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KIND/046: Frühe Hilfen und Frühwarnsysteme - Gefahr erkannt - Gefahr gebannt? (DJI Impulse)


DJI Impulse
Das Bulletin des Deutschen Jugendinstituts 2/2011 - Nr. 94

Gefahr erkannt - Gefahr gebannt?
Über die Nachteile und unbeabsichtigten Wirkungen, die Frühe Hilfen und Frühwarnsysteme haben können, wenn sie falsch verstanden werden

Von Heinz Kindler und Alexandra Sann


Von der »Fürsorglichen Belagerung« eines Heinrich Böll bis zum Roman »Corpus Delicti« von Julie Zeh finden sich in der Belletristik immer wieder negative Utopien, die schildern, wie aus einer an sich positiven Gefahrenvorbeugung und Prävention ein übermäßig einmischendes und irrationales System wird. Besteht diese Gefahr auch für den Ausbau präventiven Kinderschutzes, der in Deutschland unter den Überschriften »Frühe Hilfe« und »Frühwarnsysteme« diskutiert wird? Im ersten Moment ist vielleicht nicht leicht zu sehen, wie gut gemeinte Anstrengungen zur Verbesserung des Schutzes von Kindern überhaupt kritikwürdig sein können. Tatsächlich wurde im politischen Raum in den letzten Jahren wiederholt argumentiert, bereits ein einziges zusätzlich gerettetes Kind rechtfertige doch jede Anstrengung. Aber ist es wirklich so einfach? Zumindest drei mögliche negative Folgen könnten mit bestimmten Formen eines verstärkten präventiven Kinderschutzes verbunden sein: zum einen eine nicht zielführende Allokation von Ressourcen, die dann an anderer Stelle im Kinderschutzsystem fehlen; zum anderen eine unbeabsichtigte Stigmatisierung bestimmter Familien und schließlich eine schleichende Absenkung der Eingriffsschwelle, so dass immer mehr Kinder und Familien staatliche Zwangsinterventionen erleben.

Das erste Bedenken zielt vor allem auf Initiativen zur Verbesserung des Kinderschutzes, die gut klingen, aber tatsächlich wirkungslos sind, oder im Verhältnis zu anderen Ansätzen deutlich weniger wirksam sind. Diese Kritik trifft nicht die Frühen Hilfen insgesamt, zumindest nicht, wenn internationale Befunde zugrunde gelegt werden (Reynolds u. a. 2009). Sie zeigen, dass niedrigschwellige, freiwillige, aber auf eine intensive Unterstützung besonders belasteter Familien fokussierte Hilfen die Rate früher Vernachlässigung und Misshandlung um etwa ein Drittel senken können. Dies ist ein enormes Potenzial zur Verbesserung des Kinderschutzes, wenn auch für Deutschland eine vergleichbar positive Wirkung bislang nicht belegt ist.

Problematisch erscheinen jedoch flächendeckende und daher teure, zugleich aber wenig fokussierte Maßnahmen. Zumindest die mittlerweile fast in allen Bundesländern eingerichteten Systeme zur Kontrolle der Teilnahme an den Kindervorsorgeuntersuchungen, den sogenannten U-Untersuchungen, zählen dazu (Nothhafft 2009). Der hessische Landkreistag hat etwa vorgerechnet, dass innerhalb eines Jahres vonseiten der hessischen Jugendämter fast 17.000 Arbeitsstunden aufgewendet werden mussten, um Mitteilungen über versäumte Kindervorsorgeuntersuchungen nachzugehen.

Dieser Aufwand und die damit verbundenen Kosten, haben jedoch - so zeigen Erhebungen in gleich mehreren Bundesländern übereinstimmend - nur sehr selten zum Bekanntwerden neuer Gefährdungsfälle geführt (zum Beispiel Schleswig-Holsteinischer Landtag Drucksache 17/382; Fink 2010). Die bestehenden Früherkennungsuntersuchungen beinhalten zudem weder ein Screening auf psychosoziale Risiken noch weisen sie eine gesicherte Aussagekraft beim Erkennen früher Regulations-, Verhaltens- und Interaktionsstörungen auf, die für die Genese von Vernachlässigung beziehungsweise Misshandlung besonders wichtig sind. Da darüber hinaus auch kaum Schulungen für Ärzte angeboten werden, wie Eltern für die Inanspruchnahme von Hilfen des Jugendamtes gewonnen werden können, noch solche Gespräche angemessen vergütet werden, dürften eventuelle präventive Kinderschutzeffekte verbindlicher Einladungssysteme sehr begrenzt sein. Möglicherweise wird nun mit der im Bundeskinderschutzgesetz geplanten Soll-Bestimmung, alle Eltern über Angebote der Jugendhilfe zu informieren, eine weitere teure, aber unfokussierte Maßnahme mit ungünstiger Kosten-/Nutzenbilanz im Hinblick auf den Kinderschutz eingeführt.


