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ENTWICKLUNGSHILFE/078: Die Finanzkrise verschärft die Lage der armen Länder (Herder Korrespondenz)


Herder Korrespondenz
Monatshefte für Gesellschaft und Religion - 01/2010

Etwas Hilfe genügt nicht
Die Finanzkrise verschärft die Lage der armen Länder

Von Georg Stoll


Die Gruppe der wenig oder kaum entwickelten Länder ist von den mittelbaren Folgen der Finanzkrise besonders betroffen. Sie verschärfen die ohnehin prekären Lebensverhältnisse und machen manchen mühsam errungenen Fortschritt bei der Armutsbekämpfung wieder zunichte. Viele zivilgesellschaftliche Akteure sind vor allem über die Art der internationalen Krisenbewältigung tief enttäuscht.


Die Schwierigkeiten beginnen bereits mit den Begriffen. Von welcher Krise ist eigentlich genau die Rede? Für die Fernsehzuschauer und Zeitungsleser in den westlichen Industrienationen ist das keine Frage. Es geht um die Krise, die mit den berüchtigten Subprime-Hypotheken in den Vereinigten Staaten begann: Die zum Zusammenbruch von Banken wie Lehmann Brothers führte und Regierungen dazu veranlasste, Milliardenpakete für die Rettung weiterer Banken zu schnüren. Die durch die Abwrackprämie dem Nachbarn zum neuen Auto verholfen hat und den anderen Nachbarn den Job gekostet hat. Eine Krise, die andere Krisen wie Energiepreiskrise, Nahrungsmittelpreiskrise und Klimakrise aus den Medien gedrängt hat, die für neue Schuldenrekorde in den öffentlichen Haushalten sorgt und die jetzt wohl hoffentlich durch Konjunkturprogramme bald überwunden ist (vgl. dieses Heft, 16ff.; sowie HK, Mai 2009, 237ff., und September 2008, 460ff.).


Diese Krise ist in den meisten Entwicklungsländern weitgehend unbekannt. Hier mussten keine Finanzinstitute gerettet werden (felix culpa der oft gescholtenen mangelhaften Integration in die globalen Finanzmärkte!). Hier wurden aber auch keine milliardenschweren Konjunkturpakete geschnürt. Und die Nahrungsmittelpreiskrise ist alles andere als vergessen. Die Situation der Armen in den Entwicklungsländern hat sich in den vergangenen Monaten zweifellos verschlechtert - und sie wird sich aller Voraussicht nach weiter verschlechtern. Die Beziehung dieser Degradation der Lebensverhältnisse zu "unserer" Finanz- und Wirtschaftskrise ist ebenfalls klar erkennbar. Dennoch unterscheidet sich die Wahrnehmung im Süden von der im Norden erheblich. Das geht aus der Analyse, die Partnerorganisationen des bischöflichen Hilfswerkes Misereor in Gesprächen, Veröffentlichungen und Veranstaltungen vorlegen, deutlich hervor. Während im Norden mehrheitlich die Vorstellung von einer zwar pandemisch verlaufenden akuten Erkrankung ähnlich der Schweinegrippe vorherrscht, die man jetzt aber mit entsprechend hohem medizinischen Aufwand in den Griff zu bekommen scheint, entspricht der Krisenwahrnehmung im Süden eher die Metapher eines Malaria-Fieberschubs: eine erneute akute Zuspitzung einer chronischen Erkrankung, an deren Therapie offenbar kaum jemand wirklich interessiert ist.


