Schattenblick →INFOPOOL →POLITIK → WIRTSCHAFT

FINANZEN/090: Neue Regeln für Derivate (spektrum - Uni Bayreuth)


spektrum 1/2010 - Universität Bayreuth

WEGE AUS DER KRISE
Neue Regeln für Derivate
Kontrollbedarf erzwingt Zentralisierung und Standardisierung des außerbörslichen Handels

Von Klaus Schäfer


Mit der internationalen Finanzkrise sitzen auch komplexe Finanzinnovationen wie Optionen, Futures und Swaps wieder auf der Anklagebank. Als "Krisenverursacher" oder sogar als "finanzielle Massenvernichtungswaffen" tituliert sollen die Instrumente und Märkte strikt reguliert, bestimmte Handlungspraktiken gar gänzlich verboten werden. Um ein robustes System zu entwickeln, bedarf es der genauen Abwägung von Nutzen und Risiken derivativer Finanzmarktinstrumente.


Die internationale Finanzkrise hat vielfaches Versagen und Schwächen an den derivativen Märkten aufgedeckt. Schwer abschätzbare Risiken im außerbörslichen Handel mit Derivaten haben zu einer Atmosphäre der Unsicherheit und zu einem Verlust an Vertrauen geführt, die den Nutzen von Derivaten in den Hintergrund rücken lässt. Optionen, Futures und Swaps bieten den Marktteilnehmern aber erweiterte Möglichkeiten zur Transformation von Risiken, die Separation einzelner Risikobestandteile und damit die Marktfähigkeit präzise eingegrenzter finanzwirtschaftlicher Risiken. Insbesondere die Zerlegung der Preisrisiken von Finanztiteln in Teilkomponenten und deren selektive Übernahme und Abgabe erlauben eine breitere Streuung der Risiken auf Wirtschaftssubjekte mit unterschiedlicher Risikogrundausstattung, unterschiedlicher Risikotragfähigkeit und unterschiedlichem Informationsstand. Die Möglichkeiten der Risikotransformation sind mit einem vergleichsweise geringen Kapitaleinsatz realisierbar. Die gesamtwirtschaftlichen Wohlfahrtszuwächse zeigen sich in einer Vervollkommnung des Kapitalmarktes, einem höheren Vollständigkeitsgrad des Kapitalmarktes sowie in einer Verbesserung der Informationslage.


Marktüberblick

Die Statistiken der Zentralbanken und der Baseler Bank für Internationalen Zahlungsausgleich (BIZ) geben einen Einblick in die Handelsvolumina an den derivativen Märkten. Gemessen in absoluten Werten ist deren Größe enorm. Der Börsenhandel in Derivaten hat sich in den vergangenen Jahren mehr als verdreifacht und umfasst Mitte 2009 ein Nominalvolumen von über 60 Billionen US-Dollar. Weitaus größer sind die außerbörslichen (Over The Counter OTC-) Märkte, die rasant von 80 Billionen US-Dollar im Jahr 1998 auf über 600 Billionen US-Dollar Nominalvolumen im Jahr 2009 gewachsen sind (Abbildung 1). Der schiere Umfang dieser ausstehenden Volumina und eine geringere Transparenz der außerbörslichen Strukturen besorgen die Marktteilnehmer zunehmend.

Ende Dezember 2008 ging erstmals seit dem Beginn der Erhebung dieser Zahlen der Nominalwert ausstehender außerbörslicher Derivate zurück, da etliche Marktteilnehmer als Reaktion auf die Finanzmarktturbulenzen ihre Positionen zurückgefahren haben. Mittlerweile hat sich aber der Markt wieder etwas beruhigt, wie die jüngsten Statistiken der BIZ vom März 2010 zu den Ende Juni 2009 bestehenden Positionen an den weltweiten Märkten zeigen. Der Nominalwert beträgt über alle Kategorien 604,6 Billionen US-Dollar, liegt also wieder über dem Niveau von 2007. Die hohen Nominalvolumina spiegeln allerdings nur die relative Bedeutung der Gruppen für die Märkte, nicht aber zwingend deren Risikogehalt wider. Mit derivativen Transaktionen verbundene Adressenausfallrisiken (Ausfall des Kontraktpartners) bestehen nicht in Höhe des Nominalkapitals, sondern vielmehr in Höhe des Aufwands, der für eine Wiederbeschaffung des Geschäfts angesetzt werden muss. Der Marktwert als Wiederbeschaffungswert ist deutlich geringer. Die Ende 2008 deutlich gestiegenen Marktwerte gerade bei den Kreditderivaten (Credit Default Swaps CDS) unterstreichen die zumindest zwischenzeitlich hohe Bewertung des Ausfallrisikos.

