikationen willkommen sind, während die bereits hier lebenden Einwanderer und ihre Familien sowie neue aber nicht hochqualifizierte Einwanderer und Flüchtlinge weiterhin mit Signalen der Abschreckung bedacht werden.

Doch auch für die Wirtschaft würde diese Rechnung nicht aufgehen. Denn auch hochqualifizierte IT-Kräfte machen einen Bogen um Deutschland, wenn nicht ein Klima der Offenheit, sondern weiter der Geist des Anwerbestopps herrscht. Daher geht es darum, genau diesen Diskurs kontrovers zu führen: geht es um ein exklusives oder ein inklusives Verständnis der neuerdings gewünschten Einwanderung. Es geht also darum, das Verständnis von Willkommenskultur inklusiv zu füllen. Einen Anknüpfungspunkt bietet hier die Definition von Heckmann (efms) an:

"Willkommenskultur meint zum einen eine gewisse Grundhaltung der Offenheit und Akzeptanz gegenüber Migranten - und selbstverständlich gegenüber anderen Menschen - zum anderen steht er aber auch für Praktiken in verschiedenen Organisationen und institutionellen Kontexten, in denen Barrieren der Integration abgebaut und Wege der Inklusion gefunden werden; diese schließen formalrechtliche Regelungen ein, gehen aber zugleich auch über sie hinaus."
(Friedrich Heckmann)[10]

Willkommenskultur für neue Einwandrer/ innen reicht daher nicht, sie muss einhergehen mit einer Anerkennungskultur für neue und bereits hier lebende Einwanderer und ihre Familien. Und sie muss vor allem auf eine inklusive Gesellschaft zielen. Dazu würden rechtliche Möglichkeiten von vereinfachten Aufenthaltsgenehmigungen und Einbürgerungsprozessen ebenso gehören wie Kita-Plätze für die Kinder der Einwandrer/ innen und serviceorientierte Ausländerbehörden. Aber eben auch ein offeneres gesellschaftliches Klima.[11]

Der derzeitige Streit um sogenannte "Armutszuwanderung" aus Bulgarien und Rumänien trifft also genau diese Auseinandersetzung um einen exklusiven oder einen inklusiven Begriff von Einwanderungsnotwendigkeit und Willkommenskultur.

Während die CSU davon ausgeht, dass die hochqualifizierten Einwanderer in Bayern und den anderen Bundesländern mit offenen Armen empfangen werden, während andere Einwanderungsgruppen sogar abgeschoben werden, weil ihnen die "Zuwanderung in unsere Sozialsysteme" unterstellt wird, kann das Gegenbild nur das einer inklusiven Gesellschaft sein, die davon ausgeht, dass die ethnische Vielfalt als Normalität zu akzeptieren ist und inklusiv zu gestalten ist - alle Probleme und Bereicherungsaspekte eingeschlossen. Von diesem Bild ausgehend kommt man zu entsprechenden Forderungen nach Chancengleichheit, Förderung der Mehrsprachigkeit, Lotsendiensten bis hin zur interkulturellen Öffnung der Politik. Dass sich eine solche Vielfalt auch in politischen Parteien und Gremien widerspiegeln müsste, ergibt sich daraus, ist aber von der Realität noch ebenso weit entfernt wie Chancengleichheit in Schulen und Hochschulen.

Wer hier meint, es handele sich nur um CSU-Wahlkampfgetöse, irrt sich leider. Das zeigt der Koalitionsvertrag der neuen rotschwarzen Bundesregierung, der selbst die widersprüchlichen Formulierungen einer Willkommens- und Anerkennungskultur sowie einem Bekenntnis zur EU-Freizügigkeit einerseits und der Verhinderung der "Zuwanderung in die Sozialsysteme" andererseits beinhaltet. Auch die Bevölkerung ist zwiespältig: Sie sieht sowohl die Notwendigkeit der Einwanderung und befürchtet gleichzeitig größere Probleme.[12]

Probleme wie eine Ausbeutung von Werkvertragsarbeitnehmer/ inne/n aus Bulgarien und Rumänien sind tatsächlich vorhanden. Aber in erster Linie werden diese durch Arbeitgeber und Subunternehmen verursacht, die teilweise Löhne von 3,- Euro pro Stunde zahlen und durch Vermieter, die schlechten Wohnraum an 30 Personen in einem Haus vermieten. Hier ist die Politik natürlich gefordert, solchen Praktiken einen Riegel vorzuschieben und die dadurch belasteten Kommunen mit benachteiligten Stadtteilen zu unterstützen, statt den schwarzen Peter den Einwandrer/inne/n zuzuschieben.[13]

Kurz und gut: Es ist der falsche Weg, das Kind mit dem Bade auszuschütten und die Forderung nach einer Willkommenskultur als selektiv, exklusiv, utilitaristisch oder schlicht unzureichend abzutun. Es lohnt sich dagegen, um den richtigen Weg zu streiten: einer Öffnung für Einwanderung und eine Willkommens- und Anerkennungskultur, die auf Inklusion zielt, die Einwanderer aus Bulgarien und Rumänien ebenso wie Flüchtlinge einbezieht und dabei Probleme nicht verschweigt, sondern lösungsorientiert angeht.


