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FRAUEN/486: Serbien - Gewaltopfer auch durch Finanzkrise getroffen, Hilfen auf dem Prüfstand (IPS)


IPS-Inter Press Service Deutschland GmbH
IPS-Tagesdienst vom 2. Mai 2013

Serbien: Gewaltopfer auch durch Finanzkrise getroffen - Hilfen auf dem Prüfstand

von Claudia Ciobanu



Belgrad, 2. Mai (IPS) - Bis zu ein Viertel aller Frauen in Europa hat dem Europarat zufolge bereits häusliche Gewalt erlitten. Dennoch wird das weit verbreitete Phänomen oft ignoriert. Ein Kurzvideo, das im März in Serbien gezeigt wurde, hat das Schweigen gebrochen.

Auf den ersten Blick scheint es sich um einen der alltäglich auf YouTube ausgestrahlten Videoclips zu handeln. Zu sehen ist die rasche Abfolge von Bildern einer lächelnden jungen Frau mit unterschiedlichen Frisuren und Make-ups. Doch irgendwann gefriert das Lächeln, verschwindet und die Frau blickt immer trauriger und ängstlicher in die Kamera. Der Grund ist offensichtlich: Das Gesicht ist mit Blutergüssen und Abschürfungen übersät. Auf dem letzten Foto hält die Frau ein Schild mit der Bitte um Hilfe hoch.

Noch bevor bekannt wurde, wer die Frau ist und ob das Video 'Ein Foto pro Tag im schlimmsten Jahr meines Lebens' eine wahre Geschichte dokumentiert, wurde es in Serbien und in anderen Ländern binnen weniger Tage zwei Millionen Mal angeklickt. Der Film ist Teil einer Kampagne der Stiftung 'B92', die mit dem größten Fernsehsender Serbiens zusammenarbeitet, um die Bevölkerung des südosteuropäischen Landes für das Problem der häuslichen Gewalt zu sensibilisieren.


Mehr als 60 Tote durch häusliche Gewalt seit Anfang 2012

Seit Beginn vergangenen Jahres sind in Serbien mehr als 60 Frauen an den Folgen innerfamiliärer Gewalt gestorben, wie das Autonome Frauenzentrum in Belgrad mitteilte. Frauengruppen prangern an, dass jede zweite Frau im Land bereits körperlich misshandelt oder bedroht worden ist.

"Es ist wichtig, über dieses Problem zu sprechen, damit unsere gesamte Gesellschaft versteht, dass es nicht normal ist, eine Frau zu schlagen. Die Opfer sollen dazu ermutigt werden, die Gewalttaten anzuzeigen", sagt Veran Matic, der Präsident der Stiftung B92. "Uns geht es auch darum, die Solidarität mit den Opfern zu fördern, Reaktionen hervorzurufen und die Behörden zum Handeln zu zwingen."

Matics Stiftung hat innerhalb von sechs Jahren fünf Frauenhäuser eröffnet. Noch in diesem Jahr sollen zwei weitere Schutzunterkünfte hinzukommen. Gemeinsam mit dem Entwicklungsprogramm der Vereinten Nationen (UNDP) will die Stiftung die Behörden dazu bewegen, die Gesetze zum Schutz vor Gewalt besser umzusetzen und den Opfern mehr Beistand zu leisten.

B92 versucht die Popularität des Fernsehkanals zu nutzen, um diejenigen sozialen Themen anzusprechen, die von den Behörden nicht ausreichend beachtet werden. Danijela Pesic vom Autonomen Frauenzentrum zufolge hat die Umsetzung geltender Gesetze oberste Priorität. Denn die Frauenhäuser könnten nur eine kurzfristige Notlösung sein, betont sie.

Häusliche Gewalt werde in erster Linie durch patriarchalische Werte geschürt und lasse sich nur über eine Veränderung der Gesellschaftskultur erreichen, unterstreicht sie. Armut, mangelnde Bildung oder Alkoholsucht seien nicht ausschlaggebend für die Gewaltbereitschaft. Das gleiche Ausmaß an Übergriffen sei in Dörfern und Städten zu beobachten, unabhängig von Bildungsstand und Einkommen der Täter.

"Männern muss klar gemacht werden, dass sie kein Recht dazu haben, Frauen zu misshandeln. Die Sensibilisierung muss im Kindergarten anfangen", fordert Pesic. Obgleich sie Fortschritte in Serbien erkennen kann, vermisst sie die systematische staatliche Unterstützung für Organisationen, die sich gegen häusliche Gewalt engagieren.

