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FRAUEN/794: SDGs - Fortschritt oder Bremse für Frauenrechte? (frauen*solidarität)


frauen*solidarität - Nr. 146, 4/18

SDGs: Fortschritt oder Bremse für Frauenrechte?

von Gertrude Eigelsreiter-Jashari


Die Agenda 2030 mit ihren 17 Zielen für eine Nachhaltige Entwicklung (Sustainable Development Goals - SDGs)[*] beinhaltet auch Geschlechtergleichstellung und die Selbstbestimmung von Frauen und Mädchen. Ist die Agenda 2030 für die Frauenbewegungen Fortschritt oder Bremse? Bietet sie Chancen, oder ist sie Energieräuberin?


Die Agenda 2030 und ihre 17 SDGs wurden bei der 70. Generalversammlung der Vereinten Nationen 2015 von der internationalen Staatengemeinschaft im Konsens beschlossen. Die SDGs bauen auf den drei Säulen der Nachhaltigkeit - Ökologie, Ökonomie, Soziales - auf und sollen ein gutes Leben für alle Menschen bis 2030 ermöglichen. Sie zielen darauf ab, Armut und Hunger überall auf der Welt zu beenden, Ungleichheiten in und zwischen Ländern abzuschaffen, Menschenrechte für alle zu verwirklichen sowie Geschlechtergleichstellung und die Selbstbestimmung aller Frauen und Mädchen zu erreichen.

Die Hauptkritik daran ist, dass diese Zielvorgaben ohne Systemänderung der Weltwirtschaft und mit dem in der Agenda implizierten vorherrschenden Wachstumsparadigma nicht erreichbar sein werden.


Der Weg zur Agenda 2030

Frauen haben sich von Beginn an für ihre Anliegen in der globalen Debatte über Nachhaltigkeit eingebracht. Dennoch sind in der Genese hegemonialer Konzepte nachhaltiger Entwicklung gendersensible Ansätze nahezu unsichtbar. Dabei beteiligen sich Wissenschaftlerinnen und Frauenaktivistinnen bereits seit den frühen 1970er Jahren mit eigenen Positionen an der internationalen umwelt- und entwicklungspolitischen Debatte(1).

Frauenanliegen - Geschlechtergerechtigkeit und die Stärkung von Frauen und Mädchen - sind das eigenständige Ziel 5 [**] der SDGs. In den anderen 16 Zielen sind geschlechtsspezifische Aspekte aber nur teilweise in den Unterzielen (Targets) und Indikatoren verankert. Frauen in Institutionen und NGOs, allen voran die UN Women, haben enorme Anstrengungen unternommen, um das "Doppelziel" durchzusetzen, nämlich das alleinstehende Ziel für Frauen plus die Verankerung von Geschlechtergleichstellung in sämtlichen anderen Zielen. Ein großer Schritt dahin war die entsprechende Empfehlung im Abschlussdokument der CSW59 (UN-Frauenstatuskommission 2015) - ein wichtiges Ereignis nach langen Verhandlungen, das damals im Verhandlungssaal mit begeistertem Applaus bedacht wurde.

Doch es besteht nach wie vor die Kritik, dass wesentliche Aspekte, die Frauen besonders, verstärkt oder in mehrfacher Weise betreffen, nicht ausreichend berücksichtigt seien(2). Obwohl Frauen von Beginn an äußerst engagiert an globalen Nachhaltigkeitsdiskursen teilnahmen, ihre Sichtweisen einbrachten und eigene Agenden aufstellten, haben sich im Laufe der Zeit auch Stimmen gemeldet, die den enormen Zeitaufwand kritisieren, der notwendig ist, um sich in das komplexe Regelwerk der SDG-Maschinerie sinnvoll einbringen zu können und Frauenanliegen Gehör zu verschaffen.


Wirksame(re) Frauenrechtsinstrumente?

Faktum ist: Die Agenda 2030 stellt jenen dominanten globalen Rahmen dar, an dem sich Nationalstaaten, ihre Verwaltungsapparate, Ministerien, Länder, NGOs, die Zivilgesellschaft, Interessenvertretungen u.a.m. abarbeiten, während die für Frauen so wichtigen Instrumente - wie z. B. die Abschlussdokumente der 4. UN-Weltfrauenkonferenz 1995, die Pekinger Deklaration und die Aktionsplattform von Peking sowie die Frauenrechtskonvention CEDAW als einziges rechtlich verbindliches Abkommen für Frauenrechte - nicht diese internationale Bedeutung und öffentliche Strahlkraft erlangt haben und meist nur einem inneren Zirkel bzw. dem damit arbeitenden Personenkreis bekannt sind.


