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EHRENAMT/042: Jugendfreiwilligendienste im Veränderungsprozess (DJI Impulse)


DJI Impulse
Das Bulletin des Deutschen Jugendinstituts 1/2012 - Nr. 97

Freiwillige gesucht - Lernoptionen geboten
Jugendfreiwilligendienste im Veränderungsprozess: Entwicklungstrends und Herausforderungen

Von Reinhard Liebig



Freiwilligendienste waren nach dem Zweiten Weltkrieg immer auch Optionen der Begegnung unterschiedlicher Generationen und verschiedener Lebenslagen. Die Konzepte dieser Dienste, wie sie 1964 mit dem Freiwilligen Sozialen Jahr (FSJ) bundesgesetzlich verankert wurden, richteten sich allerdings mit jugendpädagogischen und/oder bildungstheoretischen Zielsetzungen explizit und ausschließlich an junge Menschen, die in ihrem Dienst vor allem in Feldern der Sozialen Arbeit tätig wurden (Eberhard 2002). Seit 2005 wurden diese Angebote durch Programme beziehungsweise Dienste ergänzt, die diese Beschränkung auf die spezifische Zielgruppe »junge Menschen« nicht mehr vorsehen - von den Angeboten des generationenübergreifen Freiwilligendienstes über den Freiwilligendienst aller Generationen bis zum neuen Bundesfreiwilligendienst. Freiwilligendienste stehen heute auch älteren Menschen offen und sie schicken sich an, ihr Nischendasein zu verlassen. Nachdem diese besondere Formen des Engagements kurz vor der Jahrtausendwende erstmals intensiver diskutiert wurden (Guggenberger 2000) und anschließend etliche neue Dienstvarianten erprobt wurden (Liebig 2009; Stemmer 2009), besteht heute ein differenziertes Angebotsspektrum an Freiwilligendiensten, für das die etablierten Formen des FSJ und des Freiwilligen Ökologischen Jahres (FÖJ) gewissermaßen als »Kopiervorlage« dienten.

Die Jugendfreiwilligendienste scheinen heute in der Lebenswelt der jungen Menschen angekommen zu sein und sind in der Öffentlichkeit präsent. Als Motoren dieses Aufschwungs sind etliche gesellschaftliche Veränderungen auszumachen. Zu denken ist beispielsweise an die Verdichtung der Schulphase für die Gymnasien oder die neuen Leistungsanforderungen für Studierende im Bachelor/Master-System. Derartige Veränderungen trugen vermutlich mit dazu bei, dass bei jungen Menschen ein gesteigertes Bedürfnis nach einem projekthaften Ausstieg in eine andere Welt jenseits des Druckes und der Beurteilungsnotwendigkeiten verschiedenster Bildungsinstitutionen entstanden ist. Ebenso ist die verstärkte Betonung von Qualifikationen jenseits von schulischem Wissen und formalen Bildungsabschlüssen von Seiten der Pädagogik und der Ausbildungsinstitutionen mit ein Grund für die neue Attraktivität, die zumeist mit Begriffen wie »Schlüsselqualifikationen«, »soft skills« oder »Alltagsbildung« in Verbindung zu bringen ist.

Mit den Freiwilligendiensten wird von den Einrichtungen aber auch ein Angebot bereitgestellt, das hilft, zukünftige Ehrenamtliche oder Mitglieder im eigenen Verband zu finden. Ebenso können diese Freiwilligendienste grundsätzlich auch eine Werbung bei der nachwachsenden Generation sein - etwa für Berufe im Sozial- und Gesundheitswesen oder im Rettungsdienst, für die zukünftig ein erhöhter Personalbedarf vorhergesagt wird. Eine immens wichtige Antriebsfeder für die Expansion der Freiwilligendienste war und ist darüber hinaus der Bedeutungsverlust des Zivildienstes. Mit der Kontingentierung der Zivildienstplätze, den regelmäßig verkürzten Dienstzeiten und der Anerkennung eines Freiwilligendienstes als Surrogatdienst in der Vergangenheit wurden die Freiwilligendienste zur zunehmend sichtbaren Alternative aufgebaut (Beher u.a. 2002). Mit der Aussetzung der Wehrpflicht hat sich das durchaus spannungsgeladene Konkurrenzverhältnis zwischen Zivildienst und Freiwilligendienst aufgelöst. Die Dienstpflicht ist mittlerweile nicht mehr Bestandteil des Lebensweges junger Männer. Damit ist den Zivildienststellen - vornehmlich Einrichtungen der Freien Wohlfahrtspflege - ein Reservoir an jungen Arbeitskräften verloren gegangen, aus dem sie mit Planungssicherheit und öffentlich teilfinanziert für Jahrzehnte schöpfen konnten. Aus ihrer Perspektive war und ist der Ersatz dieser befristeten Arbeitskräfte ein sozialpolitisches Gebot, und die Freiwilligendienste scheinen am ehesten in der Lage zu sein, die entstandene Lücke zu schließen.


