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GEWERKSCHAFT/526: Eine Geschichte von Klassenkämpfen (Sozialismus)


Sozialismus Heft 9/2011

Eine Geschichte von Klassenkämpfen
Wandel des Kapitalismus und die Kämpfe der Arbeiterbewegung

Von Frank Deppe


»... die Gewerkschaft muss politischer werden. Auf jeden Fall politischer und radikaler. Damit wir wieder mehr Gewicht haben...« Dieses Statement wirft ein Schlaglicht auf die Anforderungen von Aufklärung und Deutung in der gegenwärtigen Großen Krise. Mit der »historischen Mission der Arbeiterklasse« ist es nicht mehr getan, wie der Blick auf die Veränderungen von Klassenkampfkonstellationen anschaulich zeigt.


Im Verlauf der großen Krise verkündet der herrschende Block - insbesondere in Deutschland -, dass es mit der Wirtschaft schon wieder aufwärts geht. Und die Regierung sorgt dafür, dass die Lage am Arbeitsmarkt unter Kontrolle bleibt: in der Krise durch massive Arbeitszeitverkürzung, danach durch nicht minder massiven Druck auf die Arbeitslosen (Hartz IV) - und über sie auf die Beschäftigten. Ist die Krise damit »ausgestanden«? Es gibt pessimistische (oder vielleicht auch realistische) Stimmen, die angesichts der hektischen Aktivitäten auf den internationalen Devisen- und Finanzmärkten, der globalen ökonomischen Ungleichgewichte, der hohen und in vielen Ländern stark gestiegenen Arbeitslosigkeit und des Umschaltens von Antikrisen- auf Austeritätspolitik - also angesichts der ungelösten Krisenpotenziale des weltweiten Kapitalismus - keine Entwarnung geben und vor den Folgen einer Staats- und Gesellschaftskrise warnen.

Darin stecken erhebliche Risiken. Vor und in der Krise haben sich die politischen Kräfte- und Machtverhältnisse in Europa weiter nach rechts verschoben. Die Kritik und der praktisch-politische Widerstand gegen diejenigen, die für die Krise verantwortlich sind, sowie der Kampf um politische, gesellschaftliche und wirtschaftliche Alternativen jenseits des Finanzmarktkapitalismus sind zwar bis heute in verschiedenen Formen präsent, aber viel zu schwach, um einen Politikwechsel in Deutschland und Europa herbeizuführen. Angst (vor sozialem Anstieg) und Hoffnung (auf baldige Überwindung der Krise) sind wesentlich stärker als die Bereitschaft zu kollektiver Gegenwehr. Für diese Grundstimmung hat der Soziologe Richard Sennett lange vor der neuen Weltwirtschaftskrise den Begriff der »Passivitätskrise« geprägt (Solty 2006). Politisch gewendet hat das der Finanzinvestor Warren Buffet bereits 2003 nach dem Zusammenbruch der New Economy-Spekulation in einem Interview mit CNN auf den Punkt gebracht: »Wenn Klassenkampf in Amerika geführt wird, gewinnt meine Klasse.« Dagegen »existiert gegenwärtig kein politisches Klassenprojekt 'von unten', das die verbreiteten Unsicherheitserfahrungen bündeln könnte. Es mangelt an einem 'intellektuellen Bezugssystem', mittels dessen sich verletztes Gerechtigkeitsempfinden politisch synchronisieren ließe. An der Oberfläche bleibt daher alles ruhig. Die Beschäftigten scheinen zufrieden. In Wirklichkeit sind sie ausgebrannt und erschöpft.« (Dörre 2010: 114f.)


