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FRAUEN/580: Indien - Zwei Fünftel aller verheirateten Frauen Opfer sexueller Gewalt (IPS)


IPS-Inter Press Service Deutschland GmbH
IPS-Tagesdienst vom 15. Mai 2015

Indien: Ehe als Lizenz zur Vergewaltigung - Zwei Fünftel aller verheirateten Frauen Opfer sexueller Gewalt

von Neeta Lal


Bild: © Neeta Lal/IPS

Anna Marie Lopes konnte sich durch Flucht vor der massiven sexuellen Gewalt durch ihren Mann retten
Bild: © Neeta Lal/IPS

NEU-DELHI (IPS) - Sechs Jahre lang durchlebte Anna Marie Lopes die Hölle auf Erden. Im Haus ihres Mannes in Dubai wurde sie vergewaltigt, verprügelt und gefoltert. 2012 gelang ihr die Flucht aus der Gefangenschaft und sie konnte ein Flugzeug besteigen, das sie nach Neu-Delhi brachte.

"Mein Mann hat mich drei Mal auf das Schwerste sexuell misshandelt", berichtet die 28-Jährige. "Ich stand unter seiner Bewachung und litt an Depressionen und Unterernährung. Nach einem Fluchtversuch behielt er meinen Pass ein, nahm mir mein Geld ab und verprügelte mich."

Heute arbeitet Lopes für eine Nichtregierungsorganisation (NGO) in der indischen Hauptstadt. Bis heute macht ihr die Rückkehr zur Normalität zu schaffen. "Es ist schwer, nach einem solchen traumatischen Erlebnis von vorn anzufangen, ohne auf die Hilfe der eigenen Eltern zählen zu können. Doch ich hatte keine andere Wahl."

Was ihre Geschichte von der tausender anderer indischer Frauen unterscheidet: Ihr Leid hat ein Ende gefunden. Für viele Inderinnen ist sexuelle Gewalt in der Ehe Normalität. Der UN-Bevölkerungsfonds (UNFPA) schätzt, dass in dem südasiatischen Land mehr als 40 Prozent aller verheirateten Frauen im Alter von 15 bis 49 Jahren von ihren Männern geschlagen, vergewaltigt oder zum Geschlechtsverkehr gezwungen werden.


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Eine 2011 veröffentlichte Umfrage des 'International Center for Research on Women', einer NGO mit Sitz in Washington, hat ergeben, dass jeder fünfte indische Mann eingeräumt hat, seine Frau zum Sex zu zwingen. Doch nur jede vierte suche sich Hilfe. Opfer sexueller Gewalt seien dazu noch weniger bereit als Opfer körperlicher Gewalt. In der Regel wendeten sich die Betroffenen lieber an die Angehörigen als an die Polizei, so die Untersuchung.

Angesichts dieser unheilvollen und fest etablierten sozialen Realität gibt es große Widerstände dagegen, Vergewaltigung in der Ehe unter Strafe zu stellen. Oft wird argumentiert, dass in Indien die Ehe heilig sei. So erklärte der Innenminister Haribhai Parathibhai Chaudhary kürzlich in einer Mitteilung an 'Rajya Sabha', das Oberhaus des indischen Parlaments, dass der Begriff 'Vergewaltigung', wie er international verstanden werde, im indischen Kontext aufgrund verschiedener Faktoren einschließlich dem Grad von Bildung, Analphabetismus und Armut sowie der Religionszugehörigkeit und dem Denken der Gesellschaft nicht angemessen angewendet werde könne.

Menschenrechtler haben gegen diese Äußerung aufs Heftigste protestiert. Abgesehen davon, dass sie das patriarchalische Denken der indischen Gesellschaft zum Ausdruck bringe, besudele sie Indiens Ruf als liberale und auf Gleichheit ausgerichtete Demokratie, kritisieren sie.