Claudia Walther ist Senior Project Managerin für das Programm Integration und Bildung der Bertelsmann-Stiftung. Ehrenamtlich ist sie als stellvertretende Vorsitzende der SPD Aachen-Stadt aktiv.


ANMERKUNGEN

[1] Dr. Carolin Butterwegge. Von der "Gastarbeiteranwerbung" zum Zuwanderungsgesetz. In: Grundlagendossier Migration. Bundeszentrale für Politische Bildung. Bonn 2005

[2] Anwerbeverträge: 1955 mit Italien, 1960 mit Spanien und Griechenland, 1961 mit der Türkei, 1963 mit Marokko, 1964 mit Portugal, 1965 mit Tunesien, 1968 mit Jugoslawien.

[3] Frei nach Max Frisch: "Man hat Arbeitskräfte gerufen und es kommen Menschen" (Vorwort zu dem Buch "Siamo Italiani - Die Italiener. Gespräche mit italienischen Arbeitern in der Schweiz" von Alexander J. Seiler. Zürich 1965.)

[4] Frank Beyersdörfer. Multikulturelle Gesellschaft: Begriffe, Phänomene, Verhaltensregeln. Münster, 2004. S.49 f.

[5] Doch auch Daniel Cohn-Bendit distanzierte sich von dem Zerrbild einer problemfreien Multi-Kultigesellschaft: "Die multikulturelle Gesellschaft ist hart, schnell, grausam und wenig solidarisch, sie ist von beträchtlichen sozialen Ungleichgewichten geprägt". Daniel Cohn-Bendit und Thomas Schmid. Die multikulturelle Gesellschaft muß als Wirklichkeit anerkannt werden. In: Die ZEIT. 22. November 1991.

[6] http://ec.europa.eu/ewsi/en/EU_actions_integration.cfm

[7] Warnfried Dettling. Diversität als Herausforderung für Kommunen in Deutschland. S. 7 f. In: Bertelsmann Stiftung. Diversität gestalten. Erfolgreiche Integration in Kommunen. Handlungsempfehlungen und Praxisbeispiele. Gütersloh 2011.

[8] Sputnik Schock nennt man die politisch-gesellschaftliche Reaktion in den USA und Westeuropa auf den Start des ersten künstlichen Erdsatelliten Sputnik 1 am 4. Oktober 1957 (Ortszeit: 2:50 Uhr, 5. Oktober) durch die Sowjetunion. Sputnik machte im Zeichen des Kalten Krieges schlagartig deutlich, dass die Sowjetunion im Hinblick auf die weitere Entwicklung ihrer Raumfahrt technologisch den USA überlegen oder mindestens ebenbürtig war.
http://de.wikipedia.org/wiki/Sputnikschock

[9] Herbert Brücker. Auswirkungen der Einwanderung auf Arbeitsmarkt und Sozialstaat: Neue Erkenntnisse und Schlussfolgerungen für die Einwanderungspolitik. Bertelsmann Stiftung. Gütersloh, 2013. S. 7.

[10] Friedrich Heckmann. Willkommenskultur was ist das, und wie kann sie entstehen und entwickelt werden? S. 2 Bamberg, Efms paper 2012-7.

[11] Vgl. dazu auch Roland Roth. Willkommens- und Anerkennungskultur in Deutschland - Herausforderungen und Lösungsansätze. S. 295-354. In: Bertelsmann Stiftung (Hrsg.). Vielfältiges Deutschland. Bausteine für eine zukunftsfähige Gesellschaft. Gütersloh, 2014.

[12] Bertelsmann Stiftung 17.12.2012
http://www.bertelsmann-stiftung.de/cps/rde/xchg/SID-4C8ADA2B-26C9FE8B/bst/hs.xsl/nachrichten_114652.htm
und Politbarometer vom 17. Januar 2014.
https://presseportal.zdf.de/aktuelles/mitteilung/zdf-politbarometer-januar-i-2014/772/

[13] Erste Schritte sind durch die neue Bundesregierung durch die zugesagte Aufstockung der Städtebauförderung bereits gemacht worden.

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Quelle:
spw - Zeitschrift für sozialistische Politik und Wirtschaft
Ausgabe 1/2014, Heft 200, Seite 16-19
mit freundlicher Genehmigung der HerausgeberInnen
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veröffentlicht im Schattenblick zum 8. März 2014