Die höchst problematische Unterscheidung von Entwicklungsländern und Industrieländern

Der Unterschied ist insofern wichtig, als er nochmals die Machtlosigkeit manifestiert, in der viele Menschen im Süden sich gefangen sehen. Sie fühlen sich als Opfer nicht erst der aktuellen Krise sondern bereits des "normalen" Funktionierens des weltweit beherrschenden Finanz- und Wirtschaftssystems, in dessen Logik Arbeitsplätze, Lebensmittelpreise oder Umweltverschmutzung nur Kennwerte in einer auf betriebswirtschaftliche Kostenreduzierung und Gewinnmaximierung ausgerichteten Kalkulation darstellen. Diese Version der Geschichte findet jedoch so gut wie kein Gehör: nicht auf der Bühne der internationalen Krisenkonferenzen (mit Ausnahme der Konferenz der Vereinten Nationen im Juli 2009, die jedoch bezeichnenderweise kaum ein Echo gefunden hat); nicht bei den globalen Institutionen wie Weltbank, Internationaler Währungsfonds oder den vielen spezialisierten Agenturen, deren Namen bislang nur Fachleuten bekannt waren; und auch nicht in den Medien.

Dabei hat es mit der Stärkung der G20-Ländergruppe doch eine erhebliche geopolitische Gewichtsverschiebung in Richtung Süden gegeben. Allerdings zeigt sich auch hier, dass die gängigen Begriffe die Wahrnehmung eher verschleiern als erhellen. Denn spätestens mit der politischen Aufwertung der G20 zum neuen globalen Schattenkabinett im Zuge der Finanzkrise ist die Brüchigkeit der ohnehin problematischen Kategorie der "Entwicklungsländer" deutlich geworden. Der Begriff umfasst noch immer gleichermaßen "Schwellenländer" wie China, Indien, Brasilien und Südafrika einerseits und Staaten wie die 49 so genannten "Least Developed Countries", also die am wenigsten entwickelten Länder andererseits. Aus dieser Gruppe, die immerhin ein Viertel aller Staaten weltweit ausmacht, befindet sich kein einziges Land in der G20.

Damit sind sie aus der öffentlichen Debatte um die Deutung der globalen Finanzkrise ebenso ausgeschlossen wie bei der Suche nach internationalen Lösungsansätzen. Doch auch innerhalb der Länder ist das Bild differenzierter als es die überkommene Einteilung in Entwicklungsländer und Industrieländer suggeriert. So gibt es in zahlreichen "Entwicklungsländern" durchaus eine zunehmende Zahl von Menschen, die sich als Gewinner der Globalisierung sehen - während die Zahl der Armen in denselben Ländern gleichzeitig auf hohem Niveau stagniert oder sogar wieder steigt.


Die hohe Abhängigkeit von Rohstoffexporten verschärft die Situation

Diese letztgenannte Gruppe der Armen ist jetzt aber in besonderem Maße von den Folgen der Finanzkrise betroffen. Von den unmittelbaren Folgen wie dem Zusammenbruch von Banken oder dem Kurssturz der Aktienbörsen waren sie zwar weitgehend verschont geblieben, weil sie außerhalb der bedrohten Finanzkreisläufe stehen. Die mittelbaren Folgen sind jedoch mit zeitlicher Verzögerung inzwischen bei ihnen angekommen. Sie verschärfen die ohnehin prekären Lebensverhältnisse und machen manchen mühsam errungenen Fortschritt bei der Armutsbekämpfung wieder zunichte.

So warnten Weltbank und IWF in ihrem Global Monitoring Report 2009, dass die meisten der so genannten Millennium-Entwicklungsziele wahrscheinlich nicht mehr bis 2015 erreichbar sein werden. Der Bericht nennt ausdrücklich die Ziele der Hungerbekämpfung, der Reduzierung von Kinder- und Müttersterblichkeit, der universalen Grundbildung und der Trendumkehr beim Kampf gegen HIV/AIDS, Malaria und andere Krankheiten. Ernährung, Gesundheit, Bildung: Die Folgen der Finanzkrise verschärfen die ohnehin chronische Verletzung sozialer Menschenrechte. Der Bericht, der im April 2009 veröffentlicht wurde, schätzt weiterhin, dass in mehr als der Hälfte der "Entwicklungsländer" die Zahl der extrem Armen (mit einem täglichen Einkommen von maximal 1,25 US-Dollar) wieder ansteigen wird.

