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FRAUEN/648: Von feminisierten zu feministischen Städten? (frauensolidarität)


frauensolidarität - Nr. 137, 3/16

Von feminisierten zu feministischen Städten?

Gender, Frauen und Urbanisierung im 21. Jahrhundert

von Sylvia Chant


Während Städte oft als "emanzipatorische" Räume für Frauen und Mädchen betrachtet werden, trifft dies nicht unbedingt auf diejenigen zu, die in Armut und/oder Slums leben. Nichtsdestotrotz verkörpert die Mobilisierung der weiblichen Stadtbewohnerinnen an der Basis das Potenzial, "feminisierte" in "feministische" Städte umzuwandeln, insbesondere wenn gleichzeitig eine geschlechtergerechte Politik und Planung stattfindet. Dieser Artikel bietet einen Überblick über die Faktoren, die für die gegenwärtige "Feminisierung" städtischer Bevölkerungen im globalen Süden verantwortlich sind, und erläutert Herausforderungen und Möglichkeiten zur Reduktion von Geschlechterungleichheiten. [1]


Das 21. Jahrhundert wird oft als das "urbane Jahrhundert" bezeichnet. Zwischen 2007 und 2008 kam es zu einer Wende. Zum ersten Mal in der Geschichte ist der Anteil der Menschen, die in Städten leben, global größer als die Zahl derjenigen in den ländlichen Gebieten. Obwohl nicht alle sogenannten Entwicklungsländer in den letzten Jahren eine nachhaltige Urbanisierung erlebten, werden wahrscheinlich bis 2020 die Menschen auch im globalen Süden mehrheitlich in Städten leben. Dies wird den "zweiten Wendepunkt" darstellen.

Man schätzt, dass es bis zum Jahr 2050 weltweit 6,4 Mrd. Stadtbewohner_innen geben wird. Dies entspricht der gesamten Weltbevölkerung von 2004 und wird zwei Drittel der zukünftigen Weltbevölkerung ausmachen. Diese Trends haben besondere Auswirkungen für Frauen und Geschlechterverhältnisse - auf mehreren Ebenen.


Städtischer Arbeitsmarkt

Dieses Jahrhundert wird eine unverhältnismäßig hohe Zahl an Frauen in der Stadtbevölkerung aufweisen. Grund dafür ist die weibliche Land-Stadt-Migration, welche im globalen Süden in der Vergangenheit am stärksten in Lateinamerika war. Das Leben in der Stadt eröffnet Frauen vergleichsweise größere Chancen für Beschäftigung und Einkommen. Obwohl in vielen Teilen Asiens und Afrikas südlich der Sahara Landwirtschaft eine wichtige weibliche Existenzquelle bleibt, sind neue berufliche Nischen für Frauen durch den Ausbau des städtischen Arbeitsmarktes entstanden. Faktoren, die zum Anstieg des Zuzugs von Frauen in die Städte führten, waren ferner die Aufhebung traditioneller Migrationsbeschränkungen für Frauen [2] sowie die geringere soziale Kontrolle im patriarchalen Verwandtschaftssystem.

Neben feminisierten Wanderungsbewegungen führen Geschlechterunterschiede in der Lebenserwartung im globalen Süden zu einer deutlichen Feminisierung der Städte. Dies wird unter den "Älteren" über 60-Jährigen und vor allem bei den "älteren Alten" über 80-Jährigen deutlich: In so unterschiedlichen Ländern wie Botswana und Argentinien gibt es doppelt so viele "ältere alte" Frauen wie Männer. Setzen sich die oben genannten Trends fort, ist es sehr wahrscheinlich, dass Frauen in allen sogenannten Entwicklungsregionen in Zukunft die Mehrheit der städtischen Bevölkerung ausmachen werden.


Katalysator für Emanzipation

Dass Urbanisierung historisch als Katalysator für die "Emanzipation der Frau" gesehen wird, verdanken wir mehreren ineinandergreifenden Einflüssen. Einer besteht, wie bereits im Zusammenhang mit der Land-Stadt-Migration angedeutet, in der Schwächung der patriarchalen und gerontokratischen (Herrschaft der Alten) Familiensysteme. Dabei untergräbt die räumliche Trennung von der älteren Verwandtschaft deren "traditionelle" Macht, Kontrolle und Einfluss und bietet jungen Frauen wie Männern größere Freiheiten.

Eine weitere wichtige Gruppe von Faktoren besteht darin, dass Stadtgebiete Frauen in der Regel mehr Möglichkeiten für Bildung, bezahlte Beschäftigung und Unternehmer_innentum bieten. Befreit von den Ansprüchen der ländlichen Subsistenzproduktion - also Zeit und unbezahlte Arbeit -, können Frauen ihren wirtschaftlichen Status als Ehefrauen und Töchter erhöhen, ebenso nimmt die Bevorzugung männlicher gegenüber weiblicher Kinder ab. Ein Rückgang dieser "Präferenz für einen Sohn" wurde u. a. in Bangladesch festgestellt, wo die Berufsaussichten von Frauen mit dem Wachstum der exportorientierten Industrieproduktion eine signifikante Erweiterung erfahren haben.

