Schattenblick →INFOPOOL →POLITIK → SOZIALES

ORGANISATION/180: Folgen der Finanzmarktkrise für die Arbeit der Caritas (Herder Korrespondenz)


Herder Korrespondenz
Monatshefte für Gesellschaft und Religion 9/2009

Gefährdete Nachhaltigkeit
Folgen der Finanzmarktkrise für die Arbeit der Caritas

Von Georg Cremer


Die derzeitige Finanz- und Wirtschaftskrise hat auf der einen Seite die stabilisierende Wirkung eines Sozialstaats europäischer Prägung gezeigt. Auf der anderen Seite steigt mit der Krise der Spardruck in den Sicherungssystemen. So werden der Rückgang der Steuereinnahmen und der zunehmende Spardruck in den Sicherungssystemen deutlich spürbare Folgen auch für die Dienste und Einrichtungen der Caritas haben.


*


In der derzeitigen Finanzmarkt- und Wirtschaftskrise zeigt sich dringender Handlungsbedarf bei der Gestaltung des ordnungspolitischen Rahmens der Sozialen Marktwirtschaft. Die gegebene Regulierung des Finanzmarktes hat nicht verhindern können, dass Risiken entstanden sind, die die staatliche Wirtschaftspolitik zwingen, so genannte systemrelevante Finanzinstitutionen mit Stützungszahlungen und Bürgschaften zu Lasten der Steuerzahler vor dem Zusammenbruch zu bewahren. Es gefährdet die Akzeptanz der Sozialen Marktwirtschaft, wenn privat vereinnahmten Gewinnen die Sozialisierung der Verluste entgegensteht.

Der entscheidende Hebel für eine Senkung des künftigen Risikos ähnlicher Krisen muss bei der staatlichen Regulierung ansetzen. Natürlich gibt es auch eine individuelle Verantwortung der Handelnden dafür, dass sie die im Rückblick ganz offensichtlichen Risiken wie die der Verbriefung von Hypothekenkrediten nicht ausreichend erkannt haben oder nicht erkennen wollten. Wenn aber ein ganzer Wirtschaftszweig über Jahre solch hohe Risiken eingehen kann, dann ist dies auf Ebene eines Appells an das individuelle Verhalten nicht zu beheben.


Trotz des massiven wirtschaftlichen Einbruchs infolge der Finanzmarktkrise besteht kein Anlass, eine grundsätzliche Systemdebatte auf einer Ebene zu führen, auf der Marktwirtschaft und Planwirtschaft als Alternativen abgewogen werden. Auch wenn in Deutschland die Wirtschaftsleistung 2009, wie von den wirtschaftswissenschaftlichen Instituten in ihrem Frühjahrsgutachten 2009 prognostiziert, um sechs Prozent sinken wird, ist das Wohlstandsniveau (und damit die Grundlage für ein ausgebautes System sozialer Sicherung), das in einem wettbewerblichen System erreicht werden kann, deutlich höher als es in einer Planwirtschaft wäre. Eine Systemdebatte, die die Grundentscheidung für eine dezentrale, über Märkte koordinierte Wirtschaftsordnung in Frage stellt, wird Sache der Feuilletons bleiben, sich aber nicht in praktischer Wirtschaftsordnungspolitik materialisieren. Allerdings ist zu hoffen, dass die Finanzkrise dazu führt, dass künftig stärker ziel- und wirkungsorientiert über Fragen der Rahmensetzung von Märkten politisch gerungen werden kann. Dies kann auch Chancen für die verbandliche Caritas eröffnen, wenn sie sich für einen Ordnungsrahmen sozialer Dienste einsetzt, der die Wahlrechte hilfebedürftiger Menschen stärkt und ihnen damit Einfluss sichert im Wettbewerb der Erbringer sozialer Dienstleistungen.