Prognosen und Fehlprognosen

Diese Zeitdiagnose wirft Grundsatzfragen auf. Sie führt historisch mehr als 160 Jahre zurück zum Manifest der Kommunistischen Partei, das Karl Marx und Friedrich Engels Ende 1847/Anfang 1848 am Vorabend der europäischen Revolutionen des Jahres 1848 verfasst haben. Die ersten Sätze lauten: »Die Geschichte aller bisherigen Gesellschaft ist die Geschichte von Klassenkämpfen. Freier und Sklave, Patrizier und Plebejer, Baron und Leibeigener, Zunftbürger und Gesell, kurz, Unterdrücker und Unterdrückte standen in stetem Gegensatz zueinander, führten einen ununterbrochenen, bald versteckten, bald offenen Kampf, einen Kampf, der jedes Mal mit einer revolutionären Umgestaltung der ganzen Gesellschaft endete oder mit dem gemeinsamen Untergang der kämpfenden Klassen.« (MEW 4: 462)

1998, als das Manifest 150 Jahre alt geworden war, wurde - so berichtete Eric Hobsbawm - in einer Buchhandlung an der New Yorker Wall Street eine Neuausgabe mit dem Hinweis beworben, dass dieses Buch wie kein anderes sehr früh und sehr klar den »revolutionären«, die ganze Welt umwälzenden Charakter des Kapitalismus begriffen habe. Die »durchschlagende Kraft« des Manifest resultiert so erstens aus dem »visionäre(n) Weitblick schon am Anfang des Siegeszugs des Kapitalismus, dass diese Produktionsweise nicht dauerhaft, stabil, 'das Ende der Geschichte' sein würde... Das zweite ist seine Einsicht in die unvermeintlichen langfristigen historischen Tendenzen der kapitalistischen Entwicklung.« (Hobsbawm 1998: 19)

Damit stellt sich das Problem der »Geschichte von Klassenkämpfen« nur umso schärfer. Hobsbawm grenzt es folgendermaßen ein: »Das Problem liegt nicht in Marx' und Engels' Vision eines Kapitalismus, der die meisten Menschen ... zwangsläufig in Männer und Frauen verwandelt, die zur Sicherung ihres Lebensunterhalts darauf angewiesen sind, als Lohn- und Gehaltsempfänger eine Anstellung zu finden. Eine solche Entwicklung ist zweifellos eingetreten.« (ebd. 21) Es liegt auch nicht darin, dass »der Sturz des Kapitalismus, wie er vom Manifest vorhergesagt wurde, nicht auf der vorausgehenden Umwandlung der Mehrheit der arbeitenden Bevölkerung in Proletarier« gründet (ebd.). Falsch war schließlich auch nicht »die Prognose des Manifests von der zentralen Rolle der politischen Bewegungen, die sich auf die Arbeiterklasse stützen ... Falsch ist vielmehr die Behauptung: 'Von allen Klassen, welche heutzutage der Bourgeoisie gegenüberstehen, ist nur das Proletariat eine wirklich revolutionäre Klasse', deren unvermeidliches Geschick, in der Natur und Entwicklung des Kapitalismus bereits angelegt, Marx und Engels zufolge darin bestehen sollte, die Bourgeoisie zu stürzen: 'Ihr Untergang und der Sieg des Proletariats sind gleich unvermeidlich.'« (ebd. 22)

Wären wir damit - nach einem langen historischen Bogen - bei der Zeitdiagnose der »ausgebrannten« und »erschöpften« Klasse? Ich will versuchen, dieser Fragestellung so nachzugehen, dass ich zuerst auf den Begriff der Klassen und des Klassenkampfes bei Marx eingehe. Danach soll diskutiert werden, ob und inwieweit sich die Theorie der Klassen und des Klassenkampfes für den Begriff der Entwicklungsgeschichte des Kapitalismus »bewährt« hat oder aber definitiv »überholt« ist. Das führt unvermeidlich zu der Frage, ob die Klassenanalyse etwas taugt für die Analyse der gegenwärtigen Krise und für die Herausforderungen, mit denen die politische Linke und insbesondere die Gewerkschaften konfrontiert sind.