Gleichzeitig sinken in der Regel Fertilitätsraten in Stadtgebieten und sind üblicherweise niedriger als in ländlichen Gebieten. Der bessere Zugang zu Empfängnisverhütung gibt städtischen Frauen mehr Kontrolle über ihre eigenen Körper. Auch ein Leben ohne Kinder wird für diese Frauen zu einer Option.


Weiblich geführte Haushalte

Städtische Umgebungen gelten schon lange als progressiver, nicht zuletzt im Hinblick auf Geschlechterverhältnisse. Zum Beispiel sind junge, gebildete städtische Männer eher geneigt, sich geschlechtergerechte Einstellungen und Verhaltensweisen anzueignen. Von Frauen geführte Haushalte gibt es in der Regel häufiger in städtischen als in ländlichen Kontexten, vor allem in Lateinamerika und Südostasien. Im urbanen Lateinamerika z. B. ist der Anteil der von Frauen geführten Haushalte zwischen den späten 1980er-Jahren und dem Ende des ersten Jahrzehnts des 21. Jahrhunderts um fast 10 % gestiegen. Anstiege gab es auch in südostasiatischen Ländern wie Laos, wo der Anteil der von Frauen geführten Haushalte in der Stadt fast doppelt so hoch ist (14,2 % versus 8,5 %) wie am Land.

Frauen, die Haushalten vorstehen, sind eine heterogene Gruppe - es sind alleinstehende Frauen, getrennte Frauen, Geschiedene und Witwen. Unterschiedlich ist auch die Zusammensetzung des Haushaltes. Auch hier gibt es eine Reihe von Faktoren, die für den unverhältnismäßig hohen Anteil von weiblich geführten Haushalten in Städten verantwortlich sind. Ein Grund besteht darin, dass Frauen, die in ländlichen Gebieten kein Land erwerben können, um ihre Existenzgrundlage sicherzustellen, deshalb gezwungen sind, in die Städte zu ziehen. Ein anderer Grund besteht darin, dass die städtische Umgebung weiblichen Ernährerinnen die Chance auf größere Anonymität gibt, besonders wenn sie aufgrund von unehelicher Schwangerschaft stigmatisiert oder ausgegrenzt oder von ihren (verstorbenen) Ehemännern mit HIV/AIDS infiziert wurden.

Zunehmend ein Problem wird der Umstand, dass die fortschreitende Feminisierung in städtischen Gebieten es für Frauen immer schwieriger macht, einen (Ehe-)Partner zu finden. In China wird dieses Phänomen abfällig als "urban leftover women" beschrieben. Geschlechtsspezifische Unterschiede in der Lebenserwartung und im Heiratsalter tragen auch dazu bei, dass vermehrt Witwen zum Familienoberhaupt werden. Darüber hinaus wurde auch festgestellt, dass im städtischen Raum eine größere soziale Toleranz gegenüber "nicht-traditionellen" (patriarchalen) Haushalten besteht.

Je mehr weiblich geführte Haushalte es in Städten gibt, desto weniger werden diese als "Minderheit" betrachtet und desto positiver wird die Einstellung diesen gegenüber. Töchter und Söhne alleinerziehender Mütter sind oft durch mehr geschlechtergerechte Muster der Sozialisierung, Arbeit und des Konsums geprägt. Dies hat einen positiven Einfluss auf Wahrnehmungen sowie Praktiken rund um das Thema Geschlecht und häusliches Arrangement - auch zwischen den Generationen.


Armutsfalle Slum

Urbanisierung bietet also die Hoffnung für Frauen und Mädchen auf gerechtere Beziehungen zu Männern und Jungen. Aber Städte sind auch Orte sozialer, wirtschaftlicher und politischer Ungleichheiten, die sich intersektional mit "Geschlecht" überschneiden und sich dabei oftmals besonders auf die arme weibliche Bevölkerung, in den Slums, auswirken.

Elaine Unterhalter beschreibt Slums als "räumliche Armutsfallen", aus denen sich zu befreien für Frauen und Mädchen schwierig ist. Slumbewohner_innen sind großen Einschränkungen ausgesetzt, wenn es darum geht, von den Möglichkeiten zu profitieren, die Nicht-Slumbewohner_innen offen stehen - wie Bildung, Beschäftigung, Einkommen, Gesundheitsversorgung, Mobilität, Partizipation an Entscheidungen und politische Repräsentation zu haben.

