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JUGEND/309: Die schwierige Balance zwischen Fürsorge und Freiheit (DJI Impulse)


DJI Impulse
Das Bulletin des Deutschen Jugendinstituts 1/2013 - Nr. 101

Die schwierige Balance
zwischen Fürsorge und Freiheit

Von Sabine Andresen



Kinder verbringen immer mehr Zeit in Kindertageseinrichtungen und Schulen - doch fühlen sie sich dort auch wohl? Eine große Herausforderung der öffentlichen Institutionen liegt darin, die Heranwachsenden nicht nur zu betreuen und zu bilden, sondern ihnen auch Möglichkeiten zur Partizipation zu geben.


Der Ausbau öffentlicher Verantwortung für das Aufwachsen von Kindern führt nicht zwangsläufig zum Abbau der privaten Verantwortung. Dies ist ein zentraler Ausgangspunkt für den 14. Kinder- und Jugendbericht (KJB), weshalb er den Fokus auf die neue Mischung zwischen öffentlicher und privater Verantwortung richtet. Die zahlreichen und höchst unterschiedlichen Aufgaben, die bei der Bildung, Erziehung und Betreuung von Kindern anfallen, werden neu verteilt. Das Mischungsverhältnis von öffentlich und privat wirkt sich auf Zeiten und Räume in der Kindheit aus. Kinder werden bereits in den ersten Lebensjahren außerhalb der Familie betreut, sie erleben neben dem familiären Raum auch den außerfamiliären, etwa in der Kindertageseinrichtung. Ein Ergebnis für die Kindheitsphase ist, dass Kinder mehr Zeit etwa mit pädagogischen Fachkräften verbringen.

Rechte sozial gestaltet und damit veränderbar. Kinder als soziale Akteure leben und erleben die Lebensphase. Es wurden deshalb Daten über Erleben, Erfahrungen und Meinungen von Kindern in die Beschreibung und Analyse einbezogen. Damit ist erstens der Blick auf Gestaltungsprozesse der Kindheitsphase und zweitens auf das Erleben der Akteure möglich. Auf beide Zugänge soll im Folgenden exemplarisch eingegangen werden.


Die Grenzen zwischen privater und öffentlicher Betreuung verschwimmen

Der Beschreibung und Analyse der Lebensphase Kindheit im 14. KJB liegt die Vorstellung einer Verschränkung von Familienkindheit und Kita-Kindheit zugrunde. Aus systematischen Gründen wurde deshalb mit einer Dreiteilung der Kindheitsphase gearbeitet, die primär institutionell begründet ist. Unterschieden wurde zwischen der frühen Kindheitsphase (»Krippenalter«), der mittleren Kindheitsphase (»Kindergartenalter«) und der späten Kindheitsphase (»Grundschulalter«). Eine wesentliche Veränderung in der frühen Kindheitsphase entsteht durch den Ausbau der öffentlichen Verantwortung bei der Betreuung, Bildung und Erziehung: Schließlich wird eine wachsende Zahl von Kleinkindern außerhalb der Familie betreut, nicht zuletzt weil sich die Beteiligung von Müttern am Arbeitsmarkt erhöht und der berufliche Wiedereinstieg nach der familiären Kinderbetreuung nach vorne verlagert hat. Wie sich dies künftig auf die Gestaltung von Kindheit und die neue Mischung zwischen privater und öffentlicher Verantwortung auswirken wird, welche Bedeutung dies auch für die Ausgestaltung der institutionellen Settings wie der Kindertagespflege und den Kindertageseinrichtungen hat, muss untersucht werden.