Für und Wider von Risikoscreenings

Die zweite Befürchtung, dass durch Prävention bestimmte Familien unbeabsichtigt stigmatisiert werden, gilt insbesondere für Vorgehensweisen, mit denen systematisch belastete Familien erkannt werden sollen, wie etwa Screenings in Geburtskliniken. Teilweise wird allerdings auch das Konzept eines präventiven Kinderschutzes überhaupt in Frage gestellt, da damit - so der Gedankengang - Eltern unterstellt wird, sie würden potenziell ihre Kinder gefährden. Dies müsse abschreckend wirken, sei jedenfalls nicht Aufgabe einer Jugendhilfe, die Eltern stärken und wertschätzen wolle. Unter diesem Blickwinkel erscheinen vor allem universelle, das heißt an alle Familien gerichtete Angebote mit positiv formulierten Zielen statthaft und wünschenswert.

Diese Kritik hätte jedoch nur ihre Berechtigung, wenn sie sich auf empirisch belegte Annahmen stützen könnte. Sie würde ins Zynische umschlagen, wenn belastete Familien durch universelle Präventionsangebote de facto vergleichsweise weniger gut erreicht werden können oder Vernachlässigung beziehungsweise Misshandlung durch diesen Ansatz weniger gut verhindert werden könnten. Unwahrscheinlich ist dies nicht. Jedenfalls wendet sich international die Mehrzahl belegt wirksamer Programme Früher Hilfe an bestimmte Risikogruppen (Meysen u. a. 2008). Auch handelt es sich dabei um intensive und nachgehende Hilfen, die sich aufgrund der damit verbundenen Kosten nicht als universelle Programme eignen.

Für Deutschland fehlen bislang Studien, die die Wirkungen beider Vorgehensweisen miteinander vergleichen und die vorgetragene Kritik daher erhärten oder entkräften könnten. International deuten hohe Teilnahmequoten von über 90 Prozent bei freiwilligen Risikoscreenings in Geburtskliniken, wie etwa in den US-amerikanischen »Healthy Families«-Programmen, nicht gerade auf massive Stigmatisierungseffekte hin. Trotzdem ist es sinnvoll, immer wieder darauf hinzuweisen, dass vorhandene Risikoscreenings vor allem Familien mit erhöhtem Unterstützungsbedarf identifizieren können, von denen aber die große Mehrzahl auch ohne Hilfe niemals misshandeln oder vernachlässigen würde (Kindler 2010). Es wäre also tatsächlich völlig verfehlt, wenn frühe Screenings auf familiäre Belastungen von Eltern oder Fachkräften als Weg missverstanden würden, um potenziell misshandelnde Eltern zu erkennen.


Angst vor übermäßiger Überwachung

Der dritte Kritikansatz begreift schließlich Frühe Hilfen als Teil einer zunehmenden gesellschaftlichen Kontrolle junger Familien, die sich immer häufiger beziehungsweise in immer größerer Zahl staatliche Einmischungen gefallen lassen müssen. Tatsächlich ist unbestreitbar, dass die Zahlen für Inobhutnahmen sowie gerichtliche Eingriffe in das elterliche Sorgerecht auf hohem Niveau verharren beziehungsweise ansteigen. Hinzu kommt eine unbekannte Anzahl an Familien, die hinnehmen müssen, dass die Versorgung und Sicherheit des Kindes bei ihnen nach einem Gefährdungshinweis durch die Jugendhilfe überprüft wird. Darüber hinaus hat der Gesetzgeber neue Verbote und Pflichten für Eltern formuliert, wie etwa das Verbot von Körperstrafen in der Erziehung (§ 1631 Abs. 2 BGB) oder die Pflicht zur Nutzung der Kindervorsorgeuntersuchungen.