Finanzmittel kommen nur sporadisch, zumeist als projektbezogene Zuwendungen aus westlichen Staaten. Die Zuschüsse laufen aber an einem bestimmten Punkt aus und werden nicht fortgesetzt. So wurden Notrufzentren für Opfer nach wenigen Jahren dicht gemacht, obwohl die Frauen gerade Vertrauen zu ihnen gefasst hatten.

Noch ist Serbien nicht Mitglied der Europäischen Union. Es steht wie andere Länder der Region im Ruf, ein machistisches Land zu sein. Ein Beitritt in die EU würde zwar zu einer Anpassung der Gesetze an europäische Standards führen, nicht aber zur automatischen Umsetzung.


Kostenfreie Hotlines für Opfer selten

Ein 2012 veröffentlichter Bericht des Netzwerks 'Women Against Violence Europe' (WAVE) zeigt auf, dass nur ein Drittel der Mitgliedsstaaten den Empfehlungen des Europarats gefolgt ist, eine kostenfreie Hotline für Opfer häuslicher Gewalt einzurichten. Mit der Verfügbarkeit von Frauenhäusern sieht es sogar noch schlechter aus. Nur fünf von 46 untersuchten Ländern bieten die erforderliche Zahl von Schutzhäusern an. Dabei schneiden die Staaten in Zentral- und Osteuropa schlechter ab als die im Westen Europas.

In vielen ehemals sozialistischen Staaten werden erst seit etwa zehn Jahren intensivere Maßnahmen zur Prävention häuslicher Gewalt und Unterstützung der Opfer ergriffen. In Estland beispielsweise wurden die zehn bestehenden Frauenhäuser alle erst in den vergangenen fünf Jahren eröffnet. Finanziert werden sie dort teils vom Staat und teils von Non-Profit-Organisationen.

Viele Frauengruppen in der Region fürchten um den Fortbestand der Einrichtungen. Denn die Wirtschaftskrise gefährdet die ohnehin prekäre Finanzierung erheblich. Ein 2010 verbreiteter Report der Hilfsorganisation 'Oxfam' und der 'European Women's Lobby' über die Armut und soziale Ausgrenzung von Frauen in der Europäischen Union in Zeiten der Rezession zitiert Vertreter von Nichtregierungsorganisationen (NGOs) aus Zentral- und Osteuropa, denen zufolge seit Beginn der Krise eine wachsende Zahl von Frauen Nottelefone nutzt und um Aufnahme in Frauenhäuser bittet.

Die beiden Organisationen heben außerdem hervor, dass staatliche Sparmaßnahmen in ganz Europa negative Folgen für die Bekämpfung häuslicher Gewalt haben. So seien in Rumänien Frauenhäuser geschlossen worden. Slowakische NGOs berichten, durch den Rückzug ausländischer Geber geschwächt worden zu sein. Und estnische Gruppen klagen über das Fehlen einer längerfristigen Planungssicherheit, weil sie von den lokalen Behörden keine Unterstützung mehr erhalten.


Zukunft von EU-Finanzierung fraglich

Auch die EU-Mittel, die in erster Linie über das 'Daphne'-Programm vielen Frauenrechtsinitiativen zukommen, stehen zurzeit auf dem Prüfstand. Während noch über das Siebenjahresbudget der Europäischen Union verhandelt wird, sind Gerüchte über Kürzungen bereits in Umlauf.

Obwohl die Europäische Kommission nach eigenen Angaben auch weiterhin in die Gleichbehandlung der Geschlechter im bisherigen Umfang investieren und dafür in den nächsten sieben Jahren etwa 800 Millionen Euro bereitstellen will, werden in den Ländern selbst größere Einschnitte erwartet. (Ende/IPS/ck/2013)


Links:

https://www.youtube.com/watch?v=q4zGO78tV9s
http://www.b92.net/eng/news/society-article.php?yyyy=2013&mm=03&dd=28&nav_id=85400
http://www.womenngo.org.rs/english/
http://policy-practice.oxfam.org.uk/publications/an-invisible-crisis-womens-poverty-and-social-exclusion-in-the-european-union-a-111957
http://www.ipsnews.net/2013/04/austerity-leaves-domestic-violence-victims-stranded/

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Quelle:
IPS-Tagesdienst vom 2. Mai 2013
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veröffentlicht im Schattenblick zum 3. Mai 2013