Für Subsahara-Afrika liegt die Schätzung sogar bei 75 Prozent. Die Zahl der dauerhaft unter Hunger leidenden Menschen werde, so der Bericht, im Jahr 2009 die Milliardengrenze überschreiten. Diese Befürchtung hat sich inzwischen bestätigt. So teilte die Welternährungsorganisation FAO im Oktober 2009 in ihrem aktuellen Welternährungsbericht mit, dass die Zahl der Hungernden weltweit bei einem Allzeithoch von 1,02 Milliarden Menschen liege. Das erste Millennium-Entwicklungsziel nennt als Vorgabe hingegen die (immer noch unvorstellbar hohe) Zahl von 420 Millionen - zu erreichen bis 2015.


Die Zusammenhänge zwischen der Finanzkrise und den Rückschlägen bei der Armutsbekämpfung sind inzwischen weitgehender Konsens. Das Platzen der Kreditblase hat zahlreiche auf Pump finanzierte Geschäfte vor allem in den Industrie- und Schwellenländern zum Erliegen gebracht und erschwert zugleich Refinanzierungen und Neuinvestitionen. Dieses Übergreifen der Finanzkrise auf die Realwirtschaft zeigt nun auf unterschiedlichen Wegen auch bei den armen und ärmsten Ländern Auswirkungen: durch drastische Einbrüche bei Exporteinnahmen, durch das Ausbleiben der Heimatüberweisungen von Arbeitsmigranten, durch steigende Arbeitslosigkeit infolge von Betriebsschließungen und des Rückgangs beim Tourismus, durch eine deutliche Abnahme bei Direktinvestitionen aus dem Ausland.

Die ohnehin auf Kante genähten öffentlichen und privaten Haushalte werden weiter strapaziert. Ausweichmöglichkeiten gibt es kaum, und so schneiden die Versuche, mit der Situation fertig zu werden, sofort ins Fleisch. Bei Menge und Qualität der Lebensmittel wird gespart. Arbeits- und Schulwege werden zu Fuß zurückgelegt. Kinder bleiben der Schule fern, und medizinisch erforderliche Maßnahmen werden verschoben oder gestrichen. Gleichzeitig steigt sowohl die Staatsverschuldung als auch die Privatverschuldung deutlich an und hat in einigen Fällen schon wieder bedrohliche Ausmaße erreicht.


Die relativ hohen Raten beim Wirtschaftswachstum, die auch die meisten Entwicklungsländer in den vergangenen Jahren verzeichnen konnten, verdankten sich zu einem erheblichen Teil steigenden Exporteinnahmen aus Rohstoffen, wobei sowohl die ausgeführten Mengen als auch die Preise aufgrund zunehmender Nachfrage vor allem aus Schwellenländern wie China deutlich nach oben wiesen. Diese starke Abhängigkeit vom Rohstoffexport zeigt nun ihre Kehrseite. Nach sieben aufeinander folgenden Jahren mit Exportwachstum wird der Umfang der Exporte aus Entwicklungs- und Schwellenländern von 2008 auf 2009 um acht Prozent und ihr Wert sogar um 25 Prozent zurückgehen (IWF, World Economic Outlook, Oktober 2009).

Das sind Durchschnittswerte, die im Einzelfall noch höher ausfallen können. In Sambia beispielsweise, das wirtschaftlich stark vom Kupferexport abhängt (rund 70 Prozent der Gesamtausfuhren), haben sich die Einnahmen aus dem Handel mit diesem Metall halbiert. Das daraus resultierende Handelsbilanzdefizit hat in Sambia wie in etlichen anderen Entwicklungsländern Abwertungsdruck auf die einheimische Währung sogar gegenüber dem geschwächten Dollar erzeugt und so über steigende Importausgaben zugleich die Inflation angeheizt - was wiederum die Kreditzinsen steigen lässt und den Schuldendienst verteuert.