Nachfolger für die Zivis

Dieser Argumentation hat sich im Wesentlichen auch die Politik angeschlossen und den Bundesfreiwilligendienst (BFD) mit einer Zielperspektive von 35.000 neuen Plätzen ins Leben gerufen. Einige entscheidende Argumente für diesen neuen Dienst werden damit sichtbar: In diesem Zusammenhang geht es auch darum, öffentliche Gelder für die Beteiligung von »Laien« an der Erbringung von Sozialleistungen bereitzustellen. Den ehemaligen Zivildienststellen soll dadurch ein gewisser Grad an Planungssicherheit im Bereich kostengünstiger und unterstützender Arbeitskräfte erhalten bleiben. Und nicht zuletzt dient der neu geschaffene Freiwilligendienst dazu, die aktuell noch bestehenden Strukturen, die sich aus dem Zivildienst entwickelt haben, zu erhalten, um die Option einer vergleichsweise schnellen Umkehr zu ermöglichen. Die sich freiwillig engagierenden Teilnehmer und Teilnehmerinnen des BFD sorgen somit mit ihrem Einsatz gewissermaßen auch dafür, dass diejenigen Einsatzstellen und die Infrastruktur nicht abgebaut werden, die für den Fall eines wieder aktualisierten Pflichtdienstes notwendig wären.


Vielfältige Erwartungen an die Freiwilligendienste

Unbestreitbar haben die Freiwilligendienste an Bedeutung gewonnen (Jakob 2011). Damit ist allerdings auch eine Gefahr verbunden: Mit dem Wachstum der Dienste werden auch die Partialinteressen der an diesem System beteiligten Organisationen, Behörden und Finanziers deutlicher zu vernehmen sein. Das System der Freiwilligendienste muss mit der Gefahr umgehen, von mehreren Seiten instrumentalisiert zu werden.

Zu bedenken ist, dass die Freiwilligendienste mittlerweile ein sozialpolitisch zu bewertender Faktor und als solcher auch betriebswirtschaftlich sowie sozialstaatlich inspirierten Erwartungen ausgesetzt sind. Sie bilden zudem (im Falle des BFD) eine Rückversicherung für den Fall, dass die Aussetzung der Wehrpflicht rückgängig gemacht wird, und sie stellen eine entscheidende Arbeitsgrundlage für die Existenz der alten Zivildienstverwaltung dar - insbesondere für das ehemalige Bundesamt für den Zivildienst. Außerdem sind sie eine nicht unerhebliche fiskalische Größe im Etat des Bundesministeriums für Familie, Senioren, Frauen und Jugend sowie ein wachsendes Betätigungs- und Beschäftigungsfeld zivilgesellschaftlicher Akteure (Engels/Leucht/Machalowski 2008). Schließlich sind sie Zielpunkt für Kritik des Bundesrechnungshofes geworden, die einerseits auf die Zuständigkeitsverteilung zwischen Bund und Land und andererseits auf die Vergabebedingungen von Bundesmitteln verweist.

Es bleibt zu fragen, was bei den Jugendfreiwilligendiensten verloren gehen könnte, wenn solche Partialinteressen an Einfluss gewinnen. Damit werden die jugendpädagogischen und bildungspolitischen Aspekte der Jugendfreiwilligendienste näher beleuchtet (Rauschenbach/Liebig 2002). Der spezifische Charme der Jugendfreiwilligendienste hat mit einem besonderen Passungsverhältnis zwischen Angebot und jugendlichen Bedürfnissen zu tun. Dies ist mit dafür verantwortlich, dass die Jugendfreiwilligendienste auf eine Erfolgsgeschichte zurückblicken können. Es könnte allerdings passieren, dass dieser Faktor und damit eine generationenspezifische Identität der Freiwilligendienste, ein Lernfeld für junge Menschen zu sein, sukzessive aus dem Blickfeld gerät.