Die Leitlinien des 14. KJB basieren auf der Annahme einer steigenden Komplexität des Aufwachsens sowie eines Strukturwandels der Familie, der sich vor allem in der Erwerbstätigkeit beider Elternteile zeigt. Das führt zu veränderten Zeit- und Zuständigkeitsstrukturen innerhalb der familiären Arbeits- und Fürsorgeteilung. Von beiden Tendenzen schien zunächst vor allem die späte Kindheitsphase betroffen zu sein, weil der Eintritt in die Schule für alle Familienmitglieder eine komplexe Herausforderung darstellt und eine wachsende Zahl von Kindern eine Ganztagsgrundschule besucht. Die Wechselwirkungen werden deutlich: Nicht zuletzt die zunehmende Berufstätigkeit der Mütter hat dazu beigetragen, die traditionelle Halbtagsschule in Deutschland infrage zu stellen.

Für die Beschreibung und Analyse der Lebensphase Kindheit im Rahmen des 14. KJB ist die Ausweitung öffentlicher Verantwortung von Beginn an als Herausforderung der Gegenwart aufgefasst und diskutiert worden. Sowohl die Entwicklung von Angeboten »Früher Hilfen« als auch der formulierte Rechtsanspruch auf einen Betreuungsplatz für ein- und zweijährige Kinder ab August 2013 belegen die Bedeutung einer kritisch-konstruktiven Auseinandersetzung mit der Ausweitung der öffentlichen Verantwortung und ihren Auswirkungen auf Kinder und Familien, aber auch auf Institutionen und Fachkräfte. Bislang wird der Ausbau des Bildungs-, Betreuungs- und Erziehungsangebots vor allem quantitativ vorangetrieben. Dabei geht es um Plätze in Kindertageseinrichtungen, Gruppengrößen, Betreuungsschlüssel und den in vielen Bundesländern diagnostizierten Erzieherinnen- und Erziehermangel. Im besonderen Maße stellt sich nun die Frage nach der Qualität von Betreuung sowohl innerhalb der Familie (Frühe Hilfen) als auch außerhalb der Familie in den Einrichtungen und der Kindertagespflege.

In den drei Kindheitsphasen nimmt die öffentliche Verantwortung für die Betreuung, Bildung und Erziehung zu. Gleichzeitig aber sollen Eltern stärker in die Arbeit der Kindertageseinrichtungen oder Schulen eingebunden werden. Die Grenzziehung zwischen dem privaten und öffentlichen Bereich ist in einer modernen Gesellschaft also keineswegs eindeutig. Beispielsweise sind zahlreiche Elterninitiativen für Betreuung oder Frühförderung zwar in der öffentlichen Zivilgesellschaft angesiedelt, werden aber durch die private Initiative von Eltern getragen. Wie sich durch solche Entwicklungen künftig die Verantwortungsbereiche verändern oder überschneiden ist zu untersuchen.


Die Dimensionen des kindlichen Wohlbefindens

Kommt es zu einem Ausbau öffentlicher Verantwortung oder zu Verschiebungen im Rahmen des wohlfahrtspluralistischen Arrangements - gemeint ist damit das Zusammenspiel von Staat, Zivilgesellschaft, Markt und familiären Gemeinschaften - zeigen sich Veränderungen (siehe auch Seite 32 in diesem Heft). Diese wirken sich, wie bereits skizziert, auf die Gestaltung der Lebensphasen aus, aber gleichzeitig auch auf das Erleben der Akteure.

