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FINANZEN/019: Das Ende des Finanzmarktkapitalismus (NG/FH)


Neue Gesellschaft/Frankfurter Hefte Nr. 4/2009

Das Ende des Finanzmarktkapitalismus

Von Dierk Hirschel


Manche lernen es nie! Während Kanzlerin Merkel in der BILD-Zeitung Verständnis für den Wunsch aufbringt, "nach der Krise wieder zur Normalität, zu unserem alten Kurs" zurückzukehren, ist den meisten inzwischen klar, dass der gescheiterte Finanzmarktkapitalismus nur durch grundlegende Reformen überwunden werden kann. Der Staat wird zukünftig eine stärkere Rolle spielen. Die Märkte müssen sozial und ökologisch reguliert werden. Darüber hinaus brauchen wir einen stärkeren Mix der Eigentumsformen und ein Mehr an Wirtschaftsdemokratie.


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Die Frankfurter und Münchner Glaspaläste stehen in Flammen. Dem deutschen Bankensystem droht die Kernschmelze. Die Wirtschaft befindet sich im freien Fall. Spätestens im Herbst trifft die Krise mit voller Wucht den Arbeitsmarkt. Dann wird auch dem letzten Optimisten klar werden: Wir durchleben jetzt die schwerste Wirtschafts- und Finanzkrise seit der großen Depression.

Während der staatliche Rettungseinsatz auf Hochtouren läuft, wird über die Brandursachen diskutiert. Das ist gut so. Eine klare Analyse der Krisenursachen ist die Voraussetzung für einen wirksamen Brandschutz in der Zukunft. Es geht aber um mehr. Diese Krise ist keine rein ökonomische Krise. Sie ist auch eine Krise der herrschenden Ideologie und Politik. Die Krise bietet eine historische Chance, einen entfesselten Kapitalismus reformpolitisch zu zivilisieren. Das zukünftige Verhältnis von Markt und Staat steht dabei im Mittelpunkt.

Mit dem Crash von Wallstreet & Co wurde der Mythos sich selbst steuernder Märkte entzaubert. Vermeintlich effiziente Märkte bestanden nicht den Praxistest. Auf den Finanzmärkten gibt es weder vollkommenen Wettbewerb noch verfügen alle über dieselben Informationen. Der Marktmanipulation sind Tür und Tor geöffnet. Finanzmärkte sind zudem durch Herdenverhalten gekennzeichnet: Aus Fehlentscheidungen einzelner institutioneller Anleger entstehen so makroökonomische Fehlentwicklungen. Zudem wirken Finanzmärkte prozyklisch. Im Boom steigen die Vermögenswerte und somit auch das Kreditschöpfungspotenzial. In Erwartung hoher Renditen schwindet das Risikobewusstsein. Eine unzureichende institutionelle und persönliche Haftung fördert die Risikoneigung. So entstehen immer wieder Spekulationsblasen. Dieses eklatante Marktversagen soll nun durch einen neuen und besseren Ordnungsrahmen begrenzt werden. Mit stärkeren Eigenkapitalanforderungen, nachhaltigen Vergütungs- und Anreizsystemen, besseren Frühwarnsystemen, mehr persönlicher Haftung, etc. soll verhindert werden, dass sich die Exzesse der Vergangenheit wiederholen können. Müssen wir jetzt alle zu Ordnungspolitikern werden? Zeigen uns Müller-Armack, von Eucken und Erhard einen Weg aus der Krise? Marktversagen erklärt nur einen Teil der aktuellen Krise. Ein neuer Ordnungsrahmen ist wichtig, löst aber nicht die Krise des kapitalistischen Produktions- und Konsummodells. Die Gewinn- und Vermögenseinkommen sind in den letzten Jahrzehnten weltweit explodiert. Der finanzmarktgetriebene Kapitalismus hat die Renditen auf dem Rücken der abhängig Beschäftigten in astronomische Höhen klettern lassen. Neu ist nicht, dass die kapitalistischen Produktionsverhältnisse Kapitalüberschüsse erzeugen. Neu ist aber die dominante Anlage der Überschüsse als Geldkapital. Das globale Finanzvermögen beläuft sich mit 200 Bio. US-Dollar auf das Mehrfache des Weltsozialproduktes. Diese Entwicklung ist nicht vom Himmel gefallen. Die Politik ebnete den Weg:

Die "unternehmerischen Freiheiten" der Kapitalmarktakteure wurden aktiensteuer- und unternehmensrechtlich erweitert. Die Gewerkschaften wurden durch die politische Deregulierung und Prekarisierung des Arbeitsmarktes geschwächt. Hohe Einkommen und Vermögen wurden steuerlich gepflegt. Die Teilprivatisierung der sozialen Sicherungssysteme und der Daseinsvorsorge erweiterte das Anlagespektrum auf den Finanzmärkten. Die Kehrseite der steigenden Einkommens- und Vermögenskonzentration waren stagnierende Masseneinkommen. Hierzulande stiegen die Realeinkommen der Beschäftigten nicht einmal mehr im Aufschwung. Folglich kam der private Verbrauch nicht mehr vom Fleck. Die USA lösten diese Wachstumsbremse, indem sie den Konsum der unteren und mittleren Einkommensschichten auf Pump organisierten. In Deutschland, Japan und China war die Antwort auf die gedrosselte Binnennachfrage eine aggressive Exportstrategie. Mit der Krise funktioniert aber der kreditfinanzierte US-Staubsauger der Weltmärkte nicht mehr. Folglich müssen die bisherigen Trittbrettfahrer der Weltwirtschaft zukünftig ihre Binnenmärkte entwickeln. Tun sie das nicht, schrumpfen alle.

Ein stärker binnenmarktorientiertes Modell des Wirtschaftens erfordert mehr öffentliche Investitionen und höhere Löhne. Die heimischen Löhne steigen aber nicht im Selbstlauf. Die Entwicklung der Markteinkommen ist keineswegs voraussetzungslos. Die Wirkungsmacht gewerkschaftlicher Tarifpolitik ist nach den arbeitsmarktpolitischen Irrwegen der letzten Jahre geschwächt. Deswegen bedarf es jetzt einer Neuordnung des Arbeitsmarktes. Mit Hilfe eines gesetzlichen Mindestlohns, der staatlichen Förderung regulärer Beschäftigung - bei gleichzeitiger Diskriminierung prekärer Beschäftigung -, der Minderung des Erwerbsarbeitszwangs (Abschaffung der verschärften Zumutbarkeit) kann die Schieflage der Machtverhältnisse auf dem Arbeitsmarkt ausgeglichen werden. Damit wäre der Weg frei für eine dynamischere Lohn- und Konsumentwicklung.


Sozial und ökologisch blind

Die jüngste Entwicklung hat nochmals deutlich gemacht: Entfesselte Märkte sind sozial blind. Es gibt keine soziale Form der Kapitalverwertung. Das Soziale am Kapitalismus wurde ihm stets in verteilungspolitischen Auseinandersetzungen abgerungen. Gewerkschaften und Sozialdemokratie haben sich in diesen Konflikten große historische Verdienste erworben. Diese Erkenntnis muss wieder zum Allgemeingut politischen Handelns werden. Eine Rückbesinnung auf die ordoliberalen Grundlagen der so genannten Sozialen Marktwirtschaft führt hingegen direkt in die Sackgasse. Ein kurzer Blick in den Rückspiegel der Nachkriegsgeschichte verdeutlicht dies: Ludwig Erhard wollte die Gewerkschaften unter das Kartellgesetz stellen. Er hielt die Mitbestimmung für unvereinbar mit dem freien Markt und kämpfte gegen das Montan-Mitbestimmungsgesetz von 1951. Aus Sicht Ludwig Erhards war die Rentenreform 1957 der Anfang vom Ende der Sozialen Marktwirtschaft. Kurzum: Die ordoliberale Vision einer Sozialen Marktwirtschaft ist nicht in Einklang zu bringen mit einer sozial gerechten und ökologischen Reformpolitik.

Eine zentrale politische Herausforderung der Zukunft besteht aber gerade in der umfassenden sozialstaatlichen Regulierung des modernen Kapitalismus. Der Sozialstaat der Zukunft braucht ein ausgewogenes Verhältnis von Flexibilität, sozialer Sicherheit und Qualifizierung. Mindestlohn, Kündigungsschutz und hohe Lohnersatzleistungen sorgen für ein Mindestmaß an Einkommens- und Beschäftigungsstabilität. Die Risiken prekärer Erwerbsverläufe müssen durch Grundsicherungsmodelle abgedeckt werden. Die großen sozialen Sicherungssysteme müssen zu einer Bürger- bzw. Erwerbstätigenversicherung umgebaut werden.

