Schattenblick →INFOPOOL →POLITIK → SOZIALES

KIND/053: Madagaskar - Verlassene Zwillinge, erste Erfolge im Kampf gegen ein traditionelles Tabu (IPS)


IPS-Inter Press Service Deutschland gGmbH
IPS-Tagesdienst vom 10. November 2011

Madagaskar: Verlassene Zwillinge - Erste Erfolge im Kampf gegen ein traditionelles Tabu

von Grit Porsch


Berlin, 10. November (IPS) - Der Jahrhunderte alte Aberglaube des indigenen Mpanjaka-Clans, eine Zwillingsgeburt bringe Unheil über die Familie, zwingt viele Mütter in der Umgebung der ostmadagassischen Küstenstadt Mananjary immer noch dazu, Zwillinge gleich nach der Geburt zu verstoßen und zur Adoption freizugeben. Sie fürchten den vermeintlichen Fluch des doppelten Kindersegens. Doch die Aufklärungsarbeit von Aktivisten zeigt erste Erfolge.

Als Verfechter einer Tradition, die die UN-Kinderrechtskonvention verletzt und den Betroffenen Leid und psychische Schäden zufügt, berufen sich die Clanältesten auf eine blutrünstige, nie verifizierte Saga aus der Zeit des Widerstands gegen die französischen Kolonialherren. In einer von verschiedenen Versionen wird berichtet, eine Stammesfürstin habe auf der Flucht einen ihrer Zwillinge vergessen. Sie befahl ihren Truppen, das Kind zu suchen, doch die Soldaten wurden massakriert.


Innerfamiliärer Druck

Einige indigene Gruppen befolgen das Zwillingstabu bis heute und verteidigen es als Teil ihrer kulturellen Identität. Das musste auch die 31-jährige Voangy Razafy aus Mananjary erfahren, als sie ihre Familie anflehte, ihre neugeborenen Zwillinge behalten zu dürfen. Doch der Großvater, Chef des lokalen Antambahoaka-Clans, bestand auf der Einhaltung der Tradition. "Selbst meine Mutter stellte sich gegen mich und setzte mich vor die Tür", berichtete die Zwillingsmutter Medienvertretern. Arm und von der Familie geächtet lebt sie heute mit ihren Kindern in einem anderen Stadtteil.

Im Auftrag des UN-Kinderhilfswerks (UNICEF) und auf der Basis einer von Madagaskars Justizministerium 2007 in Auftrag gegebenen Erhebung haben drei einheimische Wissenschaftler, Ignace Rakoto, Gracy Fernandes und Nelly Ranaivo Rabetokotany, eine umfassende Untersuchung des Zwillingstabus in Mananjary vorgelegt. Die Studie mit dem Titel 'Les jumeaux de Mananjary - entre abandon et protection' wurde 2010 veröffentlicht.

"Das Tabu bringt den Familien großes Leid", erklärte Rakoto im Gespräch mit dem UN-Nachrichtendienst IRIN. "Obwohl ich hier in der Gegend aufgewachsen bin, wusste ich nichts über das Schicksal von Zwillingen. Niemand sprach darüber. Bis heute wollen die Clanchefs nicht einsehen, dass man auf einer falschen Tradition keine kulturelle Identität aufbauen kann", kritisierte Madagaskars früherer Schulminister.

Vor allem im Südosten Madagaskars, in der Region zwischen Manakara und Manajary, in der mehr als 230.000 Menschen leben, hält man an der unseligen Tradition fest. Viele Zwillinge wurden nach der Geburt ausgesetzt. Sie sollten sterben. Mit etwas Glück wurden sie rechtzeitig gefunden und von anderen Familien aufgenommen.

Als Aktivisten 1987 das CATJA-Adoptionszentrum für verstoßene Zwillinge eröffneten, machten ihnen Nachbarn Schwierigkeiten. "Sie beschwerten sich, der Wind, der über unser Haus weht, mache sie krank. Wir zogen schließlich an den Stadtrand", berichtete die Leiterin des Zentrums, Julie Rasoarianana.

Selbst die eigene Familie drohte der Aktivistin, ihr den Zugang zum geistlichen Zentrum ihres Clans und den dort stattfindenden traditionellen Zusammenkünften und Feierlichkeiten zu verwehren. Sie habe schließlich Zwillinge "berührt", begründete man das Verbot.

Das CATJA-Zentrum hat inzwischen 300 Adoptionen von Zwillingspärchen vermittelt. Derzeit herrscht mit 96 Kindern eine drangvolle Enge, weil auch Straßenkinder hier eine Zuflucht finden. Ferner wurden etliche allein stehende Mütter gegen Kost und Unterkunft als Arbeitskräfte aufgenommen.

Auch wenn in der Stadt Mananjary mit ihren 27.000 Einwohnern immer mehr Eltern bereit sind, Zwillinge aufzuziehen, hat sich in den umliegenden Dörfern an dem traditionellen Tabu nichts geändert. Hier verteilt CATJA über ein Netzwerk von Mitarbeitern Decken und Säuglingsnahrung an Zwillingseltern, die ihre Kinder in der Stadt im Zentrum abgeben wollen. Oft werden die Kinder Hebammen oder Freunden überlassen, die sie ins Zentrum bringen.


Aufklärungsarbeit

Rakoto bemüht sich um den Aufbau einer Organisation, die Überzeugungsarbeit leistet und Eltern dazu bringen soll, ihre Zwillinge zu akzeptieren. "Behördlicher Zwang bringt nichts. Die wichtigste Entscheidung fällt bei der Geburt. Die Eltern müssen wissen, dass ein Hilfspaket mit Milch, Babykleidern und Decken auf sie wartet, wenn sie die Kinder behalten", betonte Rakoto.

"Man muss den Müttern anhand konkreter Beispiele beweisen, dass es eine Alternative zum Verstoßen von Zwillingen gibt", erklärte Schuldirektorin Zisllene, die sich Rakotos Organisation anschließen will. "Zwillingsmütter sollten sich beispielsweise nicht davor fürchten, mit ihren Kindern auch traditionelle Feiern besuchen."

Mitarbeiter von UNICEF haben in einer Nachbargemeinde Clan-Chefs dazu gebracht, dem Zwillingstabu im Rahmen einer besonderen Zeremonie abzuschwören. "Das bedeutete eine regelrechte kulturelle Befreiung", erklärte der Wissenschaftler Rakoto. "Als ich dorthin fuhr, begegnete ich stolzen Müttern, die mit ihren Zwillingen durchs Dorf spazierten." (Ende/IPS/mp/2011)


Links:
http://mg.one.un.org/HAYZARA/index.php?option=com_content&task=view&id=738&Itemid=46
http://www.irinnews.org/report.aspx?reportid=94124

© IPS-Inter Press Service Deutschland gGmbH
vormals IPS-Inter Press Service Europa gGmbH


*


Quelle:
IPS-Tagesdienst vom 10. November 2011
IPS-Inter Press Service Deutschland gGmbH
vormals IPS-Inter Press Service Europa gGmbH
Marienstr. 19/20, 10117 Berlin
Telefon: 030 28 482 361, Fax: 030 28 482 369
E-Mail: redaktion@ipsnews.de
Internet: www.ipsnews.de


veröffentlicht im Schattenblick zum 11. November 2011