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FRAUEN/577: Indien - Säureangriffe auf Frauen gehen unvermindert weiter (IPS)


IPS-Inter Press Service Deutschland GmbH
IPS-Tagesdienst vom 17. April 2015

Indien: Säureangriffe auf Frauen gehen unvermindert weiter

von Neeta Lal


Bild: © Zofeen Ebrahim/IPS

Tausende junge Frauen, die Säureanschläge überlebt haben, werden diskriminiert
Bild: © Zofeen Ebrahim/IPS

Neu-Delhi, 16. April (IPS) - Die 26-jährige Vinita Panikker hält sich für die bedauernswerteste Frau der Welt. Vor drei Jahren hatte ihr Mann, der sie verdächtigte, eine Affäre mit ihrem Chef zu haben, einen Säureanschlag auf sie verübt. Die ätzende Substanz zerstörte das einst hübsche Gesicht der jungen Frau, die außerdem auf einem Auge erblindet ist.

Die Inderin hat inzwischen etwa 10.000 US-Dollar für ein Dutzend plastischer und zwei Augen-Operationen ausgegeben. Ihren gut bezahlten Job in einer Computerfirma musste sie aufgeben. Derzeit arbeitet sie als Köchin bei einer lokalen Non-Profit-Organisation. "Mein Leben hat sich vollständig verändert", sagt sie. "Früher war ich beruflich erfolgreich, doch inzwischen bin ich gesellschaftlich geächtet. Ich habe weder Geld noch eine Familie."

Säureangriffe haben das Leben Tausender indischer Frauen zerstört. Ihre einzigen 'Vergehen' bestanden darin, arrangierte Ehen abgelehnt oder unerwünschte sexuelle Avancen zurückgewiesen zu haben. Andere waren in das Kreuzfeuer häuslicher Streitigkeiten geraten. In der patriarchalisch strukturierten Gesellschaft Indiens gibt es Männer, die zu Säure greifen, wenn sie auch nur den leisesten Verdacht hegen, von einer Frau abgelehnt zu werden.

"Säure verbrennt die Haut bis auf die Knochen, die manchmal ebenfalls zerstört werden", erläutert Rohit Bhargava, Dermatologe am Max-Hospital in Noida im nordindischen Bundesstaat Uttar Pradesh. In dem Unionsstaat wurden 185 der insgesamt 309 im letzten Jahr amtlich erfassten Säureangriffe verübt. "Die langfristigen Folgen können Erblindung, die Vernarbung von Gesicht und Körper, Behinderungen und eine lebenslange Entstellung sein", so der Mediziner.

Für viele Überlebende sind jedoch die psychischen Narben besonders quälend. Da zahlreiche Opfer körperbehindert sind und sogar bei einfachen Tätigkeiten die Hilfe anderer brauchen, was ihre Abhängigkeit von der Familie noch mehr steigert, werden sie zunehmend als Belastung wahrgenommen.


Lebenslange soziale Ächtung

Shirin Juwaley, eine Überlebende, hat die 'Palash-Stiftung' gegründet, um anderen Leidensgefährtinnen bei der Wiedereingliederung in die Gesellschaft zu helfen und ihnen alternative Existenzgrundlagen zu verschaffen. Die soziale Ausgrenzung sei weitaus schmerzhafter als die körperlichen Verletzungen, meint sie. "Die Diskriminierung durch Freunde, Verwandte und Nachbarn tut richtig weh."

1998 hatte Juwaleys Mann sie mit Säure übergossen, weil sie sich von ihm scheiden lassen wollte. Obwohl sie ihn mehrmals angezeigt hat, ist er nach wie vor auf freiem Fuß. Juwaley musste langsam wieder in ihr Leben zurückfinden. Heute reist sie durch die Welt und berichtet auf Konferenzen über die sozialen, finanziellen und psychischen Folgen ihrer Verletzungen. Ihre Organisation untersucht auch die soziale Ausgrenzung von Frauen, die mit körperlichen Entstellungen leben.

