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ARBEIT/2715: Menschenwürdige Arbeits- und Lebensbedingungen in Zeiten der Digitalisierung (FUE Rundbrief)


Forum Umwelt & Entwicklung - Rundbrief 2/2017

Jobs, Jobs, Jobs
Gute Arbeitsplätze in einer nachhaltigen Zukunft?

ARBEIT 4.0
Menschenwürdige Arbeits- und Lebensbedingungen in Zeiten der Digitalisierung

von Sven Hilbig


Industrie 4.0, Landwirtschaft 4.0, Bildung 4.0 ... Die Bezeichnung 4.0 ist aus den Medien und Anzeigenseiten nicht mehr wegzudenken. Sie steht stellvertretend für die sogenannte Vierte industrielle Revolution. Eine Entwicklung, die Mitte der 1990er Jahre mit den Cyber-Utopisten des Silicon Valley ihren Anfang nahm und inzwischen weltweit zur programmatischen Zielsetzung von Wirtschaft, Politik, Bildungseinrichtungen und anderen gesellschaftlichen Akteuren geworden ist, einschließlich der staatlichen Entwicklungszusammenarbeit, die in der Digitalisierung die Chance zum Gelingen von nachhaltiger Entwicklung sieht.


Unternehmen und Staaten, welche die Digitalisierung mit milliardenschweren Investitionen vorantreiben, verfolgen hingegen andere Ziele: Mittels digitaler Innovation und Technologie soll ihre internationale Wettbewerbsfähigkeit gestärkt werden.


Produktion ohne ProduzentInnen?

In welchem Ausmaß die digitale Transformation unsere Gesellschaften und die globalen Machtstrukturen verändern wird, ist noch nicht absehbar. Zum gegenwärtigen Zeitpunkt ist aber schon deutlich, dass dieser Prozess zu tiefgreifenden wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Umbrüchen führt. Die 'Big Five' des Silicon Valley (Apple, Alphabet, Microsoft, Amazon, Facebook) erzielen einen höheren Börsenwert als der bedeutendste deutsche Aktienindex, der DAX-30.

Die auf Digitalisierung beruhende technische Revolution wirbelt aber nicht nur das 'Who is Who' der transnationalen Konzerne durcheinander und bringt neue Geschäftsmodelle und -praktiken hervor, durch den Einsatz von 3D-Druckern, Robotern und künstlicher Intelligenz revolutioniert sie ebenso die Arbeitswelt. 'Disruption' (Umbruch) ist einer der am häufigsten verwendeten Begriffe, wenn über Arbeit 4.0 gesprochen wird. Viele Menschen, nicht nur in Deutschland, befürchten den Verlust ihres Arbeitsplatzes - mit gutem Grund: Besteht doch der Kerngedanke der Digitalisierung darin, den Faktor Arbeit maschinell zu ersetzen, um mittels der eingesparten Arbeitskosten die Produktivitätsrate zu steigern. Aus Unternehmersicht haben Maschinen noch weitere Vorteile: Sie fordern keine Mitbestimmung, gründen keine Betriebsräte und streiken nicht.

Zahlreiche, von der Wirtschaft in Auftrag gegebene Studien prognostizieren einen massiven Abbau an Arbeitsplätzen und geben damit den SkeptikerInnen weitere Argumentationshilfen, die den gesellschaftlichen Nutzen einer durchdigitalisierten Wirtschaft bezweifeln. Für Schlagzeilen sorgte der 2016 vom Weltwirtschaftsforum vorgestellte Bericht, wonach in den kommenden 5 Jahren allein in den Industriestaaten 5 Millionen Arbeitsplätze aufgrund der Industrie 4.0 wegfallen sollen. Zwar würden in den Bereichen Informations- und Kommunikationstechnologie (kurz: IKT) 2 Millionen neue Stellen geschaffen werden, zugleich mache die Digitalisierung jedoch mehr als 7 Millionen Arbeitsplätze überflüssig.(1) Der Arbeitsplatzabbau drohe dabei nicht nur FabrikarbeiterInnen, sondern auch Büroangestellten, die repetitive Tätigkeiten ausüben.