Von der Entdeckung sozialer Ungleichheit zum modernen politischen Feld des Klassenkampfs

Klassenanalysen sind - von ihrer Entstehung her betrachtet - verbunden mit der Kritik sozialer Ungleichheit, der Spaltung der Gesellschaft in arm und reich und der mit den Eigentumsverhältnissen verbundenen gesellschaftlichen und politischen Machtverhältnisse, die vor allem über den Staat organisiert werden. Schon in der Frühgeschichte der bürgerlich-kapitalistischen Gesellschaft gibt es zahlreiche Dokumente, die diese Widersprüche konstatieren und geißeln. Ich erinnere nur an die Utopia des Thomas Morus (1513: 151), in der es am Schluss heißt:

»Wenn ich daher alle unsere Staaten, die heute nirgendwo in Blüte stehen, im Geiste betrachte, und darüber nachsinne, so stoße ich auf nichts anderes, so wahr mir Gott helfe, als auf eine Art Verschwörung der Reichen, die den Namen und Rechtstitel des Staates missbrauchen, um für ihren eigenen Vorteil zu sorgen. Sie sinnen und hecken sich alle möglichen Methoden und Kunstgriffe aus, zunächst um ihren Besitz, den sie mit verwerflichen Mitteln zusammengerafft haben, ohne Verlustgefahr festzuhalten, sodann um die Mühe und Arbeit der Armen so billig als möglich sich zu erkaufen und zu missbrauchen. Haben die Reichen erst einmal im Namen des Staates, das heißt also auch der Armen, den Beschluss gefasst, ihre Machenschaften durchzuführen, so erhalten diese sogleich Gesetzeskraft.«

Ein weiteres Dokument, das von Soziologen oftmals als Ausgangspunkt der modernen Analyse der sozialen Ungleichheit und der Klassenverhältnisse der modernen Gesellschaft bezeichnet wird, stammt von dem französischen Philosophen Jean-Jacques Rousseau aus dem 18. Jahrhundert. In seinem Diskurs über die Ursprünge der Ungleichheit zwischen den Menschen (1960: 66) schrieb er: »Der erste, der sein Stück Land mit einem Zaun umgab und sagte: Das ist mein Eigentum, und der genügend Menschen fand, die ihm glaubten, war der wahre Begründer der bürgerlichen Gesellschaft«. Und er fügte hinzu: »Wie viele Verbrechen, Kriege, Unglück und Schrecken wären dem Menschengeschlecht erspart geblieben, wenn es einen gegeben hätte, der erfolgreich gerufen hätte: 'Hütet euch, diesem Betrüger Glauben zu schenken!' Konkurrenz und Rivalität auf der einen, Interessengegensätze auf der anderen Seite; und immer das verdeckte Bestreben, seinen Gewinn auf Kosten anderer zu machen: alle diese Übel sind Folgen des Privateigentums und untrennbare Merkmale der damit entstehenden Ungleichheit.« In der berühmten Schrift über den »Gesellschaftsvertrag« (1960: 236) schrieb Rousseau einige Jahre später: »Der Mensch ist frei geboren, und überall liegt er in Ketten« - womit er nicht nur die politische Unterdrückung, sondern auch Armut und kulturelle Unterdrückung meinte. So lag es auf der Hand, dass sich die radikalen Jakobiner in der französischen Revolution nach 1789 (Robespierre, Saint-Just, Danton) als Schüler von Rousseau begriffen.

