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INTERNATIONAL/065: Nigeria - Ölreiches Land im Fadenkreuz der Gewalt (IPS)


IPS-Inter Press Service Deutschland gGmbH
IPS-Tagesdienst vom 3. Januar 2012

Nigeria: Religiöse Spannungen und Terroranschläge - Ölreiches Land im Fadenkreuz der Gewalt

von Mustapha Muhammad

Waffen und Sprengsätze der Boko Haram in Kano - Bild: © Mustapha Muhammad/IPS

Waffen und Sprengsätze der Boko Haram in Kano
Bild: © Mustapha Muhammad/IPS


Kano, Nigeria, 3. Januar (IPS) - Nigeria, neben Angola der größte Erdölproduzent Afrikas, versinkt immer tiefer in Gewalt. Neben religiösen und ethnischen Spannungen nehmen im bevölkerungsreichsten Land Afrikas Selbstmordattentate und andere Übergriffe der islamistischen Miliz 'Boko Haram' zu, die Experten zufolge Verbindungen zum Terrornetzwerk Al-Kaida unterhält.

Die von den afghanischen Taliban inspirierte Boko Haram hat die 167 Millionen Nigerianer mit ihren Anschlägen auf UN-Gebäude, Polizeieinrichtungen und Kirchen im letzten Jahr das Fürchten gelehrt. Die Zahl der durch ihre Übergriffe verursachten Todesopfer gibt die Menschenrechtsorganisation 'Human Rights Watch' in einem am 8. November veröffentlichten Bericht mit 425 an.

Nach der Gewalt im letzten Monat dürfte die Zahl der Todesopfer auf über 500 gestiegen sein. So hat sich die Gruppe zu den Weihnachtsanschlägen bekannt, die sich vor allem gegen Kirchen in den nordnigerianischen Städten Abuja, Jos und Damaturu richteten und nach Polizeiangaben mindestens 40 Menschen das Leben kosteten.

"Die Anschläge zu Weihnachten könnten Vergeltungsschläge gegen Muslime nach sich ziehen", warnt Shehu Sani, Vorsitzender des Nigerianischen Bürgerrechtskongresses, im Telefongespräch mit IPS. Boko Haram versucht sich seiner Meinung nach bei den Muslimen im Lande anzubiedern, indem die Gruppe ihre Anschläge als Racheakt für Übergriffe von Christen auf Muslime in Jos während des muslimischen Feiertags Eid ul-Fitr am 29. August 2011 darstelle. Sani zufolge geht es den Milizen jedoch vorrangig darum, Spannungen zwischen den beiden Glaubensgemeinschaften zu schüren.


Ultimatum

Die beiden Religionsgruppen sind, was die Zahl ihrer Mitglieder betrifft, etwa gleich groß. Während die Mehrheit der Muslime im Norden des Landes lebt, sind die Christen eher im erdölreichen Süden anzutreffen. Boko Haram hat den im Norden lebenden Christen inzwischen ein Ultimatum von drei Tagen gestellt. Bis dahin müssen sie die Region verlassen haben. Ansonsten kommt es zu Gewalt.

Regierung und Kirchen haben die Gewalt im Dezember aufs Schärfste verurteilt. "Wir sind vollständig gegen das, was passiert ist. Niemand darf einem anderen Menschen das Leben nehmen. Das ist unislamisch und ein Frevel. Jedes Menschenleben ist heilig und schützenswert", sagte Sultan Abubakar Saad, Nigerias höchster geistiger Führer, nach Gesprächen mit Staatspräsident Goodluck Jonathan und dem nationalen Sicherheitsberater Andrew Azazi am 27. Dezember.

Bei einer Zusammenkunft mit Jonathan hatten christliche Geistliche die Regierung aufgefordert, die Glaubensgruppe im Lande zu schützen. Ansonsten bleibe den Christen nichts anderes übrig, als sich selbst zu verteidigen. "Die christliche Gemeinde im Land könnte sich gezwungen sehen, angemessen auf die Angriffe auf ihre Mitglieder zu reagieren", warnte der Vorsitzende der Christlichen Vereinigung Nigerias, Pastor Ayo Oritsejafor.

Zwei Tage nach den Weihnachtsanschlägen hatten die Sicherheitskräfte einen Christen aus dem südlichen Bundesstaat Edo festgenommen. Er soll versucht haben, in der südlichen Stadt Yenagoa eine Kirche in die Luft zu sprengen. Ein Vertreter des staatlichen Sicherheitsdienstes erklärte gegenüber IPS, der Anschlag stehe in keinem Zusammenhang mit den Umtrieben von Boko Haram.