Was Daten alles (nicht) können

Die Daten des Gender Gap Report 2017 des Weltwirtschaftsforums zeigen: Bei gleichbleibendem Reformtempo würde Geschlechtergerechtigkeit in 217 Jahren erreicht werden(3).

Im Kontext der aktuellen Gesellschaft, in der (fast) alles quantifiziert werden muss, um der kapitalistischen Lebensweise gerecht zu werden, spielen Zahlen, Daten und Analysen zweifelsohne ein große Rolle und sind wichtige Voraussetzung, um Veränderungen, in welchem Bereich auch immer, anzustoßen.

Analog zur Umweltbewegung, die es im Laufe ihrer jahrzehntelangen Entwicklung so weit gebracht hat, dass nun selbst ein Vogelschrei in Zahlen gemessen werden kann, sind viele Bereiche von Frauenleben auch erst sichtbar geworden, als sie mit Zahlen unterfüttert wurden - etwa die unbezahlte Arbeit oder die Arbeitsstunden, die Frauen mehr leisten als Männer.

Wie komplex Berechnungen und Darstellungen jedoch werden, wenn man etwa die Diskriminierungsachse Geschlecht mit weiteren Kategorien verknüpft, zeigt die Abbildung über geschlechtsspezifische Indikatoren im Bericht der UN Women. Intersektionelle Bereiche in den SDGs sind neben Geschlecht auch Alter, Klassenzugehörigkeit, Behinderung, Hautfarbe, Ethnizität, sexuelle Orientierung, Geschlechtsidentität und Migrationsstatus.

Durchschnittszahlen verschleiern Ungleichheiten zwischen sozialen Gruppen und die Notlage der am stärksten Benachteiligten. UN Women zeigt das am Beispiel Kinderheirat in Nigeria: Dort beträgt der Anteil der vor dem 18. Lebensjahr verheirateten Frauen im Durchschnitt 46,8%. Die Anteile von Frauen in ländlichen Gebieten (60%), Frauen aus dem ärmsten Einkommensquintil (80,1%) und Frauen, die den Bevölkerungsgruppen der Hausa und Fulani angehören (78,2 bzw. 79,7%), liegen jedoch weit darüber. Bei Frauen, die arm sind, in ländlichen Gebieten leben und sich als Hausa bezeichnen, beträgt die Prävalenz von Kinderheirat 87,6% - das 1,9-Fache des nationalen Durchschnitts und ist somit mehr als neunmal so hoch wie für die am besten gestellte Gruppe in dem Land(4).


Erster Zwischenbericht

UN Women hat im März 2018 eine erste Studie zur Umsetzung der SDGs und deren Auswirkungen auf Frauen vorgelegt, die auch Empfehlungen in den Bereichen Daten, Investitionen und Rechenschaftspflicht gibt.

Der Bericht "Den Versprechen Taten folgen lassen: Gleichstellung der Geschlechter in der Agenda 2030 für nachhaltige Entwicklung"(5) zeigt auf, wie zentral Geschlechtergerechtigkeit ist, um alle 17 SDGs zu erreichen, und argumentiert für einen integrativen und rechtebasierten Ansatz für die Implementierung. Gender Data Gaps werden aufgezeigt und die Herausforderungen für ein erfolgversprechendes Monitoring benannt.

Trotz zunehmender Verbesserung von nach Geschlechtern differenzierten Statistiken in den letzten Jahrzehnten stehen für ein effektives geschlechtergerechtes Monitoring laut UN Women nach wie vor dringend zu lösende Probleme an. Um Fortschritte für alle Frauen und Mädchen über alle Ziele sicherzustellen, empfiehlt UN Women daher u. a.,

  • die Einbeziehung geschlechtsspezifischer Indikatoren in alle 17 SDGs bis 2020 zu unterstützen,
  • die regelmäßige Sammlung vergleichbarer Daten von hoher Qualität für geschlechtsspezifische Indikatoren zu fördern sowie
  • globale, regionale und nationale Strategien zur Ermittlung von zurückgelassenen Gruppen zu entwickeln.

Beim letzten Punkt sollten Daten systematisch nach Geschlecht und anderen Merkmalen aufgeschlüsselt werden, aber gerade Untersuchungen vulnerabler Bevölkerungsgruppen sollten auch mit qualitativen Methoden erfolgen.


Lohnt sich das Engagement?

Das Ungleichgewicht in den Verhandlungen und Gremien zu den SDGs - vielen UN-Organisationen steht die kleine Einheit UN Women gegenüber, vielen NGOs aus allen Lebensbereichen nur einige Frauenorganisationen und einzelne Frauen - führt dazu, dass beim Einbringen und Durchsetzen geschlechtergerechter Anliegen eine ungleich größere Last auf den Frauen liegt. Wie sinnvoll ist es also, sich für Geschlechtergerechtigkeit und Frauenrechte innerhalb der Agenda 2030 zu engagieren? Diskriminierungen, Benachteiligungen, Marginalisierung und Ausschluss von Frauen muss entgegengewirkt werden - das besagt die Agenda 2030. Sie besagt auch, dass eine nachhaltige Entwicklung - also das oberste Ziel - ohne Frauen nicht zu erreichen ist.