"Will uns die Regierung etwa sagen, dass es akzeptabel ist, dass Männer ihre Frauen vergewaltigen? Oder ist sie der Meinung, dass die Ehe eine Lizenz zur sexuellen Gewalt ist, unter dem Vorwand, Indiens Kultur und Werte hochzuhalten?", fragt Amitabh Kumar vom 'Centre for Social Research', einer in Neu-Delhi ansässigen Denkfabrik. "Eine Vergewaltigung ist und bleibt eine Vergewaltigung und [...] verstößt gegen die fundamentalen Rechte der Opfer."

Derzeit wird Vergewaltigung in der Ehe - definiert als erzwungener Beischlaf durch einen Mann ohne die Zustimmung seiner Frau mit der Folge, dass letztere körperlich und sexuell misshandelt wird - in Paragraph 375 des indischen Strafrechts geregelt. Darin wird explizit festgehalten, dass der Geschlechtsverkehr, zu dem Frauen ab 15 Jahren von ihren Männern gezwungen werden, keine Vergewaltigung ist.

Obwohl das 2005 verabschiedete Gesetz für häusliche Gewalt sexuellen Missbrauch in der Ehe anerkennt, ist es nach Ansicht von Juristen lediglich zivilrechtlich relevant und zieht keine Gefängnisstrafe für die übergriffigen Ehemänner nach sich.

Nach der Gruppenvergewaltigung einer jungen Medizinstudentin in einem Bus in Neu-Delhi im Dezember 2012 hat der öffentliche Aufschrei in Indien die damalige Regierungspartei Vereinigte Progressive Allianz (UPA) zur Einsetzung einer Kommission veranlasst, die mit der Reform der staatlichen Anti-Vergewaltigungsgesetze beauftragt wurde. Das dreiköpfige Verma-Komitee für Gerechtigkeit empfahl, sexuelle Gewalt in der Ehe als Vergewaltigung einzustufen und zu bestrafen.

Doch die damals von der Kongresspartei geführte Regierung lehnte die Umsetzung der Empfehlung mit der Begründung ab, sie gefährde die Institution der Ehe. "Wird Vergewaltigung in der Ehe zu einem Straftatbestand gemacht, gerät das gesamte Familiensystem in eine Schieflage", hieß es in einem Bericht, den Abgeordnete dem Parlament 2013 vorlegten.


Bild: © Naveen Kadam/CC-BY-2.0

Ein Paar während eines indischen Hochzeitsrituals
Bild: © Naveen Kadam/CC-BY-2.0

Die Regierung hat zwar einem neuen Gesetz gegen sexuelle Übergriffe zugestimmt, doch wird sexuelle Gewalt in der Ehe nicht kriminalisiert. Experten zufolge nimmt die derzeit von der Bharatiya-Janata-Partei (BJP) geführte Regierung eine ähnlich konservative Haltung ein wie ihre Vorgängerin. So ließ die BJP-Sprecherin Meenakshi Lekhi in diesem Monat wissen, dass die Regierung nicht die Absicht habe, dem Verma-Komitee oder den entsprechenden Forderungen der Zivilgesellschaft Folge zu leisten.

Im Januar hatte der Oberste Gerichtshof die Petition eines Vergewaltigungsopfers abgewiesen, sexuelle Gewalt in der Ehe zu einer Straftat zu erklären. Begründet wurde das Urteil damit, dass es einer Einzelperson nicht möglich sei, ein landesweit gültiges Gesetz zu verändern.


Juristen uneins

Die Juristen im Land sind sich uneins in der Frage für und wider einer Kriminalisierung von Vergewaltigung in der Ehe. So haben sich der Strafrechtsexperte Ram Jethmalani und der ehemalige Richter am Obersten Gerichtshof, K. T. Thomas, hinter die Regierung gestellt und erklärt, dass eine gesetzliche Neuregelung nicht erforderlich sei.

