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KIND/110: Uruguay - Sexuelle Ausbeutung von Kindern nimmt zu (IPS)


IPS-Inter Press Service Deutschland GmbH
IPS-Tagesdienst vom 7. Januar 2015

Uruguay:
Folter und Vergewaltigungen in Bordellen - Sexuelle Ausbeutung von Kindern nimmt zu

von Diana Cariboni


Bild: © Mit freundlicher Genehmigung von Conapees

Plakat der Kampagne 'Es gibt keine Entschuldigung'
Bild: © Mit freundlicher Genehmigung von Conapees

Montevideo, 7. Januar (IPS) - Karina Nuñez Rodríguez war erst zwölf Jahre alt, als sie zur Prostitution gezwungen wurde. Inzwischen ist sie 50 und eine vehemente Aktivistin gegen die sexuelle Ausbeutung von Minderjährigen in ihrem Heimatland Uruguay.

Schon ihre Großmutter sei in jungen Jahren sexuell ausgebeutet worden, erzählt Rodríguez, die auch heute noch als Prostituierte tätig ist. Gegen die sexuelle Versklavung von Minderjährigen sei sie auch deshalb aktiv geworden, weil sie selbst sechs Kinder habe.

Unzählige Mädchen und Jungen werden in Uruguay für ein Päckchen Zigaretten, eine Handykarte, Nahrungsmittel, Kleidung, eine Wohnung oder Bargeld verkauft. Manche werden von den eigenen Verwandten missbraucht, andere von Nachbarn oder organisierten Verbrecherbanden.

Es gibt eine Vielzahl von Missbrauchsfällen, die aufgeflogen sind. So hatte eine Lebensmittelhändlerin an den Tagen, an denen Landarbeiter ihr Geld bekamen, Partys in ihrem Laden veranstaltet. Zwölfjährige Mädchen, die als Köder dienten, tranken mit den Männern und wurden später auf einem benachbarten Grundstück missbraucht.


Täter kommen oft ohne Strafe davon

Der 74-jährige Besitzer eines Strandhotels ließ auf seine Kosten eine 15-Jährige Hunderte von Kilometern weit anreisen, um mit ihr intim zu werden. Danach bezahlte er die Zuhälter. Er konnte sich der Bestrafung entziehen, indem er behauptete, das Alter des Mädchens nicht gekannt zu haben.

Ein hochrangiger Beamter einer Provinzverwaltung organisierte in einem Regierungsgebäude eine Party mit Teenagern, auf der neben Alkohol auch Kokain eingenommen wurde. Seine Festnahme erfolgte, als er betrunken mit einem Mädchen wegfahren wollte. In einem weiteren Fall organisierte ein Netzwerk von Fernfahrern und Vätern zweier Opfer erotische Begegnungen zwischen Truckern und Minderjährigen in verschiedenen Städten.

Solche Vorfälle tauchen in dem Land mehrmals pro Woche in den Nachrichten auf, und die Behörden haben inzwischen den 7. Dezember zum Nationalen Tag gegen sexuelle Ausbeutung von Kindern erklärt. Genaue Angaben zum Ausmaß dieser Verbrechen liegen allerdings nicht vor. Gemäß einem Gesetz von 2004 stehen auf solche Straftaten bis zu zwölf Jahre Haft.

Nach Schätzungen der Arbeitsgemeinschaft zum Schutz der Kinder vor sexueller Ausbeutung (ECPAT) werden weltweit etwa 1,8 Millionen Kinder zur Prostitution oder zu pornografischen Darstellungen gezwungen. In fast 80 Prozent aller Fälle läuft Menschenhandel auf sexuelle Ausbeutung hinaus. Mehr als 20 Prozent der Opfer sind Minderjährige.

Von 2010 bis September 2014 wurden in Uruguay im Zusammenhang mit Kinderprostitution 79 Gerichtsverfahren gegen insgesamt 127 Personen angestrengt und 43 Angeklagte verurteilt, wie aus einem offiziellen Bericht hervorgeht. Die Zahl der Fälle, in denen es zur Anzeige kommt, nahm im gleichen Zeitraum zu: von 20 auf mehr als 80.

"Es ist nicht so, dass es pro Fall immer nur ein Opfer gibt. Manchmal können es vier oder fünf sein", sagt Luis Purtscher, Vorsitzender des Nationalen Komitees gegen die kommerzielle und nicht-kommerzielle sexuelle Ausbeutung von Kindern und Teenagern (Conapees). Zudem gibt es weit mehr Täter als Opfer. "In einer einzigen Nacht kann es vorkommen, dass ein Mädchen mit fünf bis zehn Männern schlafen muss."