Beim Kampf um die Rendite gewinnt das Kapital

Diesen düsteren Zukunftsszenarien wird entgegengehalten, die Befürchtung, technischer Fortschritt würde massiv Arbeitsplätze vernichten, sei so alt wie der technische Fortschritt selbst. Der Wirtschaftswissenschaftler Keynes warnte bereits Anfang der 1930er Jahre vor einer technologischen Arbeitslosigkeit. Eine Prognose, die sich nicht bewahrheiten sollte. TechnikoptimistInnen gehen eher davon aus, dass mittelfristig Computer vornehmlich zahlreiche Arbeitsaufgaben übernehmen, den Menschen aber nicht komplett ersetzen werden.

Ungeachtet der Frage, ob die Digitalisierung tatsächlich die Arbeitslosenquote stark in die Höhe treiben wird, sind sich BeobachterInnen und AnalystInnen weitestgehend darin einig, dass die menschliche Arbeit, mit Ausnahme der in der IKT-Branche tätigen SpezialistInnen, an (Kauf)Wert verlieren wird, während die Gewinne von InnovatorInnen, InvestorInnen und AktionärInnen noch weiter steigen - mit der Konsequenz eines sich polarisierenden Arbeitsmarktes und dem "Risiko wachsender inter- und intragesellschaftlicher Ungleichheit" und damit einhergehender sozialer Spannungen und Konflikte.(2)


Zeitdruck, Kontrolle und digitale Nomaden

Arbeit 4.0 wird aber nicht nur Auswirkungen auf die Beschäftigungsquote haben, sondern auch die Qualität von Arbeit verändern. Durch die Automatisierung und Digitalisierung von Arbeit erhalten die MitarbeiterInnen immer präzisere (zeitliche) Vorgaben für ihre Aufgaben, und die Tätigkeiten werden stärker kontrolliert. Eine im Frühjahr 2017 veröffentliche Studie des DGB zeigt, eine Mehrheit der Beschäftigten, die besonders von der Digitalisierung betroffen sind, leidet sowohl unter hohem Zeitdruck als auch daran, dass immer neue Anforderungen an sie gestellt werden und das Gelernte entwertet wird.

Bei den in den Auslieferungslagern von Amazon tätigen Angestellten wird anhand von GPS-Geräten jede Bewegung überwacht. Die MitarbeiterInnen werden somit von den Maschinen gezwungen, an die Grenzen ihrer geistigen und körperlichen Belastbarkeit zu gehen. Die so in die Ecke gedrängten MitarbeiterInnen ahnen bereits, was als Nächstes folgt: ihre vollständige Ersetzung durch die Maschinen. In diesem Jahr soll die erste vollautomatisierte Versandhandel-Fabrik eröffnen.

Während in der Vergangenheit die internationale Arbeitsteilung durch Auslagerung der verarbeitenden Industrie von den entwickelten Industriestaaten in die Länder des Globalen Südens gekennzeichnet war, wird inzwischen die Arbeit zunehmend per Internet-Plattformen von den Unternehmen direkt auf Individuen verteilt, und zwar weltweit. Durch dieses sogenannte 'Crowdworking' befreien sich die Unternehmen aus festen Arbeitsverträgen und gewinnen noch mehr Verhandlungsmacht, wenn es um die Frage geht, wie hoch die Bezahlung der jetzt Selbstständigen ist. Kaum ein großer Konzern in Deutschland, angefangen von Airbus über die Deutsche Bank bis hin zur Telekom und Volkswagen, kommt noch ohne diese "digitalen Nomaden" aus.