Wie viel Energie Frauen in dieses Setting, in die komplexen Strukturen und vielfältigen Gremien zur Beobachtung und zum Monitoring der SDGs stecken wollen oder ob sie sich doch lieber auf ihre erprobten spezifischen Instrumente besinnen, die oft wesentlich stärkere Formulierungen für Frauenrechte enthalten, oder ob sie sich aktivistisch und systemkritisch engagieren wollen, bleibt eine offene Frage, die jede Organisation und jede Aktivistin für sich beantworten muss. Letztendlich wird es wohl keine Entweder-oder-Frage sein, sondern eine von Synergien und Prioritäten, um auch mit den begrenzten Ressourcen der engagierten Frauen nachhaltig umzugehen.


Beträchtliche Herausforderungen

In der Agenda 2030 wird versprochen, die Barrieren aus dem Weg zu räumen, die Frauen und Mädchen daran hindern, ihr volles Potenzial auszuschöpfen. Dafür müssen jedoch beträchtliche Herausforderungen bewältigt werden, wie einige Fakten aus dem Bericht "Den Versprechen Taten folgen lassen" zeigen:

  • In 18 Ländern können Ehemänner in Übereinstimmung mit dem geltenden Recht ihre Ehefrauen daran hindern, einer Arbeit nachzugehen; in 39 Ländern haben Töchter und Söhne nicht die gleichen Erbrechte, und 49 Länder haben keine Gesetze, die Frauen vor häuslicher Gewalt schützen.
  • 19% der Frauen und Mädchen im Alter von 15 bis 49 Jahren erfuhren in den letzten zwölf Monaten vor Berichtslegung physische und/oder sexualisierte Gewalt durch einen Intimpartner.
  • Weltweit waren zum Zeitpunkt der Berichtslegung 750 Mio. Frauen und Mädchen vor dem 18. Lebensjahr verheiratet, und mindestens 200 Mio. Frauen und Mädchen in 30 Ländern wurden Opfer von Genitalverstümmelung.

Die große Vision

Viele Frauenorganisationen und -netzwerke nehmen auf die SDGs Bezug. Wie weit die Agenda 2030 in ihrer Arbeit tatsächlich Raum einnimmt, wie viele Ressourcen sie dafür bereitstellen (können oder wollen) und ob sie sich von der Agenda 2030 in ihrer Arbeit gestärkt fühlen oder eine höhere Wirksamkeit wahrnehmen, müsste genauer untersucht werden. Frauennetzwerke berufen sich in ihrer Arbeit allerdings gerne und oft erfolgreich z. B. Auf die schon erwähnte Frauenrechtskonvention CEDAW oder die Pekinger Aktionsplattform, und die meisten von ihnen stellen größere Zusammenhänge her, etwa das im Vorfeld der 3. Weltfrauenkonferenz 1984 in Nairobi gegründete Südnetzwerk Development Alternatives with Women for A New Era (www.dawnnet.org).

Auf die Vision der Agenda können wir uns jedenfalls berufen: die Vision einer Welt, in der jede Frau und jedes Mädchen volle Gleichberechtigung erfahren und rechtliche, soziale und ökonomische Hürden zu ihrer Stärkung abgebaut sind.


ANMERKUNGEN:

(1) z. B. Christa Wichterich: Die Erde bemuttern. Frauen und Ökologie nach dem Erdgipfel in Rio. Berichte, Analysen, Dokumente. Köln 1992; Ester Boserup: Women's role in Economic Development. New York 1970

(2) vgl. dazu: Ilse Hanak 2015: Kritik an den SDGs aus Frauenperspektive,
www.wide-netzwerk.at

(3) www.weforum.org/reports/the-global-gender-gap-report-2017

(4) Berechnungen von UN Women auf der Grundlage von Mikrodaten aus NPC (Nationale Bevölkerungskommission), Bundesrepublik Nigeria und ICF International

(5) UN Women: Turning Promises Into Action,
www.unwomen.org/en/digital-library/sdg-report


WEBTIPPS:

Ausgewählte Internationale Frauenbewegungen: Women's Major Group: SDGs and the Post 2015 Development Agenda,
www.wecf.eu/english/campaigns/2012/WMG-SDGs_Post2015.php

Women's Environment and Development Organisation,
https://wedo.org

Association für Women's Rights,
www.awid.org

Development Alternatives with Women for A New Era,
http://dawnnet.org/about/history/

African Women Unite Against Destructive Resource Extraction,
https://womin.org.za/

Vandana Shiva (Saatgut),
www.navdanya.org


ZUR AUTORIN:
Gertrude Eigelsreiter-Jashari ist Soziologin, Kultur- und Sozialanthropologin, Universitätslektorin und wissenschaftliche Projektleiterin am Zentrum für Migrationsforschung. Sie leitet die AG "Beijing Follow Up" beim Netzwerk WIDE Austria und war mehrfach Teilnehmerin der österreichischen Regierungsdelegation bei Sitzungen der UN-Frauenstatuskommission in New York, zuletzt auch 2018.