Zeit zum Lernen und Orientieren

Die Konzepte der Jugendfreiwilligendienste (im engeren Sinne) sind auf eine spezifische Lebensphase im Übergang zwischen Schule und beruflicher Sphäre zugeschnitten. Die Dienste sind eine besondere Form freiwilligen Engagements - aber ebenso vielfach eine Übergangs- oder eine Orientierungszeit mit ernstem Charakter, mit Anleitung und Reflexion sowie mit Abstand zum schulischen Lernen. Die Jugendfreiwilligendienste sind aus Sicht der jungen Menschen als Lernorte offenkundig keine Fortführung des schulischen Lebens mit anderen Mitteln, sondern eher eine thematische Erweiterung und eine alternative Erfahrung (Rauschenbach 2010). Die Kombination von begrenzter Verantwortungsübernahme in erstmals erlebten Situationen des Arbeitslebens und das explizit benannte Prinzip der Förderung, ausgeführt mittels der pädagogischen Begleitung und der Seminararbeit, scheinen zu den Bedürfnissen junger Menschen zu passen.

Aus der Perspektive der Einrichtungen und Träger sind die Jugendfreiwilligendienste auch als eine Zukunftsinvestition zu verstehen (Schmidle/Slüter 2010). Wer sich als junger Mensch freiwillig engagiert, übt gewissermaßen etwas ein, das in späteren Jahren wieder abgerufen werden kann. Ein eindrucksvolles Ergebnis empirischer Forschung zum freiwilligen Engagement belegt, dass ein frühes Engagement im Jugendalter scheinbar den Boden für ein späteres Engagement bereiten kann. Diejenigen, die sich in ihrer Jugendzeit ehrenamtlich betätigen, sind als Erwachsene signifikant häufiger freiwillig engagiert (Düx u.a. 2008).


Andere Bedingungen je nach Alter und Dienst

Ein solchermaßen begründetes Passungsverhältnis zwischen dem Angebot eines Dienstes und den Bedürfnissen der jungen Menschen lässt sich keinesfalls bruchlos übertragen auf diejenigen Dienste, die auch das freiwillige Engagement älterer Menschen »einfangen«. Am Beispiel des neuen Bundesfreiwilligendiensts lässt sich dies verdeutlichen: Die Lernbedürfnisse, die Interessen, die Bildungserwartungen von jungen Menschen nach der Schule und vor der beruflichen Ausbildung unterscheiden sich erheblich von denen der älteren Menschen, die sich in ganz anderen - und in sich wiederum sehr heterogenen - Lebensphasen befinden. Es scheint offensichtlich, dass ältere Freiwillige in Gegenüberstellung zu jüngeren mehr an Lebenserfahrung, an beruflichen Fertigkeiten und Kompetenzen mitbringen, spezifische Motivlagen aufweisen und eine andere Form der Orientierung suchen.

Dies ist wohl auch ein Grund dafür, dass im Gesetz zum BFD die Dauer der pädagogischen Begleitung für die älteren Freiwilligen nach der Vollendung des 27. Lebensjahres nicht eindeutig festgelegt ist. Es ist lediglich formuliert, dass diese Freiwilligen in »angemessenem Umfang« an den vorgeschriebenen Seminaren teilzunehmen haben. Damit wird letztlich die aus den Jugendfreiwilligendiensten übernommene Regel der verpflichtenden 25 Tage Seminararbeit pro Jahr für ältere Teilnehmende ausgehebelt. Es bleibt zu hoffen, dass zukünftig diese nun bundesrechtlich legitimierten Ausnahmen nicht zur Regel werden und die damit verbundenen Einsparpotenziale nicht doch als Wettbewerbsvorteil im Angebotsspektrum der Träger und Einrichtungen verstanden werden.

