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FORSCHUNG/710: Vom Mehrwert des Mehrwissens - Zwölf Thesen für eine Ökonomie des 21. Jahrhunderts (idw)


Private Universität Witten/Herdecke gGmbH - 27.01.2011

Vom Mehrwert des Mehrwissens

Ökonom Birger Priddat und Student Philip Kovce formulieren zwölf Thesen für eine Ökonomie des 21. Jahrhunderts


"Nach der Krise ist vor der Krise", sagt Prof. Dr. Birger P. Priddat, Ökonom und Philosoph an der Universität Witten/Herdecke. Darum hat er mit dem Studenten Philip Kovce in der aktuellen Ausgabe der GAZETTE ein Thesenpapier veröffentlicht, in dem es um die Zukunftsfähigkeit der Wirtschaftswissenschaft geht: "Alle ökonomischen Theorien gehen meistens von vernünftig handelnden und umfassend informierten Marktteilnehmern aus. Das taugt doch nicht einmal als Zielorientierung, als abstrakte Idee!", polemisiert Priddat. Für ihn handeln Menschen nicht immer nach den Maßstäben der ökonomischen Vernunft: "Gott sei Dank gibt es auch noch so etwas wie Nächstenliebe, Mitgefühl, gesellschaftliche Verpflichtungen - egal wie man es nennen mag - das als Motiv ein Handeln auslöst, das oft genug nicht nur die eigenen Interessen fokussiert. Oder würden sich Bürger ehrenamtlich engagieren, wenn sie ihr Tun bloß als Zeitverschwendung und nicht als sinn- und gemeinsinnstiftende Tätigkeit begreifen könnten?"

Diese grundlegenden Schwächen in den Voraussetzungen der Ökonomie diskutieren Priddat und Kovce in zwölf Thesen, in denen sie zugleich einen Ausblick auf eine Ökonomie für das 21. Jahrhundert wagen:


1. Wirtschaftswissenschaft ist, wenn sie an überholten menschlichen Verhaltensannahmen festhält, keine Wissenschaft, sondern reine Spekulation.

2. Soziologie, Psychologie, Neurowissenschaften, Religion, Geschichte und vieles andere mehr gehören in die Wirtschaftswissenschaft integriert, um menschliches Handeln überhaupt zu verstehen - geschweige denn vorhersagen zu können.

3. Philosophie gehört nicht nur mit ihren ethischen, sondern auch mit ihren erkenntnistheoretischen Kompetenzen zur Grundvoraussetzung einer reflexiven Wirtschaftswissenschaft.

4. Es gibt trotz aller gegenteiligen Beteuerungen keine
politikneutrale Wirtschaftswissenschaft.

5. Politik funktioniert ebenfalls nicht ausschließlich rational - das müssen Ökonomen viel mehr berücksichtigen.

6. Die Ökonomie ist nur eine Disziplin neben z.B. Politik, Biologie, Mathematik oder Gesellschaft - von den anderen Fächern kann die Ökonomie freilich einiges lernen.

7. Ökonomische Prognosen sind schwierig, besonders, wenn sie die Zukunft betreffen. Wird dies genügend gewürdigt? Oder welche Grundannahmen stecken in den Algorithmen, die Börsenkurse und Optionshandel lenken? Wer ist wem dabei ausgeliefert?

8. Ungleiche Informationsverteilung, Gerüchte, gar gezielt gestreute, Einfluss anderer Meinungen und Erfahrungen auf die Kaufentscheidungen - es fehlt der Ökonomie eine Theorie der Kommunikation der Märkte, der Waren und der Bedeutungen.

9. Preise und Mengen sind nur eine Seite des Warensystems - sozialer Status, den die Waren verleihen, das Gefühl, fair behandelt zu werden, die andere. Wirtschaftliche Handlungen haben ein soziales Umfeld, das die Ökonomie mehr zu beachten hat.

10. Normen und Werte prägen die Wirtschaft mehr als sie wahrhaben will: Von Fair-Trade-Bewegungen bis zu Gesetzen reicht die Wirkung dieser Gedanken, die es für Ökonomen ebenfalls zu analysieren gilt.

11. Da sich weder Wirtschaft noch Politik noch Gesellschaft dirigistisch steuern, sondern nur beeinflussen lassen, wird eine zukunftsfähige Ökonomie im Verbund mit anderen Disziplinen um ein Verständnis der komplexen sozialen Prozesse ringen müssen.

12. Studium, Lehre und Forschung müssen sich grundsätzlich neu ausrichten. Ökonomie wird nur noch zusammen mit anderen Fächern zu studieren sein; dabei wird man von Wissensvermittlung auf Verstehen, Urteilen und Interpretieren als auszubildende Fähigkeiten umschalten. Zudem wird nicht einfach zwischen Lehre als kodifiziertem Standard und Forschung als agiler Theoriendynamik getrennt werden können; Studenten müssen vielmehr von Beginn an - auch in der Lehre - in Forschungsvorhaben mit einbezogen werden.

Für Priddat ist klar, dass der Wirtschaftswissenschaft ein grundlegender Richtungswechsel bevorsteht: "Nobelpreise wurden für intelligente Finanzderivate vergeben. Die Frage ist doch längst: Welche Illusionen hat die Ökonomie genährt?" Das unterstreicht Kovce ebenfalls, wenn er beteuert: "Die Lösungen von gestern sind - das wissen alle - die Probleme von heute. Nur: Wer zieht daraus Konsequenzen?" Das zu tun, dazu rufen Priddat und Kovce mit ihren zwölft Thesen auf.

Der Artikel ist vollständig nachzulesen unter:
http://www.gazette.de/Archiv2/Gazette28/Kovce-Priddat.pdf

Kontaktdaten zum Absender der Pressemitteilung unter:
http://idw-online.de/pages/de/institution226


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Quelle:
Informationsdienst Wissenschaft e. V. - idw - Pressemitteilung
Private Universität Witten/Herdecke gGmbH, Kay Gropp, 27.01.2011
WWW: http://idw-online.de
E-Mail: service@idw-online.de


veröffentlicht im Schattenblick zum 1. Februar 2011