[*] "17 ZIELE FÜR NACHHALTIGE ENTWICKLUNG"
(aus frauen*solidarität Nr. 146 4/18, S. 7)

  1. Keine Armut
  2. Kein Hunger
  3. Gesundheit und Wohlergehen
  4. Hochwertige Bildung
  5. Geschlechtergleichheit
  6. Sauberes Wasser und Sanitäreinrichtungen
  7. Bezahlbare und saubere Energie
  8. Menschenwürdige Arbeit und Wirtschaftswachstum
  9. Industrie, Innovation und Infrastruktur
  10. Weniger Ungleichheiten
  11. Nachhaltige Städte und Gemeinden
  12. Nachhaltiger Konsum und Produktion
  13. Massnahmen zum Klimaschutz
  14. Leben unter Wasser
  15. Leben an Land
  16. Frieden, Gerechtigkeit und starke Institutionen
  17. Partnerschaften zur Erreichung der Ziele


[**] "SDG 5 GESCHLECHTERGLEICHHEIT" umfasst:
(aus frauen*solidarität 146, 4/18, S. 7)

5.1 Alle Formen der Diskriminierung von Frauen und Mädchen überall auf der Welt beenden
5.2 Alle Formen von Gewalt gegen alle Frauen und Mädchen im öffentlichen und im privaten Bereich einschließlich des Menschenhandels und sexueller und anderer Formen der Ausbeutung beseitigen
5.3 Alle schädlichen Praktiken wie Kinderheirat, Frühverheiratung und Zwangsheirat sowie die Genitalverstümmelung bei Frauen und Mädchen beseitigen
5.4 Unbezahlte Pflege- und Hausarbeit durch die Bereitstellung öffentlicher Dienstleistungen und Infrastrukturen, Sozialschutzmaßnahmen und die Förderung geteilter Verantwortung innerhalb des Haushalts und der Familie entsprechend den nationalen Gegebenheiten anerkennen und wertschätzen
5.5 Die volle und wirksame Teilhabe von Frauen und ihre Chancengleichheit bei der Übernahme von Führungsrollen auf allen Ebenen der Entscheidungsfindung im politischen, wirtschaftlichen und öffentlichen Leben sicherstellen
5.6 Den allgemeinen Zugang zu sexueller und reproduktiver Gesundheit und reproduktiven Rechten gewährleisten, wie im Einklang mit dem Aktionsprogramm der Internationalen Konferenz über Bevölkerung und Entwicklung, der Aktionsplattform von Beijing und den Ergebnisdokumenten ihrer Überprüfungskonferenzen vereinbart
5.a Reformen durchführen, um Frauen die gleichen Rechte auf wirtschaftliche Ressourcen sowie Zugang zu Grundeigentum und zur Verfügungsgewalt über Grund und Boden und sonstige Vermögensformen, zu Finanzdienstleistungen, Erbschaften und natürlichen Ressourcen zu verschaffen, im Einklang mit den nationalen Rechtsvorschriften
5.b Die Nutzung von Grundlagentechnologien, insbesondere der Informations- und Kommunikationstechnologien, verbessern, um die Selbstbestimmung der Frauen zu fördern
5.c Eine solide Politik und durchsetzbare Rechtsvorschriften zur Förderung der Gleichstellung der Geschlechter und aller Frauen und Mädchen auf allen Ebenen beschließen und verstärken.

*

Quelle:
frauen*solidarität Nr. 146, 4/2018, S. 8-10
Text: © 2018 by Frauensolidarität / Gertrude Eigelsreiter-Jashari
Medieninhaberin und Herausgeberin:
Frauensolidarität im C3 - feministisch-entwicklungspolitische
Informations- und Bildungsarbeit,
Sensengasse 3, A-1090 Wien,
Telefon: 0043-(0)1/317 40 20-0
E-Mail: redaktion@frauensolidaritaet.org,
http://www.frauensolidaritaet.org
 
Die Frauen*solidarität erscheint viermal im Jahr.
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veröffentlicht im Schattenblick zum 22. August 2019

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