Die Krise zeigt die Notwendigkeit des Sozialstaats

Die Finanz- und Wirtschaftskrise zeigt erneut, wie notwendig ein System sozialer Sicherung für alle Bürger ist. Der drastische Rückgang der Exporte in der Investitionsgüterindustrie beispielsweise bedroht auch gut qualifizierte Arbeitskräfte, selbst wenn ihre Chancen der Rückkehr in den Arbeitsmarkt weit größer sind als bei gering Qualifizierten. Zudem wirkt die soziale Sicherung in der Krise stabilisierend. Wer seine Arbeit verliert, muss nicht um den Krankenversicherungsschutz für sich und seine Familie fürchten, im Gegensatz zur Mehrheit der Beschäftigten beispielsweise in den USA, die über ein Beschäftigungsverhältnis privat krankenversichert sind. Die Sozialleistungen in der Krise sichern Nachfrage. Kündigungsschutz und Kurzarbeit wirken raschen Entlassungen entgegen. Diese stabilisierende Wirkung eines Sozialstaats europäischer Prägung wird in den USA in der Diskussion zur Wirtschaftskrise sehr aufmerksam zur Kenntnis genommen.


Die Krise schränkt die staatliche Handlungsfähigkeit ein. Die von der Bundesregierung aufgelegten Konjunkturprogramme und Stützungsmaßnahmen für gefährdete Finanzinstitutionen führen zu einer Ausweitung der Staatsausgaben und der öffentlichen Verschuldung mit folglich steigenden Zinslasten. Der konjunkturelle Einbruch infolge der Finanzmarktkrise führt gleichzeitig bei Bund, Ländern und Gemeinden in den Jahren 2009 bis 2013 zu kumulierten Steuerausfällen in Höhe von mehr als 300 Milliarden Euro (Steuerschätzung Mai 2009). Gleichzeitig führt der zu erwartende Anstieg der Arbeitslosigkeit zu steigenden Ausgaben für Transferleistungen an arbeitslose Menschen und für die aktive Arbeitsmarktpolitik. Zudem ist das Kurzarbeitergeld zu finanzieren, das einem noch höheren Anstieg der offenen Arbeitslosigkeit entgegenwirkt.

Trotz der massiven zusätzlichen Staatsverschuldung waren umfangreiche Maßnahmen zur Abwehr des Zusammenbruchs von als "systemisch" eingeschätzten Finanzinstitutionen, gegen den Niedergang des Interbankenhandels und zur Stabilisierung des Konjunkturverlaufs grundsätzlich richtig. Ansonsten wäre die Gefahr eines noch deutlicheren wirtschaftlichen Einbruchs gegeben, der die staatliche Handlungsfähigkeit vermutlich noch stärker eingeschränkt hätte.


Welche Maßnahmen zwingend notwendig sind oder als vertretbar gelten können oder wo Partialinteressen als Teil der Programme bedient werden, ist äußerst schwer zu beurteilen. So hat die so genannte Abwrackprämie (mit fragwürdigen Verteilungswirkungen) Beschäftigung in der Automobilindustrie und ihren Zulieferern gesichert und akut dazu beigetragen, den Einbruch abzumildern. Zudem hat sie im Gegensatz zu anderen Elementen der Konjunkturprogramme sehr rasch Wirkung entfaltet; sie führt aber, da Käufe vorgezogen werden, möglicherweise zu einer zeitlichen Verzögerung der Produktionseinbrüche in die Zukunft. Zudem lassen sich Überkapazitäten in der Automobilindustrie nicht dauerhaft durch staatliche Eingriffe aufrechterhalten.

Unbestreitbar sinnvoll ist es, in der Krise den hohen Investitionsstau in der Infrastruktur des Sozial- und Bildungswesens abzubauen (wobei Konjunkturprogramme für dieses Problem langfristig keine Lösung sind). Wie stark die staatliche Handlungsfähigkeit mittelfristig eingeschränkt wird, hängt neben der Dauer der Krise auch davon ab, welche weiteren fiskalischen Belastungen und Risiken durch Bürgschaften im Verlauf der Krise durch den Staat übernommen werden. Die Gefahr ist groß, dass Erfolge bei der Sicherung von Arbeitsplätzen, die mit gezielten weiteren Staatshilfen für Unternehmen angestrebt werden, nur temporär sind und die Maßnahmen letztlich nur in einer weiteren Einschränkung künftiger staatlicher Handlungsfähigkeit resultieren.