Die Hilfsorganisation 'Acid Survivors Trust International' (ASTI) mit Sitz in London schätzt, dass im 1,2 Milliarden Einwohner zählenden Indien jährlich etwa 1.000 Säureangriffe begangen werden. Offizielle Zahlen liegen nicht vor. Die Dunkelziffer könnte weitaus höher sein. Menschenrechtsaktivisten gehen sogar von etwa 400 Angriffen pro Monat aus.

"Viele Frauen sprechen nicht über die Attacken, da sie Repressalien befürchten", sagt Ashish Shukla, Koordinatorin der Organisation 'Stop Acid Attacks' in Neu-Delhi. Seit 2013 hat die Gruppe mehr als 100 Säureopfern geholfen, in die Gesellschaft zurückzufinden.

"Die Opfer dieser Angriffe werden täglich erniedrigt. Die meisten Frauen erleben, dass niemand mehr mit ihnen zu tun haben möchte", so Shukhla. Die Untätigkeit der Behörden führe dazu, dass die Angriffsopfer doppelt gestraft seien. "Sie sind gezwungen, mehrmals vor Gericht aufzutreten, von den traumatischen Erlebnissen zu berichten und Ärzte aufzusuchen, während sie mit den tragischen Auswirkungen auf ihr eigenes Leben fertigwerden müssen - mit ihren Entstellungen, dem Verlust des Arbeitsplatzes und mit sozialer Diskriminierung."


Preiswerte Waffe

Nach einem seit 2013 geltenden Gesetz muss eine Person, die in Indien einen Säureangriff verübt, mit Haftstrafen zwischen zehn Jahren und lebenslänglich rechnen. Am 16. Juli 2013 ordnete der Oberste Gerichtshof landesweite Beschränkungen an, was den Verkauf von Salz-, Schwefel- und Salpetersäure angeht. Bisher sind diese Chemikalien weiterhin leicht erhältlich. Laut dem Urteilsspruch müssen alle Käufer einen amtlichen Lichtbildausweis vorzeigen und ihre Daten erfassen lassen. Die meisten Händler, mit denen IPS gesprochen hat, gaben an, das Gesetz nicht zu kennen.

Menschenrechtsaktivisten sind der Meinung, dass diese schreckliche Form der geschlechtsspezifischen Gewalt nicht eher enden wird, bis die Regierung potenziellen Tätern den Zugang zu der Waffe ihrer Wahl erschwert. Zurzeit sind Ein-Liter-Behälter mit Säure im freien Handel für umgerechnet 33 US-Cent erhältlich.

Anfang April entschied der Oberste Gerichtshof, dass private Krankenhäuser Säureopfer kostenfrei behandeln müssen. Die Bundesstaaten sind gehalten, gegen medizinische Einrichtungen vorzugehen, die diese Anordnung missachten.

Politische Beobachter meinen, Indien solle sich ein Beispiel an den Nachbarstaaten Pakistan und Bangladesch nehmen und stärker auf die Einhaltung bestehender Gesetze achten. Seit Einführung der Todesstrafe für derartige Verbrechen in Bangladesch ist die Zahl von Säureangriffen von 492 Fällen im Jahr 2002 auf 75 im vergangenen Jahr zurückgegangen, wie ASTI mitteilte. Schärfere Gesetze in Pakistan haben bewirkt, dass 300 Prozent mehr Frauen als vorher die Angriffe zur Anzeige bringen.

In Indien verläuft diese Entwicklung langsamer. Das gilt selbst für Haryana und Uttar Pradesh, wo die Behörden mit der Einführung einer kostenlosen Behandlung für die Opfer ein positives Zeichen gesetzt haben.

Nicht nur Frauen sind Zielscheiben dieser grausamen Anschläge. Auch auf Männer werden inzwischen immer mehr Säureattacken verübt. Etwa ein Drittel aller in Indien erfassten Angriffe richteten sich gegen Männer, die in Grundstücks- oder Finanzstreitigkeiten verwickelt waren. (Ende/IPS/ck/2015)


Link:

http://www.ipsnews.net/2015/04/acid-attacks-still-a-burning-issue-in-india/

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Quelle:
IPS-Tagesdienst vom 16. April 2015
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veröffentlicht im Schattenblick zum 18. April 2015

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