Nach Berechnungen des Jesuit Centre for Theological Reflection in Lusaka sind die Lebenshaltungskosten für eine sechsköpfige Durchschnittsfamilie innerhalb von einem Jahr um 18 Prozent gestiegen. Das entspricht in etwa den Ausgaben, die in Sambia derzeit für ein Jahr unterer Sekundarschulausbildung anfallen. Die monatlichen Lebenshaltungskosten von umgerechnet 483 US-Dollar (November 2009) sind heute beispielsweise mit einem normalen Lehrergehalt von maximal 350 US-Dollar nicht mehr aufzubringen. Die Weltmarktpreise für Nahrungsmittel bleiben dabei ein großes Problem. Im Laufe des Jahres 2008 sind sie zwar nach Angaben der UNCTAD um durchschnittlich 12 Prozent zurückgegangen, lagen damit aber immer noch um 39 Prozent über dem Vorjahresniveau (und um 130 Prozent über den Preisen von 2002).


Ein erheblicher Teil der Arbeitsplätze geht wohl dauerhaft verloren

Dramatisch wird die Lage, wenn nicht nur die Ausgaben steigen, sondern durch Arbeitslosigkeit gleichzeitig das Familieneinkommen einbricht. In Sambia sind im abgelaufenen Jahr bereits mehrere Tausend Minenarbeiter entlassen worden. Während früher die staatlichen Minen in solchen Fällen eine Art soziales Auffangnetz bildeten, reagieren die Minen, die nach der von Weltbank und IWF in den vergangenen Jahren erzwungenen Privatisierung inzwischen fast alle in ausländischen Besitz übergegangen sind, sofort auf Konjunkturveränderungen und entlassen ihre Arbeiter. Teure Kurzarbeitprogramme oder Arbeitslosengeld gibt es in Sambia ebenso wenig wie in den meisten anderen Entwicklungsländern.

Doch selbst dort, wo soziale Schutzmechanismen existieren, gehen sie am Großteil derjenigen, die im informellen Sektor ihr Geld verdienen, ohnehin vorbei. Der große informelle Sektor in Entwicklungsländern führt dazu, dass genaue Angaben zur Arbeitslosigkeit gar nicht bekannt sind. Da die Arbeitsverhältnisse hier meist besonders gefährdet sind, gehen Schätzungen aufgrund früherer Erfahrungswerte davon aus, dass auf jeden verlorenen Arbeitsplatz im formalen Sektor mehrere im informellen Sektor entfallen.

Doch nicht nur der Verlust des Arbeitsplatzes bereitet Sorge. Gleichzeitig steigt die Zahl derjenigen, die zwar arbeiten, deren Einkommen aber nicht mehr für den Lebensunterhalt ausreicht. In Hongkong beispielsweise ist ihre Zahl nach Angaben der Society for Community Organisation, einem Misereor-Projektpartner, auf 500000 angewachsen. Außerdem ist das Phänomen inzwischen nicht mehr nur wie bisher auf Jugendliche und weibliche Arbeitskräfte beschränkt, sondern hat auch die Gruppe gut ausgebildeter männlicher Angestellter und Arbeiter erreicht. Darüber hinaus gibt der Blick in die Zukunft nicht viel Anlass zu Hoffnung. Nationale Beobachter schätzen ebenso wie die Internationale Arbeitsorganisation ILO, dass das Schlimmste auf dem Arbeitsmarkt erst noch bevorsteht. Und sie befürchten, dass wie in der Vergangenheit auch bei einem wieder einsetzenden Aufschwung ein erheblicher Teil der Arbeitsplätze trotzdem dauerhaft verloren geht und die bleibend hohe Nachfrage von Arbeitsuchenden das Lohnniveau nach unten drückt.