Am gleichen Tag wurde eine islamische Schule mit mehr als 100 Kindern in der vorwiegend von Christen bewohnten Stadt Delta bombardiert. Dieser Anschlag ist dem Bürgerrechtler Sani zufolge zu früh erfolgt, um als Vergeltungsschlag für die Weihnachtsübergriffe interpretiert zu werden.


"Neue Strategie"

Die Regierung hat inzwischen angekündigt, eine härtere Gangart gegenüber Boko Haram einzuschlagen. "Wir werden mit einer neuen Strategie gegen Boko Haram vorgehen", sagte Innenminister Abba Moro vor Journalisten in Madala. In der Ortschaft nahe der Hauptstadt Abuja hatte eine Bombe Weihnachten 35 Christen bei dem Besuch der katholischen Kirche St. Theresa getötet.

Die Regierung hat über verschiedene Teile der vier von Bombenanschlägen heimgesuchten Bundesstaaten Borno, Yobe, Plateau und Niger den Notstand verhängt. Nur wenige Stunden später brachen im Süden des Landes Kämpfe zwischen den beiden rivalisierenden ethnischen Gruppen der Ezillo und Ezza aus. Bei dem Blutbad starben 66 Menschen, darunter auch Frauen und Kinder.

Boko Haram ('Westliche Bildung ist Sünde') setzt sich für die strenge Auslegung des islamischen Rechts (Scharia) in Nigeria aus. International in Erscheinung trat die 2002 gegründete muslimische Sekte erstmals 2009, als die Sicherheitskräfte in der Hauptstadt des entlegenen Bundesstaates Borno an der Grenze zum Tschad, zu Kamerun und zum Niger militärisch gegen sie vorging. Dabei kamen etliche Boko-Haram-Mitglieder ums Leben. Der Anführer Mohammed Yusuf starb in Polizeigewahrsam.

Darauf reorganisierte sich die Gruppe und führte zahlreiche Anschläge und Selbstmordattentate im Norden Nigerias durch. So bekannte sie sich zur Zündung der Autobombe im August gegen das regionale UN-Hauptquartier in Abuja, die acht Menschen das Leben kostete. Doch das größte Massaker hatten die radikalislamistischen Kämpfer in der nordnigerianischen Stadt Damaturu am 4. November angerichtet. Dort starben mehr als 150 Menschen.


Verbindungen zur Al Kaida

Inzwischen geht man davon aus, dass Boko Haram Beziehungen zu Al-Kaida unterhält. Westliche Sicherheitsexperten warnen bereits, dass jede Verbindung der Islamisten mit dem Terrornetzwerk und dem Islamischen Maghreb (AQIM), eine algerische und mit Al-Kaida verbandelte Terrorgruppe, Boko Haram zu einer immer größeren Gefahr vor allem für die nigerianische Erdölindustrie machen könnte.

Algeriens Vizeminister Abdelkader Messahel erklärte vor Journalisten: "Wir haben keinen Zweifel daran, dass Boko Haram und Al-Kaida zusammenarbeiten. Die Art und Weise, wie beide Organisationen vorgehen, und auch Geheimdienstberichte belegen die Kooperation." Algerien ist das Land in der Region mit dem umfangreichsten Geheimdienstarchiv über Al-Kaida.

Der mutmaßliche Sprecher von Boko Haram, Abu Qaqa, ließ unlängst Journalisten in einem Telefoninterview wissen, dass "wir Verbindungen zu Al-Kaida und anderen internationalen Dschihadisten unterhalten und uns gegenseitig unterstützen."

Der französische Außenminister Alain Juppé stellte Nigeria die Unterstützung seines Landes im Kampf gegen den Terrorismus in Form von Ausbildungsprogrammen für nigerianische Soldaten und Geheimdienstinformationen in Aussicht. "Sollte Nigeria die französische Hilfe akzeptieren, wird dies den Kampf gegen Boko Haram stärken", sagte Juppé dem Gouverneur von Kano, Musa Kwankwaso, bei einem Besuch in der nordnigerianischen Stadt.


Angriffe auf Banken

Boko Haram hat zudem die Verantwortung für zahlreiche Banküberfälle übernommen. Mitarbeitern der Nigerianischen Zentralbank zufolge waren es allein im letzten Jahr mehr als 100.

Alle diese Entwicklungen sind Gift für die nigerianische Wirtschaft, wie der Ökonom Shuaibu Idris Mikati warnt. "Niemand wird in Anbetracht dieser Unsicherheit in unser Land investieren wollen", meint er. "Auch die Touristen werden wegbleiben, wenn sie Angst haben müssen, eine Bank zu besuchen." (Ende/IPS/kb/2012)


Links:
http://civilrightscongress.org/index.htm
http://www.ipsnews.net/news.asp?idnews=106354

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veröffentlicht im Schattenblick zum 4. Januar 2012