Purtscher bringt die Ausbreitung der Kinderprostitution mit dem Wirtschaftswachstum und der zunehmenden Mobilität von Arbeitskräften in Verbindung. An Orten, an denen viel investiert werde, nehme die Zahl der Sexualverbrechen an Kindern zu. In den vergangenen fünf Jahren hat Conapees etwa 1.500 Staatsbedienstete, darunter Lehrer, Sozialarbeiter, Polizisten und Staatsanwälte, für das Problem sensibilisiert.

Geschlechtsspezifische Gewalt spielt bei den Verbrechen an Kindern ebenfalls eine Rolle. Unter zwölf lateinamerikanischen Ländern, Spanien und Portugal verzeichnet Uruguay die höchste Zahl von Morden an Frauen durch aktuelle oder frühere Partner, wie aus einem kürzlich veröffentlichten Report einer regionalen Beobachterstelle für die Gleichbehandlung der Geschlechter hervorgeht.

Im Rahmen einer Sensibilisierungskampagne hatte Conapees in den Medien eine Anzeige mit einer Telefonnummer geschaltet, in der von 'sehr jungen Mädchen' die Rede war. Am ersten Tag wurde die Nummer etwa 100 Mal gewählt. Und am ersten Wochenende gingen 500 Anrufe ein.


"Band aus Angst"

Karina Rodríguez hatte das Leid junger Mädchen in Bars mit angeschlossenen Bordellen veranlasst, zur Stimme der Opfer zu werden. Körperliche Misshandlungen, Massenvergewaltigungen und Prügel sind dort an der Tagesordnung. "Zwischen dem Opfer und seinem Peiniger besteht ein starkes Band aus Angst. Die Mädchen könnten sogar an einer Straßenecke irgendwo in Europa stehen, ohne nur auf den Gedanken zu kommen, zur Polizei zu gehen", erklärt sie.

Rodríguez hat bisher 27 Verbrechen an Kindern zur Anzeige gebracht. In neun Fällen wurde Anklage erhoben. "Ich fühle mich geehrt, dass andere Menschen zu mir Vertrauen haben und mir Beweismittel zugänglich machen." Die Aktivistin überprüft die Angaben und arbeitet mit einem Netzwerk aus acht Freundinnen und Kolleginnen in verschiedenen Städten zusammen. 2007 gründete sie mit anderen Kolleginnen die Organisation 'Grupo Visión Nocturna', die sich für mehr Respekt gegenüber Prostituierten einsetzt.

Die Rache von Kriminellen hat Rodríguez bereits am eigenen Leib erfahren müssen. Kurz nachdem sie 2009 der Polizei in einer Kleinstadt mitgeteilt hatte, dass drei Mädchen in der Gewalt von Menschenhändlern seien, wurde sie von einem vermeintlichen Kunden entführt, aus der Stadt geschafft und 20 Kilometer weit entfernt von neun Männern zusammengeschlagen. "Ich lag elf Tage auf der Intensivstation und konnte drei Monate lang nicht mehr laufen", berichtet sie. Doch kaum war sie wieder auf den Beinen, setzte sie ihre Arbeit fort. Seither wird sie bedroht und lebt in der ständigen Angst, ermordet zu werden.


Belgische Fotografin dokumentiert Leiden der Opfer

Auch wenn es gefährlich ist, gegen Kinderprostitution ins Feld zu ziehen, bleiben die Opfer keineswegs unsichtbar. Die belgische Fotografin Susette Kok hat mit Hilfe von Rodríguez' Kontaktnetzwerk 27 Erwachsene porträtiert - 24 Frauen, zwei Transsexuelle und einen jungen Mann -, die als Kinder sexueller Gewalt zum Opfer gefallen waren und heute als Prostituierte ihre Existenz bestreiten. Die Fotos wurden in einer Ausstellung gezeigt, zu der auch ein Buch (http://www.17815.org/libro/) erschien.

"Es ist sehr einfach, die Opfer aufzuspüren. Sie sind überall", sagte Kok. Beispielsweise im 'Kleinen Haus der Liebe', einer Ruine auf einem Nachbargrundstück der Kirche in Fray Bentos im Südwesten Uruguays. Auf dem Boden liegen überall gebrauchte Kondome.

Hilfsangebote für die missbrauchten Kinder sind selten. Ein staatliches Hilfsprogramm, das 2013 eingeführt wurde, ist unterfinanziert und arbeitet mit nur zwei Teams. Rodriguez zufolge muss die Regierung das Problem endlich energisch angehen. "Wenn ein Kind ausgebeutet wird", sagt sie, "dürfen wir keine Zeit verlieren". (Ende/IPS/ck/2015)


Links:
http://www.ipsnews.net/2015/01/child-sex-crimes-uruguays-ugly-hidden-face/
http://www.ipsnoticias.net/2015/01/explotacion-sexual-infantil-la-cara-oculta-de-uruguay/

© IPS-Inter Press Service Deutschland GmbH

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Quelle:
IPS-Tagesdienst vom 7. Januar 2015
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veröffentlicht im Schattenblick zum 9. Januar 2015


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