Zu beachten ist weiter, dass zur Beurteilung der Größe und Relevanz der Märkte neben den Bruttogrößen die Nettorisikopositionen der Marktteilnehmer heranzuziehen sind. Diese werden seit Oktober 2008 von der Depository Trust & Clearing Corporation DTCC veröffentlicht. Nach den Zahlen der DTCC betragen beispielsweise die CDS-Nettorisikopositionen des Finanzsektors nur etwa ein Zehntel der ausstehenden Volumina, da ein Großteil der abgeschlossenen Geschäfte lediglich Durchgangsposten sind.


Transparenz gefordert

Dem außerbörslichen Derivatemarkt wird eine ausgesprochene Intransparenz unterstellt. Die Aufarbeitung des Zusammenbruchs der Investmentbank Lehman Brothers zeigt, wie ein asymmetrischer Informationsstand zu übertriebenen Marktreaktionen führen kann (vgl. im Folgenden Deutsche Bank Research, Aktuelle Themen 477 vom 8. März 2010). Als die Investmentbank Lehman Brothers am 15. September 2008 Insolvenz anmelden musste, gab es große Unsicherheit bezüglich der Höhe ausstehender Risiken und der Frage, welche Institute betroffen wären. So konnte das auf Lehman Brothers als Referenzschuldner lautende Volumen in Kreditderivaten nur sehr grob auf eine Bandbreite von 100 bis 600 Milliarden US-Dollar geschätzt werden. Eine zusätzliche Verunsicherung bestand darin, dass Lehman Brothers nicht nur als Referenzeinheit diente, sondern auch einer der großen, aktiven Händler war. Nach einer Bestandsaufnahme wurde offenbar, dass die tatsächlich ausstehenden Volumina überschätzt worden waren, "lediglich" 72 Milliarden US-Dollar in Kreditderivaten ausstanden und die offenen Risikopositionen bei 5,2 Milliarden US-Dollar lagen.

Besonderes Gewicht kommt der starken Konzentration des Derivatehandels auf große Marktteilnehmer zu, die das oben geäußerte Argument einer besseren, breiteren Streuung von Risiken abschwächt (siehe Tabelle unten). Gehören Institutionen - Hedge Funds, Versicherungen, Zweckgesellschaften - darüberhinaus eher einem sogenannten "Schattenbankensystem" an und entziehen sich deshalb strenger auf Banken fokussierter Regeln, so bleiben die aus den starken Konzentrationen resultierenden Adressenausfallrisiken lange Zeit unentdeckt. Die Gefahr für die Stabilität der Finanzmärkte ist offensichtlich, wenn die finanzielle Situation eines Kontrahenten verschleiert wird. Gerade die kostspielige Rettung des Versicherers American International Group (AIG) hat das staatliche Bedürfnis nach einer stärkeren Kontrolle des Derivatehandels mit ausgelöst.


Top 5 Händler in Credit Default Swaps zum 31. März 2009; Daten der EZB





 Bruttonominalwert;
Gesamt in Milliarden
     US-Dollar


    Davon
Kaufposition


     Davon
Verkaufsposition
J.P. Morgan
7.502       
3.834   
3.668     
Coldman Sachs
6.600       
3.430   
3.170     
Morgan Stanley
6.293       
3.200   
3.093     
Deutsche Bank
6.191       
-     
-       
Barclays
6.033       
-     
-       

Tabelle: Konzentration am Markt für Kreditderivate.