Insbesondere die Frage, wie sich die Gestaltung von Kindheit und die Erfahrungen der Kinder und ihrer Eltern zueinander verhalten, hat die Sachverständigenkommission des 14. KJB dazu bewogen, mit dem Konzept des Wohlbefindens zu arbeiten. Dadurch besteht die Möglichkeit, zu einer auf Indikatoren gestützten Berichterstattung zu gelangen. Angelehnt an internationale Forschungen wurde für die Kindheitsphase Wohlbefinden auf der Basis von acht Dimensionen systematisch erfasst. Zu diesen Dimensionen zählen unter anderem die materielle Lage und die Betroffenheit von Armut, die Qualität von Beziehungen, Möglichkeiten zur Partizipation, aber auch die Dimension Bildung, Erziehung, Betreuung mit Blick auf das Nutzungsverhalten sowie auf die Befähigung der Kinder. Während die Frage nach Art und Umfang der Nutzung von Bildungs-, Erziehungs- und Betreuungsmöglichkeiten ganz erheblich soziale Ungleichheit deutlich macht, eröffnet die Dimension der Befähigung eine Sicht auf die Qualität der öffentlichen Einrichtungen entlang der drei Kindheitsphasen. Im KJB bildet sich letzteres folgendermaßen ab: Kinder in der frühen Kindheitsphase zu befähigen, etwa forschend zu lernen und sich zu erproben, hängt im hohen Maße von den Fähigkeiten und der Sensibilität der Erwachsenen in der Familie ab. Sobald die Kinder außerfamiliär betreut werden, spielt die Qualität der Lernangebote in der Einrichtung und der Gestaltung der Räumlichkeiten eine wichtige Rolle ebenso wie die Kontinuität der Betreuung der Fachkraft, die Altersmischung und der Betreuungsschlüssel in den Gruppen.

Die Dimension »Möglichkeiten zur Partizipation« und die Analyse vorliegender Forschungsergebnisse führt ebenfalls zu aufschlussreichen Einsichten, wie sich das neue Mischungsverhältnis von privater und öffentlicher Verantwortung für das Aufwachsen auf Möglichkeiten und Spielräume von Kindern auswirkt. So lässt sich anhand unterschiedlicher Studien zeigen, wie Kinder im Grundschulalter die Möglichkeiten zur Mitbestimmung und -gestaltung in der Familie wahrnehmen und einschätzen und wie sich dies zu den Mitbestimmungsmöglichkeiten in den außerfamiliären Einrichtungen verhält (World Vision 2010).

Die veränderte Mischung privater und öffentlicher Verantwortung für Kinder und die neue Gestaltung von Kindheit erfordert größere Aufmerksamkeit für die Qualität von Beziehungen. Das Konzept des Wohlbefindens der Akteure könnte dafür eine geeignete Rahmung bieten.

http://www.dji.de/bulletin/d_bull_d/bull101_d/DJIB_101.pdf



Kinder streben nach Zuwendung und nach Autonomie

Die bislang vorliegenden Forschungsergebnisse zum kindlichen Wohlbefinden, insbesondere für Kinder im Grundschulalter, legen den Schluss nahe, dass Kinder selbst nach einer Balance zwischen Fürsorge und Freiheit streben. Anhand dieser beiden Dimensionen kann die Beziehungsqualität sowohl zu Hause als auch in Institutionen beschrieben werden. Heranziehen lassen sich hierfür die Ergebnisse der World Vision Kinderstudie 2010 und die Daten aus der Studie des Deutschen Jugendinstituts »Aufwachsen in Deutschland: Alltagswelten« kurz AID:A (Rauschenbach/Bien 2011).

Fürsorge in der Familie wird in der World Vision Kinderstudie 2010 unter anderem als Zufriedenheit mit der zeitlichen Zuwendung durch die Eltern erhoben (World Vision 2010).

78 Prozent der befragten Kinder gaben an, dass ihre Eltern genügend Zeit für sie hätten. 13 Prozent der Sechs- bis Elfjährigen vermissten zeitliche Zuwendung von beiden Elternteilen, 9 Prozent von immerhin einem Elternteil. Eine regelmäßige Erwerbsarbeit von Vater und Mutter führte nicht zwangsläufig zu diesen Zuwendungsdefiziten.