Eine besondere Form der Arbeitslosigkeit betrifft die Länder, in denen viele Familien von dem Einkommen abhängen, das einzelne Familienmitglieder als Arbeitsmigranten im Ausland erwirtschaften. Weltweit sind diese Heimatüberweisungen in den vergangenen Jahren stark angestiegen und haben im Jahr 2008 mit 338 Milliarden US-Dollar das Dreifache der globalen Entwicklungshilfe erreicht. In manchen Ländern wie beispielsweise Honduras oder Nepal machen sie inzwischen 20 Prozent und mehr des Bruttoinlandsprodukts aus.

Während in der Vergangenheit dieses Einkommen einen wichtigen Puffer in Krisenzeiten bildete, verhält es sich jetzt in der globalen Krise prozyklisch und verschärft die Situation für die Bevölkerung in den betroffenen Ländern. So rechnet die Weltbank mit einem Rückgang von 2008 auf 2009 um gut sechs Prozent. Dabei handelt es sich freilich nur um die offiziell erfassbaren Zahlen. Da viele Arbeitsmigranten ohne legalen Aufenthaltsstatus einer Beschäftigung nachgehen, werden deren Arbeit und Überweisungen ebenso wenig statistisch erfasst wie der Verlust ihres Arbeitsplatzes.

Wenn jetzt in den USA Arbeitsmigranten aus Mittelamerika oder in den Golfstaaten Bauarbeiter aus Südasien entlassen werden, belastet das die Heimatländer gleich doppelt: Einerseits fällt dringend benötigtes Einkommen aus, und gleichzeitig müssen die Heimkehrer zusätzlich versorgt werden. In Nepal hat auf diese Weise der Druck auf die kleinbäuerliche Landwirtschaft enorm zugenommen, wie ein Projektpartner von Misereor berichtet. Die Regierung will als Reaktion auf diese Situation zwar ein Starthilfeprogramm für Kleinunternehmer auflegen. Doch wie viele der ehemaligen Bauarbeiter in der aktuell schwierigen Lage als erfolgreiche Kleinunternehmer ihren Lebensunterhalt erwirtschaften und ihren Startkredit werden zurückzahlen können, weiß auch die Regierung nicht. In Mexiko, von wo aus zahlreiche Menschen in den USA illegal Arbeit gesucht und gefunden haben, werden inzwischen sogar gegenläufige Finanzflüsse beobachtet. Familien in Mexiko versuchen ihre arbeitslosen Verwandten in den USA zu unterstützen, damit diese nicht zurückkommen müssen. Eine spätere Wiedereinreise wäre nämlich aufgrund verschärfter Grenzkontrollen kaum mehr möglich.


Viele Privathaushalte sehen in dieser Situation ihre einzige Zuflucht in der Aufnahme von Krediten. Ein Netzwerk kambodschanischer Nichtregierungsorganisationen hat kürzlich eine Umfrage unter mehr als 1000 Haushalten im ländlichen Bereich durchgeführt und dabei erschreckende Zahlen erhoben. 71 Prozent der Haushalte sind gegenwärtig verschuldet, wobei wiederum 70 Prozent dieser Schulden im ersten Halbjahr 2009 angefallen sind. Fast die Hälfte der Schulden mussten aufgenommen werden, um Nahrungsmittel zu kaufen. Als weitere Gründe wurden Gesundheitskosten, die Ablösung von Altschulden sowie Investitionen in die landwirtschaftliche Produktion genannt. Bis auf den letzten Punkt handelt es sich also um aus der Not geborene Konsumkredite, deren Rückzahlung den Betroffenen auf lange Zeit Schwierigkeiten bereiten wird. Das macht sich auch bei den viel gerühmten Mikrokrediten bemerkbar. Mehr als die Hälfte von 400 im März 2009 befragten Mikrofinanzinstitutionen gab an, dass ihre Kunden aufgrund hoher Lebensmittelpreise sowie Einkommens- und Arbeitsplatzverlusten Rückzahlungsschwierigkeiten haben.