Doch viele ihrer Kollegen sind anderer Ansicht. "Die Institution der Ehe ist integraler Bestandteil der indischen Kultur. Doch konnte uns das nicht davon abhalten, das Anti-Mitgift-Gesetz oder das Gesetz gegen häusliche Gewalt zu verabschieden", betont der Menschenrechtsanwalt Soumya Bhaumik.

"Wenn ein Mann, der seine Frau ermordet hat, vor Gericht gestellt werden kann, warum sollte das nicht auch im Fall einer Vergewaltigung möglich sein? Eine Heiratsurkunde macht eine Vergewaltigung nicht besser. Das derzeitige Gesetz zu häuslicher Gewalt behandelt solche Vorkommnisse als zivilrechtliche Vergehen, was dazu führt, dass den Tätern ein Kontaktverbot auferlegt wird, sie aber nicht hinter Gitter bringt."

Auch das UN-Komitee für die Abschaffung der Diskriminierung von Frauen legt Indien nahe, die Vergewaltigung in der Ehe unter Strafe zu stellen, wie dies in fast allen europäischen Ländern, in Kanada und den USA, in Südafrika, Malaysia, Bolivien, der Türkei und vielen anderen Staaten der Fall ist. Indien gehört zu einer kleinen Minderheit von Ländern wie China, Afghanistan, Pakistan und Saudi-Arabien, die sich strikt weigern, diese Form der Gewalt zu kriminalisieren.

Einige Experten in Indien vermuten hinter der Haltung der Regierung die Sorge, mit Protesten religiöser Gruppen konfrontiert zu werden. Das hinduistische Ehegesetz von 1955 hält fest, dass es zu den ehelichen Pflichten der Frau gehört, mit ihren Männern zu schlafen. Diese tief verwurzelte Ansicht und die wirtschaftliche Abhängigkeit hindern viele Frauen in Indien daran, die Verbrechen anzuzeigen.

"Die meisten Frauen zeigen die Übergriffe nicht an, weil eine Gefängnisstrafe der Täter sie um den Brotverdiener der Familie bringen würde", meint Winnie Singh, Geschäftsführerin der Frauenhilfsorganisation 'Maitri' mit Sitz in Neu-Dehli. "Unsere Forschungen haben ergeben, dass es in noch nicht einmal in einem Prozent der Fälle, in denen sexuelle Gewalt in der Ehe zur Anzeige kommt, zu einer Verurteilung kommt." Singh kritisiert auch, dass in den seltenen Fällen einer Gerichtsverhandlung die Beweislast bei den Frauen liege. Auch dies schrecke die Opfer ab, rechtliche Schritte einzuleiten.

Wie Aashish Gupta von der Non-Profit-Armutsforschungsorganisation 'Research Institute for Compassionate Economics' (RICE) in einem Bericht belegt, bleibt Vergewaltigung trotz der Reform des Strafgesetzes von 2013 ein Verbrechen, das von den Opfern viel zu oft verschwiegen wird. Guptas Bericht zufolge werden nur sechs von 100 Fällen sexueller Gewalt angezeigt, die von Männern begangen werden, die mit ihren Opfern nicht verheiratet sind.

Experten wie Singh sind der Meinung, dass in Anbetracht eines solchen Szenarios Sensibilisierung und Aufklärung der breiten Masse entscheidend seien, damit die Opfer endlich Hilfe und Gerechtigkeit erführen. "Um Frauen vor diesen abscheulichen Verbrechen zu schützen, müssen Regierung und Menschenrechtsorganisationen Rehabilitierungs- und Sensibilisierungsbemühungen verstärken", betont sie. (Ende/IPS/kb/15.05.2015)


Link:

http://www.ipsnews.net/2015/05/the-definition-of-rape-cannot-change-with-a-marriage-certificate/

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IPS-Tagesdienst vom 15. Mai 2015
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veröffentlicht im Schattenblick zum 19. Mai 2015

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