Marx und Engels haben - wie diese exemplarischen Dokumente zeigen - weder die Klassen noch den Klassenkampf erfunden. Ihre Leistung besteht darin, die Klassen nicht von den Verteilungsverhältnissen (arm/reich), sondern aus den Produktionsverhältnissen (der Produktion und Aneignung von Mehrwert) abgeleitet und damit die wechselseitige Abhängigkeit der Hauptklassen der bürgerlich-kapitalistischen Gesellschaft (Bourgeoisie und Proletariat) herausgearbeitet zu haben. Dieses soziale Grundverhältnis, das dem Kapital als einem »sozialen Verhältnis« eingeschrieben ist, strukturiert (»in letzter Instanz«, wie der alte Engels betonte, um sich gegen deterministische, reduktionistische Vorstellungen abzugrenzen) die gesellschaftlichen, kulturellen und politischen Herrschaftsverhältnisse - als ein System ungleicher, asymmetrischer Machtbeziehungen. Aus dem Profitinteresse auf der einen und den Reproduktionsinteressen der Arbeitskraft auf der anderen Seite entstehen notwendig Konflikte systemischen Charakters, die gleichwohl ganz unterschiedliche Formen annehmen können und auf verschiedenen Feldern virulent sind: Wirtschaft - Zivilgesellschaft - Politik - Ideologie. Ferner ist der Marxsche Klassenbegriff historisch und höchst dynamisch - dem liegt die rastlose Dynamik der Kapitalakkumulation (zeitlich wie räumlich) zugrunde. In dem Maße, wie die Akkumulation des Kapitals die Produktivkräfte vorantreibt, bestimmt sie nicht nur den Umfang der Klasse der LohnarbeiterInnen, sondern auch deren innere Zusammensetzung und damit das Verhältnis der Klassenfraktionen zueinander. Dabei spielen dann auch die Klassenkämpfe und das Kräfteverhältnis der Klassen eine entscheidende Rolle. Denn die Kämpfe - so glaubten Marx und Engels - haben eine progressiv-revolutionäre Tendenz und zwingen den herrschenden Block zu Gegen- oder Anpassungsmaßnahmen, die dem Klassenkonflikt seine revolutionäre Schärfe nehmen oder ihn unterdrücken sollen.

Analyse politischer Kräfteverhältnisse heißt Einschätzung des Grades an Homogenität, Selbstbewusstsein und Organisation der verschiedenen gesellschaftlichen Gruppen.

Schon bei Marx gibt es viele offene Fragen: Er hat bekanntlich die Klassentheorie nicht ausformuliert, schon gar nicht zu einer politischen Theorie des Klassenhandelns und der Klassenorganisation. In den vergangenen 160 Jahren gab es viele (wissenschaftliche und politische) Debatten über die ungeklärten Beziehungen zwischen Klassenstruktur und Klassenhandeln, über die angebliche Verelendungstheorie bei Marx und schließlich auch über den »revolutionären Optimismus« der Begründer der Kritik der Politischen Ökonomie und die »geschichtsphilosophische Aufladung« des Klassenkonzepts (»historische Mission der Arbeiterklasse«). Die Beziehungen zwischen Klasse und Geschlecht, aber auch die Bedeutung von Faktoren wie Nationalismus, Rassismus usw. wurden von den »Klassikern« unterschätzt. Oftmals haben sich Klassenanalysen auf die Veränderungen der Sozialstruktur (z.B. Angestellte, lohnabhängige Mittelklassen) oder auf Strukturveränderungen in der Arbeiterklasse (Facharbeiter, Angelernte, Prekariat) konzentriert. Das ist zweifelsohne ein wichtiger Bestandteil der Klassenanalyse. Gleichwohl scheint mir, dass die Frage nach der politischen Artikulation der Klassenverhältnisse und des Klassenkonflikts oftmals vernachlässigt wird. Dabei geht es um das System der Klassenbeziehungen und der Kräfteverhältnisse zwischen den Klassen - und dabei spielt der Staat eine zentrale Rolle. Der moderne Interventionsstaat ist nicht nur ein Produkt, sondern auch ein »Feld« des Klassenkampfs, auf dem sich die Kräfteverhältnisse sowie die Bündniskonstellationen zwischen Klassen und Klassenfraktionen widerspiegeln (Poulantzas 1975).

