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FRAUEN/713: Über Gender, Migration und Sicherheit zwischen Europa und dem Horn von Afrika (frauen*solidarität)


frauen*solidarität - Nr. 142, 4/17

Grenzenlose Sicherheit
Über Gender, Migration und Sicherheit zwischen Europa und dem Horn von Afrika

von Pia Hecher


Was bedeutet der Bau einer Festung Europa für die, die davon ausgeschlossen sind? WIDE, das Netzwerk für feministische Entwicklungspolitik, lud zu einer Podiumsdiskussion über Gender, Migration und Sicherheit von Europa bis zum Horn von Afrika ein. In Kooperation mit dem Network of Eritrean Women, einer Gruppe exilierter Eritreerinnen, stand bei dieser Veranstaltung die Situation von Frauen* auf der Flucht im Vordergrund.


Europäische Diskurse auf regionaler und internationaler Ebene drehen sich zunehmend um den Begriff der Sicherheit. Im Fokus dieser Diskussionen stehen meist nationalstaatliche oder europäische Bedenken - etwa dass man europäische Grenzen und Arbeitsmärkte, aber auch die Bevölkerung, insbesondere Frauen*, vor Migrant_innen schützen müsse. In Österreich wurde dies im Laufe der Nationalratswahlen deutlich, wo jene drei Parteien als Sieger hervorgingen, die sich für eine restriktive Migrationspolitik aussprachen. Im öffentlichen Diskurs entsteht zunehmend der Eindruck, dass Migrationsmanagement auf europäischer Ebene notwendig sei, um uns gegenüber sogenannten Flüchtlings-"Wellen" abzuschirmen. Selten wird dabei die soziale und menschliche Sicherheit von Personen, die aus ihrem Herkunftsland fliehen, thematisiert.


Europäische Migrationspolitik als Mittäterin

Es sei ein Diskurs, der mehr und mehr dazu beitrage, dass menschliche Sicherheit an europäischen Grenzen endet, so die Moderatorin der Veranstaltung Beatrix Bücher-Aniyamuzaala. Dies wird deutlich, als Teilnehmerinnen der Diskussion die Maßnahmen des europäischen Migrationsmanagements aus der Sicht Ostafrikas beleuchten. Dabei stehen zwei Abkommen im Mittelpunkt: einerseits die Entscheidung der Europäischen Union, 200 Mio. Euro an die libysche Regierung zu geben - an ein Land, das keine offizielle Regierung besitzt und in dem Milizen des sogenannten Islamischen Staates kämpfen -, um durch die Errichtung von Flüchtlingscamps in Libyen und die Ausbildung der libyschen Küstenwache Migration nach Europa einzudämmen; andererseits der Khartoum-Prozess mit dem Ziel, gegen kriminelle Gruppen und irreguläre Migration vorzugehen. Beide Abkommen sollen zu erhöhter Kooperation im Bereich der Migrationspolitik zwischen Europa und Ländern wie Libyen, Ägypten und Tunesien führen. Was sind die Auswirkungen dieser Form von Migrationsmanagement für Migrant_innen?


Instabile Lage in Eritrea

Helen Kigan, Menschenrechtsaktivistin und Politikwissenschaftlerin, zeichnet regionale Unsicherheit anhand des Fallbeispiels Eritrea nach. Infolge verstärkter internationaler Kooperation werden viele Eritreer_innen aus Ägypten und dem Sudan in ihr Herkunftsland abgeschoben. Und das, obwohl die Vereinten Nationen (UN) festgestellt haben, dass dort Verbrechen gegen die Menschlichkeit stattfinden. Kigan erklärt, dass die prekäre Menschenrechtssituation in Eritrea Frauen* besonders hart trifft. Alle Eritreer_innen müssen auf unbestimmte Zeit Militärdienst leisten, doch dort werden Frauen* oft sexuell missbraucht. Um dem Militärdienst zu entkommen, werden viele Frauen* jung verheiratet, andere sehen eine Schwangerschaft als einzigen Ausweg, um demobilisiert zu werden.

Laurie Lijnders, eine Anthropologin, die sich mit Mutterschaft auf der Flucht beschäftigt, erklärt, wie Flucht Familienstrukturen verändert. Eritreische Mütter, die aus ihrem Land fliehen möchten, stehen oft vor der Entscheidung, ob sie ihre Kinder zurücklassen. Wenn hingegen der Ehemann flieht, droht seiner Partnerin eine Gefängnisstrafe, ihre Kinder werden oft mit eingesperrt. Regionale Unsicherheit ist also mit physischer und psychischer Gewalt, aber auch mit familiärer Instabilität verbunden.


