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INTERNATIONAL/128: Mexiko - Suche nach ihren vermissten Töchtern treibt Familien in den Ruin (IPS)


IPS-Inter Press Service Deutschland gGmbH
IPS-Tagesdienst vom 20. November 2012

Mexiko: Suche nach ihren vermissten Töchtern treibt Familien in den Ruin

von Gladis Torres Ruiz



Mexiko-Stadt, 20. November (IPS/CIMAC*) - In Mexiko geben die Familien vermisster oder ermordeter Mädchen und Frauen oftmals ihr gesamtes Vermögen für die Suche nach ihren Töchtern beziehungsweise die Aufklärung der Verbrechen aus. Doch machen ihnen nicht nur die hohen finanziellen Aufwendungen zu schaffen, sondern auch die Nachlässigkeit der zuständigen Justizbeamten.

Die Verwandten müssen Rechtsanwälte und Gutachter bezahlen, für Berufungsverfahren und Reisekosten aufkommen und bisweilen sogar die Mahlzeiten und Handyrechnungen der Justizbeamten bestreiten, die den Fall bearbeiten. Pro Familie kommen auf diese Weise schnell Auslagen in Höhe von 23.000 US-Dollar zusammen. Je nach Komplexität des Falls und Dauer der Ermittlungen kann die Gesamtsumme aber noch erheblich darüber liegen, wie Menschenrechtsaktivisten berichten.

"Die finanziellen Kosten für Gerechtigkeit sind sehr hoch und unsichtbar", sagt die Juristin Irma Villanueva, Koordinatorin der Rechtsabteilung im Zentrum für Menschenrechte von Frauen (CEDEHM) im nordmexikanischen Bundesstaat Chihuahua. "Ebenso wenig wird über den Verlust von Arbeitsstellen, die Ausgaben für Essen und Transport, die weg fallende Fürsorge von Müttern für ihre anderen Kinder und Enkel sowie die körperliche und psychische Erschöpfung gesprochen. All dies wird nicht anerkannt."

Dass Frauen 'verschwinden', aus geschlechtsspezifischen Gründen ermordet werden und die Täter häufig straffrei ausgehen, sind landesweite Probleme. Nach Angaben des Nationalen Observatoriums für Frauenmorde (OCNF) wurden zwischen Januar 2010 und Juni 2011 in Mexiko 1.235 Frauen aufgrund ihres Geschlechts umgebracht. In dem an die Hauptstadt angrenzenden Bundesstaat Mexiko, der für Gewalt gegen Frauen bekannt ist, verzeichnete OCNF zwischen 2005 und 2011 mehr als 920 weibliche Mordopfer.

Noch schlimmer ist die Lage in Chihuahua, wo zivilgesellschaftliche Organisationen allein im Jahr 2010 600 Frauenmorde registrierten. In dem an die USA angrenzenden Bundesstaat liegt Ciudad Juárez, die als Stadt mit der weltweit höchsten Rate an Gewaltverbrechen an Frauen gilt.


Nur ein Bruchteil der Verbrechen kommt vor Gericht

Nach Angaben von Villanueva lagen dem Sonderstaatsanwalt für Gewaltverbrechen an Frauen 2007 und 2008 rund 17.700 Fälle vor, von denen nur 531 an Richter weitergeleitet wurden. "Die meisten Frauen, die Gewalt erfahren haben, wissen gar nicht, wie sie rechtlich vorgehen sollen. Sie brauchen einen Anwalt, der sie unterstützt", sagt Villanueva. Die Anwaltskosten belaufen sich in solchen Fällen zwischen 6.000 und 7.800 Dollar.

Nach Angaben von Yuridia Rodríguez, einer für ONCF tätigen Strafverteidigerin, wurde im Verfahren der 2004 im Bundesstaat Mexiko ermordeten Nadia Alejandra Muciño sieben Mal Berufung eingelegt. Die gesamten Kosten dafür hätten sich auf 3.780 Dollar summiert.

Muciños Mutter Anna María Márquez berichtet, dass sie während der mehr als achtjährigen Suche nach Gerechtigkeit fast 23.000 Dollar ausgegeben hat. Allein 410 Dollar fielen für Fotokopien der 3.600 Seiten umfassenden Prozessakten an. "Zuerst verpflichtete ich zwei Anwälte. Dem ersten gab ich umgerechnet 1.150 Dollar Vorschuss, dem anderen 600 Dollar. Beide traten von dem Fall zurück."

Eine andere Mutter, deren 21-jährige Tochter seit 2011 vermisst wird, hat nach eigenen Angaben bisher 15.300 Dollar für die Suche ausgegeben. Sie reiste zu einer Betreuungsstelle für Gewaltopfer, ins Landesinnere und sogar ins Ausland, um die Tochter wiederzufinden, und engagierte einen unabhängigen Experten. Den zuständigen Justizbeamten musste sie 80 Dollar täglich für Essen, Benzin und Telefonrechnungen zahlen. Später nahm sie einen Privatdetektiv in Anspruch, dem sie zwei Monate lang einen Tagessatz von 80 Dollar zahlte.

Angesichts der Tatenlosigkeit der Behörden fuhren die Eltern von Esmeralda Castillo Rincón, die im Mai 2009 in Ciudad Juárez verschwand, im vergangenen März nach Mexiko-Stadt, um selbst nach dem Teenager zu suchen. Um die Reise zu finanzieren, verkaufte die Familie auf der Straße Hamburger. Castillos Vater, der überdies an Krebs erkrankt ist, verlor seine Arbeit, weil er wegen der Suche nach der Tochter zu oft fehlte. (Ende/IPS/ck/2012)

* IPS verbreitet den Artikel mit freundlicher Genehmigung der mexikanischen Nachrichtenagentur CIMAC, die sich speziell mit Frauenthemen befasst.


Links:

http://observatoriofeminicidio.blogspot.de/
http://www.cimac.org.mx/
http://www.ipsnews.net/2012/11/search-for-missing-daughters-in-mexico-drives-families-into-ruin/

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Quelle:
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veröffentlicht im Schattenblick zum 21. November 2012