Es war der italienische Marxist Antonio Gramsci, der in seinen Kerkerheften in den 1930er Jahren solchen Fragen einer politischen Klassenanalyse besondere Aufmerksamkeit gewidmet hat - mit seiner Staats- und Hegemonietheorie, seinem Konzept des »historischen Blocks«, mit der Erkenntnis, dass Herrschaft niemals nur von einer Klasse, sondern immer in Klassenbündnissen ausgeübt wird, dass die Kunst der Politik (der Führung durch Konsens von unten) darin besteht, solche Bündniskonstellationen zu festigen, dass solche Bündnisse in Krisen zerbrechen, sich neue zusammensetzen usw. usf. Insofern hat sich Gramsci stets sehr kritisch mit einem »Übermaß an Ökonomismus« auseinandergesetzt. Analyse politischer Kräfteverhältnisse heißt für ihn: die »Einschätzung des Grades an Homogenität, Selbstbewusstsein und Organisation, den die verschiedenen gesellschaftlichen Gruppen (und das ist für ihn ein Synonym für Klassen, F.D.) erreicht haben« (Gramsci 1991ff.: 1560).


Kräftekonstellationen in der Zwischenkriegszeit, im »Golden Age« und »Kalten Krieg«

Wenn man die Erweiterungen und »weißen Flecken« bedenkt, stellt sich die Frage, ob - und wenn ja inwieweit - die Marxsche Klassentheorie sich historisch »bewährt« hat oder »überholt« ist. Die Bilanz fällt keineswegs eindeutig aus:

- Zu Lebzeiten von Marx und Engels in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts war in den Zentren des damaligen Kapitalismus (England, Teile von Westeuropa) die »soziale Frage« und die Konstituierung der sozialistischen Arbeiterbewegung (I./II. Internationale) bestimmend für die gesellschaftliche und politische Entwicklung im Inneren der Staaten. Selbstverständlich gab es auch andere Herausforderungen und Widersprüche, wie beispielsweise in der Außenpolitik oder im Aufbau des bürgerlichen Staates, dazu sehr spezifische Wege der bürgerlichen Nationalstaatsbildung (die »verspätete Nation«). Dennoch mischten sich diese Widersprüche mit der Klassenfrage (z.B. deutsche Reichsgründung/Sozialistengesetz: Die »soziale Frage« und die Sozialdemokratie waren für Bismarck eindeutig die Hauptthemen der Innenpolitik).

- Im 20. Jahrhundert - nicht nur im »Zeitalter der Katastrophen« (Hobsbawm) von 1914 bis 1945 - ist der Klassenkampf und der Systemgegensatz zwischen Kapitalismus und Sozialismus vorherrschend. Selbstverständlich gibt es vielfältige Formen und Intensitätsgrade der Klassenauseinandersetzungen (von betrieblichen Alltagskonflikten, wilden und gewerkschaftlich organisierten Streiks bis zu Generalstreiks, Massendemonstrationen, aber auch große politische Debatten und revolutionäre Massenbewegungen). Auch die großen Umwälzungen außerhalb der Zentren des Kapitalismus (Zusammenbruch der Kolonialsysteme, antiimperialistische Befreiungsbewegungen) sind durch Klassengegensätze bestimmt (die Rolle der Bauernbewegungen und der Bündnisse mit dem städtischen Proletariat). Wichtig ist für die Verhältnisse insbesondere in den westeuropäischen Metropolen: Die Entwicklung von Demokratie und Sozialstaatlichkeit, die Verbesserung der Arbeits- und Lebensbedingungen der Lohnarbeiter, die Anerkennung der Gewerkschaften, die Zerschlagung des Faschismus sind jeweils Ergebnisse von sozialen und politischen Kämpfen gewesen. Die Verfassungen der Zwischenkriegsperiode und nach 1945 waren Ausdruck spezifischer Kräfteverhältnisse, in der die Arbeiterklasse an Macht gewonnen hatte und die Bourgeoisie zu Zugeständnissen gezwungen war. Verfassungen, so hat es Wolfgang Abendroth (im Anschluss an den Austromarxisten Otto Bauer) formuliert, sind immer zeitweilige Festschreibungen einer Kräftekonstellation der Klassen.