Um die öffentlichen Finanzen steht es nicht besser. Wegen des Wirtschaftswachstums und der Teilschuldenerlasse der vergangenen Jahre war das Thema Verschuldung von Entwicklungsländern von der politischen Agenda verschwunden. Nun kehrt es zurück. Der letzte Zwischenbericht der Weltbank zur Umsetzung der HIPC-Entschuldung (HIPC: heavily indebted poor countries, hochverschuldete arme Länder) sieht bei fast der Hälfte der Länder, die sich im Entschuldungsprozess befinden, bereits wieder ein ernsthaftes Risiko erneuter Überschuldung. Das Entschuldungsbündnis "erlassjahr.de" kommt in seinem Schuldenreport 2009 aufgrund detaillierter Analysen zu einer noch pessimistischeren Einschätzung. Danach sind sieben Länder akut von Zahlungsunfähigkeit bedroht, bei weiteren sechs besteht ein hohes Risiko, kurzfristig in die Insolvenz zu geraten. Alle diese Länder befinden sich in Afrika.


Die Krisenreaktion der Industrieländer könnte die Lage der Entwicklungsländer weiter verschlechtern

Aus dieser Perspektive stimmt es bedenklich, wenn die Maßnahmen für einkommensschwache Entwicklungsländer im Rahmen der internationalen Reaktion auf die Krise, die ohnehin im Vergleich zu Bankenrettung und Konjunkturpaketen äußerst bescheiden ausfallen, vornehmlich wieder auf Kredite setzen. Die Devise von Weltbank und IWF, wonach die HIPC-Entschuldung eine einmalige Maßnahme darstelle, wird zum Pfeifen im Wald, wenn die beiden Institutionen jetzt selbst mit Auftrag und Segen der G20 ihre Vergaberichtlinien "flexibilisieren" und hohe Kredite ausreichen, deren Rückzahlung schon bei der Vergabe fragwürdig erscheint.

Zu ausreichenden Zuschüssen, wie sie für die milliardenschweren heimatlichen Konjunkturprogramme schnell und gegen zahlreiche Bedenken mobilisiert werden konnten, zeigen sich die Industrieländer hingegen nicht bereit. Zwar sind die Ausgaben für Entwicklungshilfe (ODA: official development aid) in den vergangenen Jahren, vor allem aufgrund der Schuldenerlasse, angestiegen. Doch liegen sie immer noch erheblich unter den an der Erfüllung der Millennium-Entwicklungsziele orientierten Selbstverpflichtungen. Zudem sind gerade vor dem Hintergrund der Finanz- und Wirtschaftskrise deutliche Anzeichen erkennbar, dass jetzt bei den Entwicklungsetats wieder gespart werden soll. Irland hat als erstes EU-Land deutliche Kürzungen bei der Entwicklungshilfe angekündigt.

In Deutschland hat der neue Bundesentwicklungsminister Dirk Niebel das Zwischenziel von 0,51 Prozent ODA-Anteil am Bruttonationaleinkommen, das im EU-Stufenplan verbindlich festgelegt ist, öffentlich in Frage gestellt. Fast zeitgleich haben die Regierungsfraktionen im Vorfeld der Kopenhagener Klimaverhandlungen der Bundesregierung den Auftrag erteilt, dafür Sorge zu tragen, dass mögliche Klimazahlungen an Entwicklungsländer als ODA gelten, ohne dass das Endziel von 0,7 Prozent ODA-Anteil entsprechend aufgestockt wird.