Wachsender Spardruck in den Sicherungssystemen

Der deutliche Rückgang der Arbeitslosigkeit vor der Finanzmarktkrise (Jahresdurchschnitte 2005: 4,9 Millionen; 2008: 3,3 Millionen Menschen) hatte den Finanzierungsdruck in den Systemen der sozialen Sicherung vorübergehend gemildert und temporär Handlungsspielräume geschaffen. Da die Ausgaben für die passiven Leistungen der Arbeitsmarktpolitik deutlich rückläufig waren, wurde der Beitragssatz zur Arbeitslosenversicherung mehr als halbiert. Damit konnten die Beitragssatzanhebung für die Pflegeversicherung zur Finanzierung der Mehrleistungen durch das Pflegeweiterentwicklungsgesetz und die Mehrkosten bei Einführung des Gesundheitsfonds kompensiert werden. Aufgrund der günstigen Entwicklung auf dem Arbeitsmarkt ist die Gesamtbelastung durch Lohnnebenkosten in den letzten Jahren nicht angestiegen.

Mit dem erneuten starken Anstieg der Arbeitslosigkeit steigt der Druck auf die Sicherungssysteme erneut. Wenn das höhere Niveau der Arbeitslosigkeit lange anhalten wird, muss der Beitragssatz für die Arbeitslosenversicherung wieder angehoben werden oder der Bund muss mit Steuermitteln einspringen. Die Kosten der steuerfinanzierten Transfers für Langzeitarbeitslose (Sozialgesetzbuch, SGB II) steigen aufgrund der wachsenden Zahl der Bezieher, damit sinken die Chancen, mit der 2010 erfolgenden Neuberechnung des Regelsatzes strukturelle Verbesserungen wie einen eigenständigen Kinderregelsatz durchzusetzen, wie sie vom Deutschen Caritasverband gefordert werden. Auch sinken die Chancen, eine Neuregelung des Kinderzuschlages zu erreichen, mit der dieser zu einer einkommensabhängigen Kindergrundsicherung weiterentwickelt wird.

Mit der wachsenden Arbeitslosigkeit sinkt der Umfang der sozialversicherungspflichtigen Beschäftigung; die Wirtschaftsinstitute rechnen in ihrem Frühjahrsgutachten mit einem überproportionalen Rückgang (von jahresdurchschnittlich 27,5 Millionen im Jahr 2008 auf 26,2 Millionen 2010), da in der Krise zum Teil Vollzeitstellen durch geringfügige Beschäftigung substituiert würden. Auch hier dreht die Krise die positive Entwicklung der letzten Jahre wieder um. Die Chancen, mit der Umsetzung eines neuen Pflegebedürftigkeitsbegriffes die Versorgung pflegebedürftiger Menschen zu verbessern, dürften nun deutlich geringer sein als vor der Krise.

Aufgrund sinkender Einnahmen für die Gesetzlichen Krankenkassen wird der Spardruck in der Gesundheitsversorgung zunehmen, es wird noch schwieriger werden, den Versicherungsanspruch von wohnsitzlosen und anderen bisher nicht versicherten Menschen am Rande der Gesellschaft durchzusetzen, da die Versicherungen die Nachzahlungspflicht (ab 1. April 2007) bisher nicht versicherter Personen nutzen können, um sich dem gesetzlich bestehenden Kontrahierungszwang faktisch zu entziehen.