  • Freiwilligendienste
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  • Der Begriff Freiwilligendienst ist nicht geschützt, es gibt ein breites Spektrum an Angeboten nicht nur für junge Menschen. Im Sommer 2011 wurde der Bundesfreiwilligendienst (BFD) eingeführt. Der BFD steht gleichwertig neben den bisherigen Freiwilligendiensten - dem Freiwilligen Sozialen Jahr und dem Freiwilligen Ökologischen Jahr -, die zum Teil ebenfalls mit Fördermitteln des Bundes unterstützt werden.


DER AUTOR
Prof. Dr. Reinhard Liebig ist Professor an der Fachhochschule Düsseldorf im Fachbereich Sozial- und Kulturwissenschaften. Zu seinen Forschungsschwerpunkten zählen das freiwillige Engagement, die Freiwilligendienste, Sozialökonomie sowie die Kinder- und Jugendarbeit.
Kontakt: reinhard.liebig@fh-duesseldorf.de


LITERATUR

BEHER, KARIN / CLOOS, PETER / GALUSKE, MICHAEL / LIEBIG, REINHARD / RAUSCHENBACH, THOMAS (2002): Zivildienst und Arbeitsmarkt. Sekundäranalysen und Fallstudien zu den arbeitsmarktpolitischen Effekten des Zivildienstes. Schriftenreihe des BMFSFJ, Band 222. Stuttgart/Berlin/Köln

DÜX, WIEBKEN / PREIN, GERALD / SASS, ERICH / TULLY, CLAUS J. (2008): Kompetenzerwerb im freiwilligen Engagement. Eine empirische Studie zum informellen Lernen im Jugendalter. Wiesbaden

EBERHARD, ANGELA (2002): Engagement für andere und Orientierung für sich selbst. Gestalt, Geschichte und Wirkungen des freiwilligen sozialen Jahres. München

ENGELS, DIETRICH / LEUCHT, MARTINA / MACHALOWSKI, GERHARD (2008): Evaluation des freiwilligen sozialen Jahres und des freiwilligen ökologischen Jahres. Reihe »Empirische Studien zum Bürgerschaftlichen Engagement«. Wiesbaden

GUGGENBERGER, BERND (HRSG.): Jugend erneuert Gemeinschaft. Freiwilligendienste in Deutschland und Europa. Eine Synopse. Baden-Baden 2000

JAKOB, GISELA (2011): Freiwilligendienste. In: Olk, Thomas / Hartnuß, Birger (Hrsg.): Handbuch Bürgerschaftliches Engagement. Weinheim/Basel, S. 185-201

LIEBIG, REINHARD (2009): Freiwilligendienste als außerschulische Bildungsinstitution für benachteiligte junge Menschen. Reihe »Empirische Studien zum Bürgerschaftlichen Engagement«. Wiesbaden

RAUSCHENBACH, THOMAS / LIEBIG, REINHARD (2002): Freiwilligendienste - Wege in die Zukunft. Gutachten zur Lage und Zukunft der Freiwilligendienste. Hrsg. von der Friedrich-Ebert-Stiftung. Bonn

RAUSCHENBACH, THOMAS (2010): Freiwilligendienste für junge Menschen - diesseits und jenseits des Zivildienstes. In: Theorie und Praxis der Sozialen Arbeit, Heft 6/2010, S. 404-415

SCHMIDLE, MARIANNE / SLÜTER, UWE (HRSG.; 2010): Das Freiwillige Soziale Jahr zeigt Wirkung! Freiwilligenbefragungen im Kontext der Qualitätsentwicklung im FSJ. Düsseldorf

STEMMER, PHILIPP (2009): Freiwilligendienste in Deutschland. Eine Expertise zur aktuellen Landschaft der Inlands- und Auslandsfreiwilligendienste in Deutschland. Hrsg. vom Zentrum für zivilgesellschaftliche Entwicklung. Freiburg


DJI Impulse 1/2012 - Das komplette Heft finden Sie im Internet unter:
www.dji.de/impulse

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Quelle:
DJI Impulse - Das Bulletin des Deutschen Jugendinstituts 1/2012 - Nr. 97, S. 41-43
Herausgeber: Deutsches Jugendinstitut e.V.
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Die Hefte können kostenlos unter www.dji.de/impulsebestellung.htm
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veröffentlicht im Schattenblick zum 14. Juli 2012