Die Krisenreaktion der Industrieländer könnte die Ausgangslage der Entwicklungsländer sogar weiter verschlechtern, befürchtet beispielsweise Martin Khor, der Direktor des Third World Network. Durch Subventionen und protektionistische Klauseln, mit denen Industrieländer derzeit ihre einheimische Wirtschaft stärken, entstehen den entsprechenden Branchen in Entwicklungsländern internationale Wettbewerbsnachteile. Es wäre schon eine Ironie, so Khor, wenn im Gefolge der Finanzkrise unterstützte Banken oder andere Unternehmen in Entwicklungsländern ihren lokalen Konkurrenten Marktanteile abnehmen oder diese gleich ganz übernehmen.


Viele zivilgesellschaftliche Akteure im Süden sehen sich durch die Art der internationalen Krisenbewältigung in ihrer Analyse bestätigt. Die Bewältigung folgt in ihren Augen denselben Mustern wie die vorausgegangenen Krisen selbst und sie hat ähnliche Effekte. Der Einfluss der politisch und wirtschaftlich starken (oder im Fall der Schwellenländer: erstarkenden) Länder und der von ihnen dominierten Institutionen wie G20, OECD, Weltbank, IWF und WTO nimmt zu. Die Einkommensschere öffnet sich weiter. Dringende globale Probleme wie Ernährungssicherung, Energieversorgung und Klimawandel werden gegen besseres Wissen auf die lange Bank geschoben, um Kosten möglichst lange externalisieren und Gewinne maximieren zu können. Der fundamentale Gegensatz zwischen zunehmend kurzfristig und intransparent agierenden Finanzmärkten und einer ebenfalls kurzatmigen und zusätzlich national eingeschränkten Politik einerseits und einer an Nachhaltigkeit und Gerechtigkeit orientierten globalen Bewirtschaftung der gemeinsamen Ressourcen andererseits bleibt bestehen.

Die Aussage eines Teilnehmers an einem NRO-Workshop zur Finanz- und Wirtschaftskrise in Südafrika, der Kapitalismus sei "organisierte Kriminalität", mag eine singuläre Zuspitzung sein. Sie spiegelt aber eine wahrnehmbare Ungeduld hinsichtlich der Lösung andauernder Strukturprobleme, die bei den Krisen der vergangenen Jahre immer wieder zu Tage getreten sind.

Entsprechend gehen die Forderungen zivilgesellschaftlicher Organisationen im Süden meist über eine zielgerichtete Soforthilfe für besonders betroffene arme Bevölkerungsgruppen hinaus. Die Agenda ist dabei - wen kann das verwundern? - nicht neu. Es geht um gerechtere Welthandelsbeziehungen etwa durch den Abbau von Subventionen, um eine dauerhafte Lösung des Schuldenproblems, um die Sicherung der Menschenrechte angesichts liberalisierter Märkte, um wirksame Regeln im Kampf gegen öffentliche Armut und rücksichtslose private Bereicherung, um mehr Transparenz und demokratische Legitimierung nationaler und internationaler politischer Entscheidungsprozesse.

Es geht um "eine neue und vertiefte Reflexion über den Sinn der Wirtschaft und ihrer Ziele", wie sie Johannes PaulII. zum Weltfriedenstag im Jahr 2000 angemahnt hatte. Eine Milliarde hungernder Menschen erinnern uns im Jahr 2010 daran. Noch ist aber nicht ausgemacht, wie sich Krise und Kritik zueinander verhalten: ob die Überwindung der Krise im Zulassen oder in der Abwehr solch grundlegender Fragen gesucht wird.


Der promovierte Theologe Georg Stoll (geb. 1960) arbeitet seit 1998 bei Misereor in der Abteilung Entwicklungspolitik als Referent für Fragen der Entwicklungsfinanzierung sowie der zivilgesellschaftlichen Beteiligung. Seine Schwerpunktthemen sind dabei unter anderen Entschuldung, Good Governance und Steuergerechtigkeit.


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Quelle:
Herder Korrespondenz - Monatshefte für Gesellschaft und Religion,
64. Jahrgang, Heft 01, Januar 2010, S. 39-43
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veröffentlicht im Schattenblick zum 4. Februar 2010