Die Gründe sind neben (unbezahlter) reproduktiver Arbeit, die mit geringeren Dienstleistungen verbunden ist, schlechtere Infrastruktur und Wohnbedingungen, unsichere Anstellung, beschränkter Zugang zu öffentlichem Transport und ein marginaler lokaler Markt. Alle diese Bedingungen können Arbeitsteilung und Machtverhältnisse zwischen den Geschlechtern verstärken. Hinzu kommt, dass Frauen und Mädchen immer wieder häuslicher Gewalt in der Familie und der Nachbarschaft ausgesetzt sind, z. B. wegen gemeinsamer sanitärer Anlagen, prekärer Unterkünfte und Mangel an Polizeiarbeit.


Möglichkeiten der Verbesserung

Ungeachtet dessen, das häufig ein Zusammenhang zwischen Armut und dem Leben in einem Slum besteht, kann es auch dort zu einer Verbesserung des Lebens von Frauen und Mädchen kommen. Solidaritätsinitiativen, Organisierung und Mobilisierung von Frauen (und Männern) an der Basis können kurz- und langfristige Chancen für Geschlechtergleichstellung bringen.

Einige der größten Impulse für die das Geschlecht transformierenden Verschiebungen entstehen aus Basiskollektiven städtischer Frauen mit männlichen Verbündeten. Ein aktuelles Beispiel ist der Fall der Slumsanierung in Ahmedabad, Indien. Dort bestand die Gefahr, dass kommerzielle Stadtplaner_innen die Slumbewohner_innen an andere Orte der Stadt übersiedeln würden. Thakore konnte in Zusammenarbeit mit anderen Frauen aus dem Slum und mit der feministischen NGO "Mahila Housing SEWA Trust" (MHT) die Bedingungen der Slumsanierung verhandeln. Thakore lebt jetzt neben ihren früheren Nachbar_innen in einer beträchtlich verbesserten Behausung am gleichen Platz, wo auch vor der Sanierung ihr Slum war. [3]

Auch wenn nicht alle Erfahrungen von "Slumsanierungen" positiv oder genderbewusst sind, schenken Staaten, internationale Organisationen und soziale Bewegungen Geschlechterfragen immer mehr Aufmerksamkeit. So formulierte z. B. UN-HABITAT im Jahr 2013 einen ersten Bericht über die Situation von Frauen in Städten 2012/13, die Cities Alliance hat Geschlecht in ihrem 2014-17 Aktionsplan priorisiert. Inzwischen gibt es auch regelmäßige Konferenzpanels zum Thema Gender im World Urban Forum, die in die ehrgeizigen nachhaltigen Entwicklungsziele eingebettet werden. HABITAT III wird im Oktober in Quito stattfinden, wobei das Thema "Geschlecht" prominent als Teil einer "inklusiven" und "nachhaltigen" Stadtentwicklung vertreten sein wird. In vielerlei Hinsicht ist momentan ein günstiger Zeitpunkt für die Verknüpfung von Synergien zwischen populären und öffentlichen Maßnahmen und politischer Rhetorik, um in naher und längerfristiger Zukunft "feminisierte" Städte in "feministische" Städte verwandeln können.


Anmerkungen:
[1] Dieser Artikel stützt sich auf Chant und McIlwaine (2016).
[2] Diese Beschränkungen existierten vor allem in vielen afrikanischen Ländern - infolge des Kolonialismus und im Kontext der Siedlungspolitik unmittelbar nach der Erringung der Unabhängigkeit.
[3] Mehr zur erfolgreichen Stadtpolitik in Ahmedabad ist hier nachzulesen:
www.theguardian.com/cities/2016/apr/14/slum-women-ahmedabad-india-housing-revolution

Lesetipps:
Chant, Sylvia and McIlwaine, Cathy (2016) Cities, Slums and Gender in the Global South: Towards a Feminised Urban Future, London: Routledge.
Moser, Caroline (ed.) (2016) Gender, Asset Accumulation and Just Cities: Pathways to Transformation, London: Routledge.
Tacoli, Cecilia and Chant, Sylvia (2014) 'Migration, Urbanisation and Changing Gender Relations in the South', in Susan Parnell and Sophie Oldfield (eds) The Routledge Handbook on Cities of the Global South, London: Routledge, 586-596.

Zur Autorin:
Sylvia Chant ist Professorin für Entwicklungsgeographie an der London School of Economics and Political Science sowie Direktorin des Master of Science in Urbanisierung und Entwicklung. In städtischen Gebieten Mexikos, Costa Ricas, Philippinen und Gambias führte sie einige Feldforschungen mit Fokus auf Geschlecht durch. Sie hat viel zu den Themen Armut, Landflucht, Beschäftigung von Frauen publiziert. Sie lebt in London.

Übersetzung aus dem Englischen:
Maria Knaub und Claudia Dal-Bianco

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Quelle:
Frauensolidarität Nr. 137, 3/2016, S. 7-9
Medieninhaberin und Herausgeberin:
Frauensolidarität im C3 - Entwicklungspolitische Initiative für Frauen
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veröffentlicht im Schattenblick zum 25. Oktober 2016

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