Bei steigender Arbeitslosigkeit wird Integration schwieriger

Der Spardruck in den Sicherungssystemen steigt, gleichzeitig wird es aber schwieriger werden, politische Ansätze zur Sicherung ihrer Nachhaltigkeit durchzusetzen. Deutlich wird dies an dem neuerlich erfolgten Eingriff in die Rentenanpassungsformel. Bereits ohne diesen neuerlichen Beschluss führen die politischen Eingriffe in die Rentenanpassungsformel seit 2005 zu kumulierten Zusatzlasten für die Rentenversicherung von schätzungsweise 27 Milliarden Euro, die durch die heutigen Beitragszahler und zusätzliche Bundeszuschüsse zu finanzieren sind. Die Aussetzung des so genannten Riester-Faktors für 2008 und 2009 hat, da die Renten über die nach der Rentenanpassungsformel zu leistenden Werte prozentual angehoben wurden, vorrangig den Beziehern höherer Renten genutzt. Die Zusicherung der Politik, solche Zusatzlasten in späteren Phasen mit guter Wirtschaftsentwicklung zu kompensieren, ist nicht glaubwürdig, da dann in einem Wirtschaftsaufschwung den Rentnern über mehrere Jahre allenfalls nur geringe Rentensteigerungen politisch vermittelt werden müssten.

Aufgrund der politischen Dynamik sind solche teueren Eingriffe eher zugunsten der Wahlen entscheidenden Mitte oder zugunsten aller Bezieher zu erwarten und nicht zur Stützung von Menschen mit einem hohen Armutsrisiko. Die verbandliche Caritas hat in ihrem anwaltschaftlichen Lobbying die Aufgabe, für die Partizipationsinteressen armer Menschen und der Menschen am Rande einzutreten. Dies bedeutet natürlich nicht, dass eine Sozialpolitik für die Mitte, die eine Politik der Nachhaltigkeit der großen Sicherungssysteme einschließt, nachrangig ist. Es wird sicherlich schwer, Solidaritätspotenziale zu erhalten, wenn es nicht gelingt, den ohnehin verbreiteten Abstiegsängsten der Mittelschicht entgegenzuwirken. Ob allerdings die willkürlichen Eingriffe in die Rentenanpassungsformel diese Ängste mildern können, ist mehr als zweifelhaft.


Illusionäre Steuerdebatten

Die wirtschaftswissenschaftlichen Institute prognostizieren einen Anstieg der registrierten Arbeitslosigkeit 2009 auf 3,7 Millionen und für 2010 auf 4,7 Millionen (Jahresdurchschnittswerte). Träte diese Entwicklung so ein, wäre immerhin bemerkenswert, dass erstmals in der Entwicklung der Arbeitslosigkeit in Deutschland seit den siebziger Jahren die Spitze der Arbeitslosigkeit in einer Rezession nicht deutlich oberhalb des Werts in der letzten Rezession liegen würde. Nach 2005 ist die registrierte Arbeitslosigkeit als Folge der geänderten Arbeitsmarktpolitik (unter anderem Ausbau der aktiven Arbeitsmarktpolitik, bessere Anreize durch verbesserte Zuverdienstregelung) in Verbindung mit einer guten konjunkturellen Situation deutlich gesunken.

Dabei ist zu erwarten, dass sich in der Krise die Zusammensetzung der Gruppe der Arbeitslosen verändern wird. Deutschland hat eine sehr starke Stellung bei der Produktion und dem Export von Investitionsgütern (Maschinen, Ausrüstungen, Produktionsanlagen), beides ist in starkem Maße konjunkturabhängig. Es ist in der Krise auch mit wachsender Arbeitslosigkeit qualifizierter Arbeitnehmer zu rechnen (die grundsätzlich ein deutlich niedrigeres Risiko der Arbeitslosigkeit haben). Ob sie von den Fürsorgeleistungen der Grundsicherung für Arbeitssuchende (SGB II) abhängig werden, hängt von der Dauer der Krise ab. Je länger die Krise dauert, desto stärker sind auch gut qualifizierte Arbeitnehmer in ihrem Status bedroht.