Digitalisierung im Dienste von Arbeits- und Lebensqualität

Die Anfangsphase der ersten industriellen Revolution war geprägt von unmenschlichen Arbeitsbedingungen, sozialer Deklassierung und Massenverelendung. Es bedurfte enormer gesellschaftlicher Anstrengungen, bis die Menschen unter halbwegs erträglichen Zuständen arbeiteten. Aus dem Blick in die Vergangenheit können wir 2 Dinge für die soziale Gestaltung von Arbeit 4.0 lernen. Erstens: Wir dürfen diesem Prozess nicht untätig gegenüberstehen, andernfalls wird die Entwicklung nach dem Motto verlaufen: Erst digitalisieren, dann humanisieren. Zweitens: Technischer Fortschritt trägt nicht per se dazu bei, Arbeit menschenwürdiger zu gestalten. Vielmehr bedarf es sozialer Innovationen und gesellschaftlicher Akteure, die in der Lage sind, diese - gegen die Interessen der Wirtschaft - durchzusetzen. Die vergangenen industriellen Revolutionen wurden gebändigt durch die Entwicklung von sozialpolitischen Gesetzgebungen, der Schaffung von Mitbestimmungsrechten, Tarifverträgen etc. Wie lauten die richtigen Antworten auf die gegenwärtige Entwicklung, die gekennzeichnet ist von der Gefahr millionenfacher Jobverluste, zunehmender Ungleichheit und einer neuen Art von prekären Verhältnissen und menschenunwürdiger Arbeit? Die Suche nach tragfähigen Antworten und deren Umsetzung wird kein leichtes Unterfangen, auch weil der technische Wandel immer weiter voranschreitet, und dabei oftmals den Staat und seine Regularien immer weiter vor sich her treibt, wie das plötzliche Auftauchen des Privattaxianbieters Uber zeigt.

Eine wichtige und notwendige Maßnahme, um dem Rückgang der Beschäftigungsquote zu begegnen, wäre die Einführung eines Grundeinkommens. Seine Finanzierung setzt jedoch, aufgrund der mit dem Rückgang an Erwerbstätigen einhergehenden verringerten staatlichen Steuereinnahmen, eine Besteuerung des digitalen Wirtschaftens in beträchtlichem Umfang voraus. Unlängst forderte Bill Gates daher, Roboter zu besteuern.

Arbeit dient uns aber nicht nur als Mittel zur Sicherstellung unseres Lebensunterhalts. Arbeit verschafft dem Menschen darüber hinaus Teilhabe am gesellschaftlichen Leben: Durch unsere wirtschaftlichen Tätigkeiten sind wir Teil der gesellschaftlichen Welt und finden unseren Platz in ihr. Er ist Teil des "Kitts", der Gesellschaften und seine BürgerInnen zusammenhält. Die Einführung eines Grundeinkommens ist deswegen nur eine (Teil)Antwort auf eines der gesellschaftlichen Probleme der Digitalisierung; andere, innovativere Ideen zur Gestaltung von politischen Rahmenbedingungen müssen folgen.

Eine strategische Auseinandersetzung mit der Digitalisierung sollte sich ohnehin nicht auf Gegen-Maßnahmen beschränken, sondern ein eigenes Narrativ entwickeln und nach neuen gesellschaftlichen Gestaltungsmöglichkeiten im Internetzeitalter suchen, um die eigentliche gesellschaftliche Herausforderung des 21. Jahrhunderts nicht aus den Augen zu verlieren: Eine sozial und ökologisch gerechte, inklusive Weltwirtschaft.


Der Autor ist Referent für Welthandel und Umweltpolitik bei Brot für die Welt.


Anmerkungen:

(1) Weltwirtschaftsforum (2016): The Global Competitiveness Report.
http://www3.weforum.org/docs/GCR2016-2017/05FullReport/TheGlobalCompetitivenessReport2016-2017_FINAL.pdf.

(2) World Bank Group (2016): World Development Report: Digital Dividends.
http://documents.worldbank.org/curated/en/896971468194972881/pdf/102725-PUB-Replacement-PUBLIC.pdf.


Das Forum Umwelt & Entwicklung wurde 1992 nach der UN-Konferenz für Umwelt und Entwicklung gegründet und koordiniert die Aktivitäten der deutschen NGOs in internationalen Politikprozessen zu nachhaltiger Entwicklung. Rechtsträger ist der Deutsche Naturschutzring, Dachverband der deutschen Natur-, Tier- und Umweltschutzverbände (DNR) e.V.

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Quelle:
Rundbrief 2/2017, Seite 8-9
Herausgeber:
Forum Umwelt & Entwicklung
Marienstr. 19-20, 10117 Berlin
Telefon: 030/678 1775 910
E-Mail: info@forumue.de
Internet: www.forumue.de


veröffentlicht im Schattenblick zum 9. August 2017

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