- Die Dominanz des Klassenkonflikts in den entwickelten kapitalistischen Gesellschaften des 20. Jahrhunderts hat auf Seiten der herrschenden Klassen und über den Staat permanent Reaktionen herausgefordert - Repression auf der einen, Anpassung und Integrationsstrategien auf der anderen Seite. Die erste große Welle der Revolutionen nach 1917 und die tiefe Krise des kapitalistischen Wirtschaftssystems in der Weltwirtschaftskrise nach 1929 führte (in Deutschland und anderen europäischen Staaten) im Ergebnis eines harten Klassenkampfes zur faschistischen Diktatur. In den USA dagegen kam es zum New Deal, d.h. zu einer aktiven Rolle des Staates bei der Beschäftigungspolitik und zu einer Stärkung der Gewerkschaftsbewegung (auch hier keineswegs automatisch, sondern um die Mitte der 1930er Jahre im Ergebnis von großen Streikbewegungen und der Neugründung der Gewerkschaften in der CIO).

- Nach 1945 beginnt das »Golden Age« des Kapitalismus, gekennzeichnet einerseits durch die Systemkonkurrenz von Kapitalismus und Sozialismus im Weltmaßstab (so sahen es zumindest die Eliten im Westen, besonders in den USA), andererseits durch die Epoche des Fordismus mit hohen Wachstumsraten, Vollbeschäftigungspolitik, Massenproduktion und -konsum sowie dem Aufbau von Sozialstaatlichkeit. Das »Golden Age« war das Resultat von Klassenkompromissen: Die Liberalen und Konservativen (als die politischen Interessenvertreter der Bourgeoisie) akzeptierten eine gemischte Wirtschaft mit einem starken öffentlichen Sektor, den Aufbau des Sozialstaates, starke Gewerkschaften und Elemente von Wirtschaftsdemokratie. Die überwiegend sozialdemokratisch orientierte Arbeiterbewegung im Westen akzeptierte die kapitalistische Eigentumsordnung (»soziale Marktwirtschaft«) und war (innen- und außenpolitisch) eingebunden in die Fronten des Kalten Krieges. Soziologen haben für diese Periode nach der für die Gewerkschaften verlorenen Auseinandersetzungen um die Neuordnung von Wirtschaft und Gesellschaft den Begriff der »Institutionalisierung des Klassenkonfliktes« geprägt. Das heißt: Gegensätzliche Klasseninteressen sind nicht verschwunden, aber es bestehen rechtliche Regelungen und Institutionen, in denen dieser Konflikt ausgetragen wird: Tarifvertrag, Betriebsverfassungs- und Mitbestimmungsgesetz, Sozialgesetze, Arbeitsgerichte etc. In der Bundesrepublik gab es immer ein besonders hohes Maß der Verrechtlichung der Beziehungen zwischen Kapital und Arbeit, wobei auch hier das Recht die Verdichtung von sozialen Kräfteverhältnissen (Beispiel Streik und Aussperrung) zum Ausdruck bringt.


Aufstieg und Krise des Neoliberalismus

Die Weltwirtschaftskrise nach 2007/2008 ist nicht in erster Linie eine Folge so genannter innovativer, höchst spekulativer Finanzprodukte, sondern ein langfristiges Resultat der Krisenprozesse seit dem Ende des »Golden Age«, die den Übergang vom Fordismus zum globalen Finanzmarktkapitalismus und den politisch-ideologischen Siegeszug des »Neoliberalismus« einleiteten. Zwischen 1965 und 1975 erschöpfen sich die Wachstumspotenziale der Massenproduktion: Sinkende Wachstumsraten, Inflation, steigende Arbeitslosigkeit und internationale Krisen markieren das Ende des »Wirtschaftswunders«. Begleitet wurde dies durch breite soziale Mobilisierungsprozesse: Studenten-, Bürgerrechts- und Jugendbewegungen, Befreiungskämpfe in der Dritten Welt, Kämpfe gegen die faschistischen Systeme in Spanien, Portugal und Griechenland, Aufschwung der Klassenkämpfe und Gewerkschaftsbewegung in Westeuropa (vgl. Albers/Oehlke/Goldschmidt 1972). Bis Ende der 1970er Jahre erfolgte von Seiten der herrschenden Kräfte eine Aufkündigung der Klassenkompromisse mit der Folge der Liberalisierung der internationalen Finanzmärkte, des Übergangs zur angebotsorientierten Wirtschaftspolitik (Abschied vom Keynesianismus) und einer Konfrontationspolitik gegen die Gewerkschaften (am härtesten in Großbritannien unter Margaret Thatcher).