Unsichere Fluchtrouten für Frauen*

Wie ein roter Faden zieht sich Ungewissheit durch den Weg von Personen, die fliehen. Kigan erzählt, dass in sudanesischen Flüchtlingscamps lebende Eritreerinnen oft Verhütungsmittel auf den Weg über Libyen nach Europa mitnehmen. Denn die hohe Wahrscheinlichkeit, dass sie in Libyen sexuell missbraucht werden, ist ein offenes Geheimnis. Es ist dasselbe Land, in dem sich zuletzt ein Markt für Menschenhandel entwickelt hat.

Missbrauch geschieht auch in Flüchtlingscamps im Sudan - Orte, an denen Ljinders geforscht hat und von wo sie schildert, dass Flüchtlinge von Militärs, die mit deren Schutz beauftragt sind, misshandelt werden. Ein Bild, das für Ljinders Mutterschaft auf der Flucht verkörpert, ist das einer leblosen Eritreerin, die nach dem Schiffsunglück in Lampedusa an Land gezogen wurde, durch die Nabelschnur noch mit ihrem toten Sohn verbunden. Doch es gibt auch Lichtblicke, sagt Ljinders, etwa die Geschichte der Frau, die auf einem Schlauchboot auf dem Weg nach Griechenland Zwillinge gebar. Dass Frau und Kinder überlebten, sei nur durch zwischenmenschliche Kooperation vor Ort möglich gewesen, so Ljinders.


Europäische Migrationspolitik muss empathisch und menschlich werden

Was hat all dies mit europäischer Migrationspolitik zu tun? Laut den Sprecherinnen schafft die derzeitige Form von Migrationsmanagement, etwa in Form des Abkommens mit Libyen und dem Khartoum-Prozess, keine Sicherheit für die, die sich außerhalb der europäischen "Festung" befinden. Solange Flüchtlingscamps keine sicheren Aufenthaltsorte für Menschen auf der Flucht sind, werden Fliehende weiterziehen. Solange die Menschenrechtssituation in ihrem Herkunftsland sich nicht verbessert, werden auch Eritreer_innen weiterhin ihr Land verlassen. Und solange es keine sicheren Routen nach Europa gibt, werden Menschen im Mittelmeer ertrinken.

Gender- und Leadership-Expertin Viviane Tassi-Bela betont, dass wir auf Regierungsebene nicht mehr Menschenrechtsabkommen brauchen, sondern dass bereits existierende Abkommen in die Tat umgesetzt werden sollen. Staaten, die etwa die UN-Menschenrechtskonvention unterschrieben haben, müssen diese einhalten und zur Verantwortung gezogen werden. Im Fall von Eritrea fordert Helen Kigan, dass Wirtschaftssanktionen verhängt werden und Regierungsmitgliedern, die an Verbrechen gegen die Menschlichkeit beteiligt waren und sind, die Einreise nach Europa verweigert wird. Für WIDE ist auf lange Sicht ein Diskurswechsel in Richtung Empathie und Menschlichkeit auf europäischer Ebene notwendig, denn nur so könnten sichere Routen nach Europa breite gesellschaftliche Unterstützung finden. Initiativen von staatlich unabhängigen Organisationen sind wichtiger denn je, einerseits um in Krisengebieten mit Organisationen vor Ort zu kooperieren, andererseits um exilierte Menschen an internationaler Entwicklungsarbeit zu beteiligen. Nachhaltige Sicherheit für den Norden bedeutet, den globalen Süden zu stärken. Denn Lokalität und Globalität, Individuen, Organisationen und Regierungen sind im 21. Jahrhundert längst miteinander verwoben. Menschlichkeit darf nicht an Europas Grenzen enden.


Zur Autorin:
Pia Hecher hat ein Bachelor-Studium in Sozialanthropologie und Politikwissenschaften an der Universität Cambridge absolviert und lernt zurzeit Arabisch. Im Oktober 2017 hat sie bei WIDE im Rahmen des Erasmus-Projekts "The Europe we want? Feminist approaches to gender, migration and democracy" mitgearbeitet.


Literaturtipp:
Lijnders, Laurie /Robinson, Sara (2013): From the Horn of Africa to the Middle East: Human trafficking of Eritrean asylum seekers across borders, Anti-Trafficking Review 2, 137-154,
www.antitraffickingreview.org.

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Quelle:
frauen*solidarität Nr. 142, 4/2017, S. 22-23
Medieninhaberin und Herausgeberin:
Frauensolidarität im C3 - feministisch-entwicklungspolitische
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veröffentlicht im Schattenblick zum 1. März 2018

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