Während die zeitliche Zuwendung als ein Indikator für Fürsorge gelten kann, lassen sich für die Autonomieerfahrung die Möglichkeiten zur Partizipation und die Aktivitäten ohne Eltern als Indikatoren heranziehen. Die World Vision-Studie geht auf Mitbestimmungsmöglichkeiten in der Familie ein, wobei zunächst Altersunterschiede deutlich werden: Je älter die Kinder sind, desto höher bewerten sie ihre Mitgestaltungsmöglichkeiten. Den größten Entscheidungsspielraum sehen Kinder bei der familiären Gestaltung der Freizeit: 80 Prozent aller Kinder geben an, in diesen Fragen mitbestimmen zu können. An zweiter Stelle folgt die tägliche Auswahl der Kleidung (77 Prozent). An dritter Stelle der vorgegebenen Antwortmöglichkeiten folgt die eigene Entscheidung oder das Mitbestimmen darüber, wofür das Taschengeld ausgegeben wird (73 Prozent). Deutlich seltener können Kinder (mit)entscheiden, wie viele Freunde sie nach Hause mitbringen können (42 Prozent). Die Aktivitäten ohne Eltern lassen sich auch auf Basis der AID:A-Daten messen. Wie die Grafik zeigt, nehmen diese Möglichkeiten zur Autonomieerfahrung mit dem Alter der Kinder zu.


Die Arbeit an der Qualität der öffentlichen Institutionen ist unverzichtbar

Der Blick auf die Gestaltung von Kindheit durch das neue Mischungsverhältnis zwischen öffentlicher und privater Betreuung, Bildung und Erziehung zeigt die Komplexität der Verantwortungsfrage. Gerade die Lebensphase Kindheit unterliegt hier einer deutlichen Veränderung. Für Politik, Wissenschaft und Fachwelt ist die konsequente Arbeit an der Qualität der öffentlich verantworteten Betreuung, Bildung und Erziehung unverzichtbar. Kinder als Akteure zu befragen und ihr Wohlbefinden zu einem wesentlichen Ausgangspunkt der Einschätzung von veränderten Betreuungsverhältnissen und Qualitätsfragen zu machen, könnte eine weiterführende Perspektive sein. So liegt eine Herausforderung darin, Kindern in öffentlichen Institutionen, in denen sie immer früher und immer länger ihre Zeit verbringen, mehr Autonomieerfahrungen im Sinne von Partizipation zu ermöglichen. Kindern Beteiligungs- und auch Beschwerdemöglichkeiten einzuräumen, ist ein wesentlicher Faktor für ihr Wohlbefinden.


DIE AUTORIN

Prof. Dr. Sabine Andresen hat eine Forschungsprofessur für Sozialpädagogik und Familienforschung an der Goethe-Universität Frankfurt am Main inne und ist Mitglied im interdisziplinären Zentrum IDeA (Individual Development and Adaptive Education of Children at Risk).
Kontakt: S.Andresen@em.uni-frankfurt.de


LITERATUR

DEUTSCHER BUNDESTAG (2013): Der 14. Kinder- und Jugendbericht. Bericht über die Lebenssituation junger Menschen und die Leistungen und Bestrebungen der Kinder- und Jugendhilfe in Deutschland. Deutscher Bundestag, Drucksache 17/12200. Im Internet verfügbar unter
http://dip21.bundestag.de/dip21/btd/17/122/1712200.pdf
(Zugriff: 27.2.2013)

WORLD VISION DEUTSCHLAND E.V. (Hrsg.; 2010): Kinder in Deutschland 2010. 2. World Vision Kinderstudie. Frankfurt am Main

RAUSCHENBACH, THOMAS / BIEN, WALTER (Hrsg.; 2011): Aufwachsen in Deutschland. AID:A - Der neue DJI-Survey. Weinheim/Basel


DJI Impulse 1/2013 - Das komplette Heft finden Sie im Internet als PDF-Datei unter:
www.dji.de/impulse

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Quelle:
DJI Impulse - Das Bulletin des Deutschen Jugendinstituts 1/2013 - Nr. 101, S. 22-25
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Internet: www.dji.de
 
DJI Impulse erscheint viermal im Jahr.
Die Hefte können kostenlos unter www.dji.de/impulsebestellung.htm
abonniert oder unter vontz@dji.de schriftlich angefordert werden.


veröffentlicht im Schattenblick zum 9. August 2013