Für die Integrationsbetriebe der Caritas wird es mit steigender Arbeitslosigkeit schwieriger werden, nach erfolgter Stabilisierung und Qualifizierung in den ersten Arbeitsmarkt zu vermitteln. Auch steigt die Gefahr, dass innerhalb der staatlichen Förderprogramme das Creaming zugunsten besser qualifizierter Arbeitsloser und zu Lasten von Menschen mit besonderen Vermittlungshemmnissen zunehmen wird. In der Krise kommt dem auf den Arbeitsmarkt bezogenen Lobbying der Caritas (und anderer Wohlfahrtsverbände) die Aufgabe zu, sich für den Erhalt und den ausreichenden Einsatz der Instrumente der aktiven Arbeitsmarktpolitik für Menschen mit besonderen Vermittlungshemmnissen einzusetzen, damit Voraussetzungen für eine Beschäftigung geschaffen werden, wenn der wirtschaftliche Einbruch überwunden wird. Dazu gehört auch der Zugang zu den begleitenden sozialen Leistungen in Verantwortung der Kommunen.

Innerhalb des Sozialbereichs hat die Forderung hohe Sympathie, der absehbaren Einschränkung der staatlichen Handlungsfähigkeit durch Steuererhöhungen entgegenzuwirken. Die SPD erhebt entsprechende Forderungen im Bereich der Spitzenverdiener, die aber aufgrund der kleinen Gruppe der zu Belastenden einen sehr begrenzten fiskalischen Mehrertrag haben. Hohe Mehreinnahmen sind nur zu erzielen, wenn auch die Belastung für die Bezieher mittlerer Einkommen erhöht wird, bei denen sich bereits heute in der Kombination aus Steuern und Sozialabgaben eine hohe Grenzbelastung ergibt. Die Caritas sollte vermeiden, die Illusion zu befördern, man könne in starkem Maße die staatlichen Einnahmen erhöhen, ohne die Belastung auch für die Mittelschicht zu erhöhen.

Völlig konträr zur Situation der in der Krise eingeschränkten staatlichen Leistungsfähigkeit ist die von FDP und Teilen der Union angestoßene Debatte über Steuersenkungen in der nächsten Legislaturperiode. Die FDP führt einen Steuersenkungswahlkampf, die Union verspricht ebenfalls Steuersenkungen, um die Koalitionsfähigkeit mit der FDP zu unterstreichen, lässt den Zeitpunkt aber offen. Die Debatte ist auch konträr zu den sozialpolitischen Herausforderungen in Deutschland, da hier die Finanzierung der sozialen Sicherung in weit höherem Maße als in den meisten anderen westeuropäischen Ländern über lohnbezogene Abgaben erfolgt. Die Caritas wird demnach nicht umhinkommen, gegen die Illusion von Steuersenkungen Stellung zu beziehen, da damit die staatliche Handlungsfähigkeit weiter eingeschränkt würde.

Besonderes Augenmerk erfordert die finanzielle Situation der Kommunen. Die Steuerausfälle, die sie in den nächsten Jahren verkraften müssen, werden auf 43 Milliarden Euro geschätzt. Auch die Kirchensteuereinnahmen werden durch die Krise betroffen mit möglicherweise negativen Folgen für die Kofinanzierung der sozialen Dienste in kirchlicher Trägerschaft. Betroffen sind auch die Förderstiftungen, die eine gewisse Bedeutung bei der Finanzierung der Caritasarbeit erlangt haben.


Gleichzeitig steigen die sozialen Aufgaben der Kommunen, mit der höheren Arbeitslosigkeit wird zeitlich verzögert auch die Zahl der Bezieher von "Arbeitslosengeld II" zunehmen und werden höhere Ausgaben für die Kosten für Unterkunft und Heizung zu schultern sein. Möglicherweise nimmt dann die Gefahr zu, dass dem örtlichen Mietpreisniveau nicht angemessene Mietpauschalen bei der Berechnung zugrunde gelegt werden oder es bei der Erstattung der Heizkosten zu nicht gerechtfertigten Beschränkungen kommt.