Zentralisierter Handel

Ein verpflichtendes zentralisiertes Clearing außerbörslicher derivativer Geschäfte soll die identifizierten Risiken für die Finanzmarktstabilität reduzieren. Dabei agiert eine zentrale Gegenpartei (Central Clearing Counterparty CCP) ähnlich wie die an den Terminbörsen weltweit seit langem etablierte Clearingstelle. Sie führt die Abwicklung und Besicherung der abgeschlossenen Geschäfte durch. Kommt ein Geschäft zustande, so stellt sich die Clearingstelle als Kontrahent zwischen beide Vertragspartner, sie wird also für jeden Verkäufer zum Käufer und für jeden Käufer zum Verkäufer. Das Kontrahentenrisiko wird damit von den jeweiligen Gegenparteien auf die CCP übertragen.

Die Clearingstelle garantiert Geschäfte nur für ihre Mitglieder, die das Clearing für ihre eigenen Transaktionen und für die Transaktionen ihrer Kunden abwickeln. Nichtmitgliedern bleibt damit zwar der direkte Zugang zum Clearing verwehrt, sie können jedoch durch den indirekten Handel über die Clearingmitglieder weiter in den Instrumenten aktiv bleiben.

Die Erfüllung der offenen Positionen durch die CCP wird vor allem dadurch gewährleistet, dass die Mitglieder für das Eingehen und Halten einer Position Sicherheitsleistungen hinterlegen müssen. Die CCP berechnet diese auf Basis eines Systems, bei dem täglich der aktuelle Marktwert mit den potenziellen Marktwerten der Position verglichen wird. Zielsetzung des Marginsystems ist die Schätzung, wieviel im ungünstigsten Fall die Glattstellung einer Position am nächsten Tag kosten würde. Dieses prozyklische Element einer CCP verstärkt etwaige Markttrends und kann unter Umständen eine Gefahr für die Marktstabilität beinhalten. Die laufenden Kosten einer CCP werden durch Transaktionsgebühren sowie Beiträge der Mitglieder getragen. Puffer für Risiken auf Ebene der zentralen Gegenpartei sind neben den Marginzahlungen ein zusätzlicher Sicherheitenfonds, der durch Umlagen aller Mitglieder gespeist wird. Reichen diese Puffer nicht aus, so besteht üblicherweise eine Regelung, die die Mitglieder zu Nachschussleistungen verpflichtet. Es ist zu erwarten, dass die Clearingmitglieder die Kosten an ihre Kunden weiterreichen. Damit werden die auch von Nichtfinanzunternehmen genutzten Geschäfte zur Absicherung gegen Zins-, Währungs- und Rohstoffpreisrisiken teurer.

Offensichtlich verschwinden alleine durch die Etablierung einer CCP Kontrahentenrisiken nicht, sondern werden lediglich unter den Mitgliedern neu verteilt. Diese Verteilung könnte aber effizienter sein als in ausschließlich bilateral geschlossenen Verträgen. Dazu muss es aber der zentralen Gegenpartei gelingen, ein besseres Risikomanagement der oft komplex strukturierten Derivate und eine genaue Bepreisung der hohen Abwicklungs- und Erfüllungsrisiken zu etablieren. Die Anforderungen an das Management von Risiken und die risikoadäquate Bepreisung von Derivaten sind jedoch ausgesprochen hoch. So ist nicht nur das Risiko der eingegangenen Position zu bestimmen, sondern darüberhinaus auch ein Monitoring der Qualität der Gegenpartei zu betreiben. Dieses Monitoring sollte Qualitäts- und Verhaltensunsicherheiten reduzieren. Durch den Wechsel auf eine CCP erfolgt im Rahmen des Margining eine Konzentration auf das Positionsrisiko. Die täglich zu stellenden Sicherheiten berechnen sich meist aus den Risikokomponenten des Kontrakts. Das Insolvenzrisiko der Kontraktpartei kann zwar indirekt erfasst werden über risikoabhängige Mitgliedsbeiträge bzw. variable Prämieneinlagen zum Sicherheitenpool. Der direkte Anreiz zum Monitoring durch die Marktteilnehmer entfällt allerdings.