Ein moderner Sozialstaat setzt auf Prävention. Qualifizierung und Weiterbildung müssen an die Stelle des fantasielosen Drucks durch Transferkürzungen und verschärfte Zumutbarkeit treten. Ein moderner Sozialstaat betreibt Beschäftigungspolitik. Die sozialen Dienstleistungen sollten ausgebaut werden. Ein öffentlich geförderter Beschäftigungssektor ist die Alternative zur passiven Finanzierung von Langzeitarbeitslosigkeit. Ein moderner Sozialstaat ist aber auch ein investiver Sozialstaat. Für die Finanzierung des zukünftigen Sozialstaates müssen Gewinn- und Vermögenseinkommen steuerlich stärker herangezogen werden.

Entfesselte Märkte sind nicht nur sozial, sondern auch ökologisch blind. Der Kapitalismus untergräbt gerade seine eigenen Produktionsgrundlagen. Schreitet der Klimawandel fort, dann wird schon bald ein Fünftel des globalen Sozialproduktes verloren gehen. Natürlich kann durch einen ökologisch ausgerichteten Umbau der marktkonformen Anreizsysteme brachliegendes Kapital in regenerative Energien, Ressourceneffizienz, Energiesparmaßnahmen und Effizienztechnologien umgeleitet werden. Das allein reicht aber nicht aus. Zu groß sind die Widerstände der Träger und Profiteure des fossilen Kapitalismus. Hier brauchen wir einen handlungsfähigen Staat, der im Rahmen einer ökologischen Industriepolitik als Entwickler, Innovator, Investor und Nachfrager voranschreitet.


Eigentumsfrage und Wirtschaftsdemokratie

Die aktuelle Krise setzt auch die Eigentumsfrage wieder auf die Tagesordnung. Zunächst nur im Fall notleidender Banken. Hier sollte der Staat aber nicht als reiner Reparaturbetrieb auftreten. Der neue öffentliche Eigentümer muss auch kontrollieren und die Geschäftspolitik beeinflussen. Das Märchen vom Staat als per se schlechtem Unternehmer hat ausgedient. Die bisherige Privatisierungs- und Liberalisierungsbilanz hat nicht überzeugt. Eine billige flächendeckende und hochwertige Versorgung mit öffentlichen Gütern konnte nicht erreicht werden. Von der Entwicklung der Löhne und Arbeitsbedingungen der privatisierten Bereiche ganz zu schweigen. Bei natürlichen Monopolen (Energieversorgung, Bahn) ist ein funktionsfähiger Wettbewerb kaum herstellbar. In welchen Bereichen privates, staatliches, vergesellschaftetes oder genossenschaftliches Eigentum die höchste ökonomische und soziale Effizienz bringt, muss wieder neu diskutiert und entschieden werden.

Ein zukünftig stärkerer Staat erfordert aber auch eine weitergehende Demokratisierung der Gesellschaft. Jetzt ist der Zeitpunkt, um an die starke wirtschaftsdemokratische Tradition der deutschen Gewerkschaften anzuknüpfen und diese konzeptionell weiter zu entwickeln. Mehr Wirtschaftsdemokratie bedeutet dann ein Mehr an betrieblicher und überbetrieblicher Mitbestimmung, eine demokratische Selbstverwaltung der Wirtschaft, ebenso wie plurale Eigentumsformen, eine bessere Regulierung und makroökonomische Steuerung.

Diese historische Krise ist eine historische Chance für eine soziale und ökologische Reformpolitik. Wie solch eine reformierte Gesellschaft sich langfristig entwickelt und welche Rolle die Profitlogik in ihr spielen wird, ist ein offener Prozess, auf den es sich lohnt sich einzulassen.


Dierk Hirschel (* 1970) ist seit 2003 DGB-Chefökonom.
dierk.hirschel@dgb.de


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Quelle:
Neue Gesellschaft/Frankfurter Hefte Nr. 4/2009, S. 40-42
Herausgegeben für die Friedrich-Ebert-Stiftung von Anke Fuchs,
Siegmar Gabriel, Klaus Harpprecht, Jürgen Kocka und Thomas Meyer
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veröffentlicht im Schattenblick zum 15. Juli 2009