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INTERNATIONAL/122: Mit Tramadol den Alltag vergessen - Palästinenser im Gazastreifen in Suchtgefahr (IPS)


IPS-Inter Press Service Deutschland gGmbH
IPS-Tagesdienst vom 23. Oktober 2012

Nahost: Mit Tramadol-Tabletten den Alltag vergessen - Palästinenser im Gazastreifen in Suchtgefahr

von Eva Bartlett


Die Einnahme von 'Tramadol' ist im Gazastreifen sehr verbreitet - Bild: © Eva Bartlett/IPS

Die Einnahme von 'Tramadol' ist im Gazastreifen sehr verbreitet
Bild: © Eva Bartlett/IPS

Gaza-Stadt, 23. Oktober (IPS) - Im Gazastreifen hat das Schmerzmittel 'Tramadol' Hochkonjunktur. Palästinenser schlucken die Pille, um die Belastungen durch die israelische Militärbelagerung besser zu verkraften. Doch der hohe Konsum, der vor allem damit zusammenhängt, dass das Medikament überall leicht erhältlich ist, ist der verzweifelte Versuch, den Teufel mit dem Beelzebub auszutreiben.

Seit Israel Anfang 2006 das Palästinensergebiet abgeriegelt hat, sind die Gelegenheiten, sich zu entspannen, seltener geworden. Viele Menschen greifen zu Tramadol in der Hoffnung, der düsteren, von Armut bestimmten Realität zu entkommen. Auf dem Schwarzmarkt werden die Tabletten meist in einer stärkeren Variante vertrieben. Manchmal sind sie gefälscht.

Wie der Sanitäter Abu Yousef berichtet, setzen die Konsumenten damit ihre Gesundheit aufs Spiel. "Jede Woche behandeln wir drei oder vier Fälle, meistens junge Männer, die eine Überdosis eingenommen haben", erläutert er. "Die Patienten schwitzen, fantasieren, müssen erbrechen und haben Bauchschmerzen. Im Grunde wirkt Tramadol wie ein Morphin. Es hat viele Nebenwirkungen."

Die meisten schlucken die Pillen nicht auf Anraten eines Arztes. "Viele denken, das Mittel macht sie stark und gibt ihnen Kraft. Sogar Ärzte nehmen es, um ihre langen Schichtdienste besser zu überstehen. Auch die Tunnelarbeiter greifen regelmäßig zu den Tabletten, um nicht schlappzumachen", sagt Yousef.


Frustration durch Armut und Arbeitslosigkeit

Der Mediziner Hossam Al Khatib ist auf Suchterkrankungen spezialisiert. Er sieht eine Reihe von Gründen für den verbreiteten Konsum des Schmerzkillers. "Die meisten wollen ihre Probleme vergessen, und Tramadol hilft ihnen zumindest vorübergehend dabei. Im Gazastreifen sind viele Menschen arbeitslos, darunter auch Jugendliche. Deshalb ist der Konsum in den vergangenen sechs Jahren noch weiter gestiegen. Auch Universitätsabsolventen, die nach einem Jahr immer noch keinen Job haben, greifen zu den Pillen."

Ein deutlicher Anstieg war Khatib zufolge nach dem Krieg mit Israel zum Jahreswechsel 2008/2009 zu verzeichnen. Den eigentlichen Grund für die große Nachfrage nach dem Medikament sieht er aber in der vollständigen Abriegelung des Gazastreifens durch Israel. "Die Belagerung ist die Ursache aller Probleme: hohe Erwerbslosigkeit, Hoffnungslosigkeit, Stress, Ängste, Depressionen", erläutert er. Sogar 15-Jährige nehmen Tramadol ein, weil ihre Lebensumstände so schwierig sind." Jugendliche könnten die Tabletten günstig auf der Straße bekommen.

"Die Lage im Gazastreifen verändert die palästinensische Gesellschaft und sorgt auch in den Familien für Probleme. Wenn ein Sohn arbeitslos ist, dessen jüngerer Bruder aber Arbeit hat, schämt er sich, weil er nicht zum Unterhalt der Familie beitragen kann", schildert Khatib. Junge Männer könnten es sich nicht mehr leisten zu heiraten. Auch sie liefen zunehmend Gefahr, von Tramadol und anderen Suchtmitteln abhängig zu werden. Nach Erkenntnissen des Mediziners sind etwa 20 Prozent derjenigen, die das Medikament einnehmen, ständige Konsumenten.


Drogen durch die Tunnel

Wie Khatib und Yousef berichten, kommen die meisten Betäubungsmittel durch unterirdische Tunnel aus Ägypten in den Gazastreifen. Über diese Lebensadern gelangen auch Lebensmittel, Vieh, landwirtschaftliche Geräte sowie Ausrüstung für Fischfang in das ansonsten von der Außenwelt weitgehend isolierte Gebiet. Zahlreiche Güter des täglichen Bedarfs können seit der Schließung des Gazastreifens nicht mehr legal eingeführt würden.

"Viele Ägypter sind arm und verkaufen selbst gepantschtes Tramadol", weiß der Sanitäter Yousef zu berichten. "Manche mischen es aus Morphium und Mäusegift zusammen. Wie Tramadol wirkt das Gift als Aufputschmittel und regt das Gehirn zur Serotoninproduktion an. Es mach zwar nicht süchtig, kann aber in hohen Dosen oder bei häufigem Konsum tödlich sein."

Doch Tramadol sei keine Lösung der Probleme, meint Khatib. Im Gegenteil, diese würden sogar dadurch weiter verschlimmert. "Die normalen Nebenwirkungen und Entzugserscheinungen äußern sich in Depressionen, Angst, Schlaflosigkeit und Gewissensbissen. Süchtige verlieren ihr Koordinationsvermögen, bekommen sexuelle Probleme und können sogar unfruchtbar werden."

Umso wichtiger sei es, die Patienten nach dem Absetzen des Medikaments gut zu beraten, erklärt der Arzt. Was die beste Lösung wäre, werde ihm immer wieder schmerzhaft bewusst: "Wenn die Grenzen geöffnet und die Belagerung beendet würde und die Menschen Arbeit fänden, hätten sie keinen Grund, Tramadol zu nehmen." (Ende/IPS/ck/2012)


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http://www.ipsnews.net/2012/10/pill-fails-to-cure-occupation/

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veröffentlicht im Schattenblick zum 24. Oktober 2012