Diese Mehrkosten in Verbindung mit den Steuerausfällen bei den Kommunen werden gravierende negative Konsequenzen haben, insbesondere für jene sozialen Aufgaben der Kommunen, die nicht gesetzlich erzwungen sind bzw. zu denen die Kommunen zwar dem Grunde nach verpflichtet sind, auf die aber kein einklagbarer Rechtsanspruch besteht. Gleichzeitig nimmt der Bedarf an diesen Leistungen zu, mit der höheren Arbeitslosigkeit etwa bei den Schuldnerberatungsstellen. Der Spielraum für die Umsetzung befähigender Sachleistungen als Teil des Konzepts des Deutschen Caritasverbandes zur Bekämpfung der Kinderarmut wird schwieriger werden. Die Situation wird regional sehr unterschiedlich sein und insbesondere in den Kommunen sehr bedenklich werden, die bereits heute überschuldet sind. Gegebenenfalls sind in der Krise spezifische Hilfen für hochverschuldete Kommunen erforderlich, die unter Haushaltsaufsicht stehen und von der Rechtslage her keine nicht gesetzlich erzwungenen Leistungen bereitstellen dürfen.


Eine zentrale politische Aufgabe der Caritas in der Krise wird somit der Einsatz dafür sein, dass die kommunalen Leistungen erhalten bleiben und trotz der Krise die Bemühungen um Befähigung von benachteiligten Kindern und Jugendlichen nicht zurückgefahren werden. Die Chancen, wirksam für den Erhalt von Beratungsstellen und anderen sozialen Dienstleistungen im kommunalen Bereich einzutreten, werden umso größer sein, je glaubhafter auch die Bedeutung der Dienste für die Prävention künftiger sozialer Notlagen nachgewiesen und öffentlich vermittelt werden kann.


Sozialpolitik der Befähigung

Die Krise führt nicht zu grundsätzlich neuen Herausforderungen für die Dienste und Einrichtungen der Caritas, ihre Stellung in den Märkten sozialer Dienstleistungen zu behaupten, aber sie dürfte die zeitliche Dringlichkeit erhöhen, mit der diese Herausforderungen zu bewältigen sind. Der Rückgang der Steuereinnahmen und der zunehmende Spardruck in den Sicherungssystemen werden deutlich spürbare Folgen für die Refinanzierung der Dienste und Einrichtungen der Caritas haben. In den härter werdenden Auseinandersetzungen um Prioritätensetzung in den öffentlichen Haushalten wird die verbandliche Caritas für den Erhalt sozialer Dienstleistungen eintreten, aber der Versuch, den Spardruck allein durch politisches Lobbying abzuwehren, wird nicht erfolgreich sein.

Für die Ortscaritasverbände wird entscheidend sein, ob das soziale Netz auf kommunaler Ebene erhalten wird beziehungsweise welche Einschnitte hier verkraftet werden müssen. Betroffen sind aber auch Dienste und Einrichtungen, bei denen die Ansprüche der Nutzer gesetzlich abgesichert sind, wie in Krankenhäusern und Einrichtungen der Alten- oder Behindertenhilfe. Der höhere finanzielle Druck wird insbesondere die Konflikte zur Refinanzierung der Personalkosten, die den Löwenteil der Kosten ausmachen, verschärfen. Die Caritas ist insbesondere in den Regionen und bei den Tätigkeitsfeldern (Wirtschaftsbereiche) verwundbar, in denen nach den Arbeitsvertragsrichtlinien der Caritas deutlich oberhalb des Niveaus der Mitbewerber zu vergüten ist, die Vergütung also nicht den Wettbewerbsverhältnissen entspricht. Somit wird es für die Stellung der Caritas im Wettbewerb sozialer Dienste noch entscheidender, dass eine Tarifpolitik gelingt, die flexibel den jeweiligen Wettbewerbsbedingungen der Dienste und Einrichtungen Rechnung trägt, wie sie mit der Neuordnung der Arbeitsrechtlichen Kommission intendiert war, bisher aber nicht realisiert werden konnte.