Fragen

Die Einschaltung eines zentralen Kontrahenten macht die im Markt befindlichen Risiken insofern transparenter, als Informationen über Volumina, Marktwerte und Marktteilnehmer täglich zur Verfügung stehen. Das Konzept des zentralen Clearings mag deshalb einigen Charme haben, eine Clearingstelle schafft jedoch kein Vertrauen aus sich selbst heraus. Die gewünschte fortschreitende Zentralisierung wird zwangsläufig mit einer Standardisierung bei außerbörslichen Derivaten einhergehen müssen. Nur eine stärkere Standardisierung reduziert die Informationsasymmetrien zwischen Clearingstelle und Mitgliedern hinreichend, um dem zentralen Kontrahenten die Entwicklung eines geeigneten Risikomanagementsystems zu ermöglichen. Abzuwägen sind Kosten und Nutzen einer stärkeren Standardisierung zu Lasten der Innovationskraft an den Finanzmärkten.

Es konkurrieren mittlerweile mehrere CCP-Plattformen in Europa und den USA um diesen neuentstandenen Markt. In der Frage nach der richtigen Ausgestaltung einer zentralen Verrechnung wird insbesondere die Diskussion spannend sein, wie es zukünftig um das systemische Risiko bestellt sein wird, denn es muss sichergestellt werden, dass der Ausfall eines Clearingmitglieds nicht die Existenz der zentralen Gegenpartei bzw. des gesamten Marktes bedroht.

In der Öffentlichkeit wird der Eindruck vermittelt, dass der Handel in Derivaten eine Quelle für Marktverzerrungen und manipulative Spekulationen ist. Übertriebene Preisbewegungen sollten aber unmittelbar Arbitragereaktionen in die entgegengesetzte Richtung auslösen, um Preise wieder hin auf ihr fundamentales Niveau zu führen. Dieses Ideal des informationseffizienten Marktes funktioniert allerdings nur auf Märkten mit einer starken Infrastruktur. Je geringer der Grad an Vollkommenheit und Vollständigkeit des Marktes ist, desto größer ist das Potenzial an Fehlanreizen und Manipulationsmöglichkeiten. So ist bei Kreditderivaten das ausstehende Volumen in vereinzelten Kontrakten in der Vergangenheit größer gewesen als das Volumen der am Markt gehandelten Anleihen. Kommt es dann zum Ausfall des Referenzschuldners, so muss sich der Derivatekäufer mit den knappen Anleihen eindecken und der Nachfrageüberhang kann zu starken Preisverzerrungen führen (Short Squeeze). Mit der Angst vor Unternehmensinsolvenzen und Staatsbankrotten bekommt schließlich auch die Diskussion um opportunistische Darlehensgeber, die von einer Schuldnerinsolvenz profitieren wollen, neue Nahrung (Empty Creditors).

Die Finanzkrise bietet mit der ökonomischen Wertung der vielfältigen Neu- und Reregulierungen ein spannendes Arbeitsgebiet, das weit über die derivativen Märkte hinaus reicht. Das Forum Finance & Accounting des 2. Bayreuther Ökonomie- und Alumnikongresses am 20. Mai 2010 widmet sich diesem Thema und stellt seine Diskussion unter die Überschrift "Neue Regeln für Kapitalmärkte".

Prof. Dr. Klaus Schäfer ist Inhaber des Lehrstuhls Betriebswirtschaftslehre I/ Finanzwirtschaft und Bankbetriebslehre.


Literatur zum Thema:
Rudolph/Schäfer,
Derivative Finanzmarktinstrumente
2. Auflage, Springer-Verlag: Berlin et al. 2010


*


Quelle:
spektrum 1/2010, S. 6-8
Herausgeber: Der Präsident der Universität Bayreuth
Redaktion: Pressestelle der Universität Bayreuth, 95440 Bayreuth
Tel.: 09 21/55-53 23, -53 24, Fax: 09 21/55-53 25
E-Mail: pressestelle@uni-bayreuth.de
Internet: www.uni-bayreuth.de

"spektrum" erscheint dreimal jährlich.


veröffentlicht im Schattenblick zum 20. Juli 2010