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FRAUEN/599: Nahost - Palästinensische 'Widerstandsbabys' durch In-Vitro-Fertilisation (IPS)


IPS-Inter Press Service Deutschland GmbH
IPS-Tagesdienst vom 7. August 2015

Nahost: Palästinensische 'Widerstandsbabys' durch In-Vitro-Fertilisation

von Silvia Boarini


Bild: © Silvia Boarini/IPS

Die Zwillinge Karam und Adam wurden mit Sperma gezeugt, das aus einem israelischen Gefängnis geschmuggelt wurde
Bild: © Silvia Boarini/IPS

GAZA-STADT (IPS) - Die 13-jährige Hula Khadoura sitzt auf dem Sofa in der Wohnung ihres Großvaters in Tuffah, einem Viertel von Gaza-Stadt. Im Arm hält sie ihre einjährigen Brüder Karam und Adam. "Ich bin so glücklich, dass es sie gibt", strahlt das Mädchen. Was keine Selbstverständlichkeit ist, denn die Eltern der Zwillinge haben seit elf Jahren keinen körperlichen Kontakt. Solange sitzt der Vater der Kinder schon in Israel im Gefängnis.

Saleh Khadouras Frau Bushra Abu Saafi gehört zu den rund 30 Palästinenserinnen, die sich einer künstlichen Befruchtung unterzogen haben. Die Spermien ihrer Männer wurden aus israelischen Gefängnissen geschmuggelt, was von der israelischen Gefängnisverwaltung trotz der strikten Sicherheitskontrollen inzwischen nicht mehr für abwegig gehalten wird.

Die Palästinensische Autonomiebehörde und die Hamas unterstützen Frauen, die auf diese ungewöhnliche Art und Weise schwanger werden wollen. Im Mai organisierte das palästinensische Ministerium für Gefangene eine kollektive Geburtstagsfeier für die kleinen 'Botschafter der Freiheit', wie die im Reagenzglas gezeugten Kinder genannt werden.

"Mein Mann hatte vorgeschlagen, dass wir es mit der 'In-vitro-Fertilisation' versuchen", berichtet Abu Saafi, die mit ihren insgesamt fünf Kindern im Haus ihres Vaters lebt.


Politische Gefangene sind Teil der palästinensischen Identität

Nach Angaben der palästinensischen Gefangenenhilfsorganisation 'Addameer' sitzen derzeit etwa 5.750 Palästinenser - davon um die 5.550 Männer - aus politischen Gründen in Israel hinter Gittern. Für das unter Besatzung stehende palästinensische Volk sind die Gefangenen Teil ihrer kollektiven Identität. Sie werden von den Palästinensern als Brüder, Schwestern, Mütter und Väter verehrt. Am 'Tag der Gefangenen' demonstrieren sie für deren Freilassung.

Auf einem Tisch in Abu Saafis Wohnzimmer steht ein gerahmtes Foto von Saleh Khadoura, der zum Zeitpunkt seiner Festnahme 23 Jahre alt war. Ihm wurde vorgeworfen, Mitglied der radikalen Bewegung Islamischer Dschihad zu sein. Damals war das Paar fünf Jahre lang verheiratet gewesen. Nur zwei der gemeinsamen Kinder hatten das Privileg, ihn als Familienvater zu erleben.

Als Khadoura ins Gefängnis kam, war Abu Saafi mit Ahmed schwanger. "Die letzten elf Jahre waren nicht einfach", berichtet sie. "Wir alle vermissen Saleh sehr, dies gilt aber besonders für Ahmed. Er weiß nicht, was das Wort 'Vater' bedeutet. 'Wenn ich groß bin, will ich sein wie Großvater', sagt er."

Einer vierten Schwangerschaft hatte Abu Saafi zunächst mit Skepsis entgegengesehen. "Als Saleh den Vorschlag machte, hatten mein Vater und ich Bedenken. Wir wussten ja nicht, wie die Leute reagieren würden." Doch schließlich willigte sie ein und ging offen mit ihrer Entscheidung um.

Die lokalen Medien berichteten ausgiebig über den Fall, und von religiösen Würdenträgern kam moralische Unterstützung. Abu Saafi musste zwei Monate lang viele Tests über sich ergehen lassen, bis sie den Eingriff vornehmen lassen konnte.

Sie und die anderen Frauen reden nur ungern darüber, wie die Spermien ihrer Männer den Weg aus den Gefängnissen fanden. Möglicherweise haben ihre Kinder eine aktive Rolle dabei gespielt. Während die Frauen bei den Gefängnisbesuchen durch eine Glasscheibe von ihren Männern getrennt sind und per Telefon miteinander kommunizieren, werden die Kinder am Ende der Besuchszeit zu den Männern vorgelassen.

Die Krankenhäuser im Gazastreifen und im Westjordanland, die die Eingriffe vornehmen, berichten, dass das Sperma in unterschiedlichen Behältnissen ankommt - sogar in Bonbonpapier oder in Fläschchen für Augentropfen.

"Die Vorbereitungen und die Wartezeit waren sehr anstrengend", erinnert sich Abu Saafi. Als sie endlich schwanger geworden sei, habe die Familie ein Freudenfest veranstaltet. Als ich später erfuhr, dass ich Zwillinge erwartete, war die Überraschung noch mal so groß."

Palästinenserinnen betrachten ihre Fruchtbarkeit als ihr Mittel des Widerstandes. Die dänische Medizinerin Liv Hansson erklärt dazu, dass die durchschnittliche Fertilitätsrate in den Palästinensergebieten im Zeitraum 2011 bis 2013 bei 4,1 Kindern pro Frau gelegen habe. Angesichts des hohen Bildungsstands der Frauen und der niedrigen Kindersterblichkeit habe man eigentlich eine niedrigere Rate erwartet.


'Demographische Zeitbombe'

Die Regierung Israels sieht die hohe Zahl der Geburten im Westjordanland und im Gazastreifen sowie in den von Palästinensern bewohnten israelischen Gebieten offenbar als Bedrohung. Häufig ist von einer 'demografischen Zeitbombe' die Rede. "Schon der ehemalige Palästinenserpräsident Jassir Arafat hatte den Unterleib der Palästinenserinnen als die größte Waffe Palästinas bezeichnet", so Hansson. "Die Fruchtbarkeit der Frauen ist nicht nur eine familiäre, sondern auch eine gesellschaftliche und politische Angelegenheit."

Abu Saafi und ihre fünf Kinder werden bis zum nächsten Treffen mit Khadoura noch drei Jahre warten müssen. Seit 2012, als der entführte israelische Soldat Gilad Shalit freigelassen wurde, setzt die Gefängnisbehörde in Israel nach und nach das Besuchsrecht für Verwandte aus dem Gazastreifen wieder in Kraft. Ahmed hatte seinen Vater vor zwei Jahren gesehen, seine Schwester Hula vor sechs Monaten. Die Zwillinge kennen ihren Vater nur vom Foto her, das auf dem Tisch der Familie einen Ehrenplatz einnimmt. (Ende/IPS/ck/07.08.2015)


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http://www.ipsnews.net/2015/07/ambassadors-of-freedom-palestines-resistance-babies/

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IPS-Tagesdienst vom 7. August 2015
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veröffentlicht im Schattenblick zum 11. August 2015

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