Bei der weiteren Tarifentwicklung muss allerdings auch dafür Sorge getragen werden, dass unter dem bestehenden Spardruck die Gehälter im Sozialbereich nicht von der allgemeinen Gehaltsentwicklung abgekoppelt werden. Kurzfristig mag es für Kostenträger möglich sein, dies gegenüber den heute Beschäftigten durchzusetzen. Aber ein solches Vorgehen hätte mittel- und langfristig gravierende Konsequenzen für die Wettbewerbsstellung des Sozialbereichs bei der Personalgewinnung. Im demographischen Wandel steigt die Nachfrage nach sozialen Dienstleistungen und es wird gleichzeitig schwieriger, qualifizierten Nachwuchs für die Sozialberufe zu gewinnen. Gelingen kann dies nur, wenn auch im Sozialbereich trotz des bestehenden Spardrucks qualifikationsadäquate Gehälter gezahlt werden. Die bereits heute feststellbaren Schwierigkeiten bei der Gewinnung qualifizierter Pflegekräfte sind ein deutliches Signal.


Die Krise offenbart zudem erneut die Notwendigkeit, alle geeigneten Instrumente zu nutzen, die die Stellung der Dienste und Einrichtungen der Caritas in den Märkten sozialer Dienstleistungen festigen. Hier schöpft die verbandliche Caritas ihre Potenziale bisher nicht aus, etwa beim Crossmarketing oder beim Benchmarking. Dringend ist daher die Kooperation zwischen den verbandlichen Ebenen, um den Trägern der Dienste und Einrichtungen entsprechende Dienstleistungen anbieten zu können, sowie auch eine Analyse, warum das Benchmarking bisher nur in einem unbefriedigenden Umfang genutzt wurde.

In der Bewältigung der Krise ist die verbandliche Caritas in ihren Rollen als Akteur der Sozialpolitik, als sozialer Dienstleister und Förderer von Solidaritätspotenzialen herausgefordert. Die Caritas muss sich auch und gerade in der Krise für eine sozial gestaltete Markwirtschaft einsetzen. Auch in der Krise benötigen wir über eine gute sozialstaatliche Sicherung hinaus eine "Sozialpolitik der Befähigung", um die massiven Benachteiligungen zu überwinden, die junge Menschen aus benachteiligten Milieus daran hindern, ihre Potenziale zu entfalten. Die Kirche und ihre Caritas müssen sich dafür einsetzen, dass trotz der eingeschränkten staatlichen Handlungsfähigkeit Bildung, Ausbildung und Integration in den Arbeitsmarkt verbessert werden und die sozialen Hilfen erhalten bleiben. Dies ist aus sozialen Gründen geboten und Voraussetzung für die Nachhaltigkeit der Sicherungssysteme. Ob Befähigung gelingt, entscheidet sich auch daran, ob die sozialen Hilfen im Nahraum erhalten werden. Befähigung muss mehr als bisher in den Regelsystemen des Sozialstaats erfolgen. Dies beinhaltet auch für die Dienste und Einrichtungen der Caritas eine Selbstverpflichtung.


*


Georg Cremer (geb. 1952) ist seit 2000 Generalsekretär des Deutschen Caritasverbandes. Der 1992 Habilitierte ist seit 1999 außerplanmäßiger Professor für Volkswirtschaftslehre an der Universität Freiburg.


*


Quelle:
Herder Korrespondenz - Monatshefte für Gesellschaft und Religion,
63. Jahrgang, Heft 9, September 2009, S. 460-464
Anschrift der Redaktion:
Hermann-Herder-Straße 4, 79104 Freiburg i.Br.
Telefon: 0761/27 17-388
Telefax: 0761/27 17-488
E-Mail: herderkorrespondenz@herder.de
www.herder-korrespondenz.de

Die "Herder Korrespondenz" erscheint monatlich.
Heftpreis im Abonnement 10,40 Euro.
Das Einzelheft kostet 12,00 Euro.


veröffentlicht im Schattenblick zum 16. Oktober 2009