Eltern als Gesamtgruppe scheinen in bislang ausschnitthaft vorliegenden Untersuchungen der Entwicklung jedoch nicht ablehnend gegenüber zu stehen (zum Beispiel Bussmann 2002). Unklar ist jedoch, welche Wahrnehmungen unter Eltern mit Anspruch auf Hilfen zur Erziehung beziehungsweise Zielgruppen für Frühe Hilfen vorherrschen. Örtlich berichtete sinkende Raten an Selbstmeldern bei Hilfen zur Erziehung könnten hier auf problematische Entwicklungen hinweisen.

Ein großes Problem dürften dabei die bei einem Teil der Fachkräfte im Bereich Früher Hilfen bestehenden Unklarheiten im Hinblick auf die Eingriffsschwelle, insbesondere auf den Begriff der Kindeswohlgefährdung darstellen. Ein ausgeweitetes und eher alltagsprachliches anstelle eines rechtlich fundierten Verständnisses von Gefährdung kann Unsicherheiten auf allen Seiten befördern und zu ungünstigen Interaktionen mit Familien führen. Indikator hierfür sind örtlich hohe Zahlen nicht gerechtfertigter Gefährdungsmeldungen. Tatsächlich hat der Gesetzgeber in den letzten Jahren aus gutem Grund die Eingriffsschwellen und -voraussetzungen nicht beziehungsweise kaum abgemildert. Vor jeder Art von Eingriff, auch bei einer Auflage, muss eine gegenwärtige Gefahr vorliegen, die ohne deutliche Verbesserung eine erhebliche Schädigung des Kindes mit ziemlicher Sicherheit erwarten lässt. Fachkräfte aus den Frühen Hilfen und der Jugendhilfe insgesamt hier mit mehr Falltraining und Handlungssicherheit auszustatten, wäre ein wichtiger Schritt, um Kontrollphantasien entgegen zu wirken. Hauptaufgabe von Frühen Hilfen und Jugendhilfe insgesamt bleibt es, die positive Freiheit von Eltern zu erhöhen, ihnen also mehr Mittel und Möglichkeiten an die Hand zu geben, um gute Ziele für ihre Kinder tatsächlich umsetzen zu können.


DIE AUTOREN

Dr. Heinz Kindler arbeitet im Projekt »Sexuelle Gewalt gegen Mädchen und Jungen in Institutionen« am Deutschen Jugendinstitut.
Alexandra Sann arbeitet im Nationalen Zentrum Frühe Hilfen am Deutschen Jugendinstitut. Zu ihren Forschungsschwerpunkten gehören Prävention in Familien, frühkindliche Bildungsprozesse, Erziehungskompetenzen von Eltern.
Kontakt: kindler@dji.de, sann@dji.de


LITERATUR

Bussmann, Kai (2002): Studie zu den Auswirkungen des Gesetzes zur Ächtung der Gewalt in der Erziehung. Eltern-Studie. Halle

Fink, Thomas (2010): Kommunale Umsetzung der UTeilnahmeDatVO. Vortrag beim 2. Auswertungsgespräch. Düsseldorf

Kindler, Heinz (2010): Risikoscreening als systematischer Zugang zu Frühen Hilfen. In: Bundesgesundheitsblatt, S. 1073-1079

Meysen, Thomas / Schönecker, Lydia / Kindler, Heinz (2008): Frühe Hilfen und Kinderschutz. Weinheim/München

Nothhafft, Susanne (2009): Landesgesetzliche Regelungen im Bereich des Kinderschutzes bzw. der Gesundheitsvorsorge. Deutsches Jugendinstitut. München

Reynolds, Arthur / Mathieson, Lindsay / Topitzes, James (2009): Do Early Childhood Interventions Prevent Child Maltreatment? In: Child Maltreament, S. 182-206


DJI Impulse 2/2011 - Das komplette Heft finden Sie im Internet unter:
www.dji.de/impulse

Der Schattenblick veröffentlicht den Beitrag mit freundlicher Genehmigung in einer Originalfassung der Autoren.


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Quelle:
DJI Impulse - Das Bulletin des Deutschen Jugendinstituts 2/2011 - Nr. 94, S. 7-8
Herausgeber: Deutsches Jugendinstitut e.V.
Nockherstraße 2, 81541 München
Telefon: 089/623 06-0, Fax: 089/623 06-265
E-Mail: info@dji.de
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DJI Impulse erscheint viermal im Jahr.
Die Hefte können kostenlos unter www.dji.de/impulsebestellung.htm
abonniert oder unter vontz@dji.de schriftlich angefordert werden.


veröffentlicht im Schattenblick zum 29. Juli 2011