Die Niederlagen der Arbeiterbewegung und der politischen Linken, die dann in den 1980er Jahren immer deutlicher wurden, erfolgten vor dem Hintergrund dramatischer Verschiebungen in den Kräftekonstellationen zwischen Kapital und Arbeit (im Betrieb, auf der Ebene der Gesamtwirtschaft, in Gesellschaft, Politik und Ideologie). Der Neoliberalismus war von Anfang an eine klassenpolitische Herrschaftsform,(1) die freilich nur in Bündniskonstellationen mit großen Teilen der Mittelklasse und Teilen der Arbeiterklasse umgesetzt werden konnte - wobei mit dem Finanzmarktkapitalismus enorme Machtverschiebungen innerhalb des herrschenden Blocks (zugunsten der Finanzmarktakteure) stattgefunden haben.

Diese Herrschaftsform hat jedoch bereits vor der Großen Krise deutliche Risse bekommen. Die hegemoniale Ausstrahlungskraft des neoliberalen Projektes (Privatisierung, Flexibilisierung, Deregulierung als Versprechen für die Maximierung von Freiheit und individuellem Wohlstand) ist erodiert. Drei Themen sind in den letzten Jahren immer deutlicher in den Vordergrund gerückt:

- die Wahrnehmung sozialer Unsicherheit und die Angst vor dem Absturz (Barbara Ehrenreich 1994) als Reflex nicht nur auf die hohen Arbeitslosenzahlen und die betrieblichen Erfahrungen (Arbeitsplatzverlust als gleichsam permanente Bedrohung), sondern auch als Reflex auf die beständige Ausweitung der Prekarität;

- wachsende zunehmende soziale Ungleichheit und moralische Empörung über soziale Ungerechtigkeit;

- Vertrauensverlust der politischen Klasse in einer »Postdemokratie« (Colin Crouch 2008), in der der direkte Zugriff der Wirtschaftseliten auf die politischen Entscheidungen wie im Fall der Atomindustrie z.T. unverhüllt zutage tritt.


Legitimationskrise der sozialen Marktwirtschaft

Solche Einstellungen haben sich auf jeden Fall mit der Großen Krise seit 2007 erweitert und verstärkt. Eine Umfrage der Bertelsmann-Stiftung (2009) konstatiert eine Legitimationskrise der herrschenden Funktionseliten: »Das Vertrauen fehlt in der Breite - gegenüber Banken und Finanzdienstleistern, gegenüber Unternehmern und Managern, den Politikern und dem politischen System insgesamt, den klassischen Medien und sogar gegenüber der Art und Weise, wie die Soziale Marktwirtschaft aktuell umgesetzt wird - dem zentralen Identitätsanker unseres Gesellschaftsmodells.« Der Anteil derer, die der Auffassung sind, dass sich die soziale Marktwirtschaft »bewährt« habe, ist von 73% (1994) auf 50% (2008) gesunken; dass wir für die Zukunft »mehr Markt« brauchen, bestätigen nur noch 22%, während 60% der Meinung sind, dass mehr soziale Absicherung notwendig sei. Dass es in unserer Gesellschaft eher »sozial ungerecht« als »gerecht« zugehe, das haben im September 2009 immerhin 71% der Befragten festgestellt und 63% bestätigen, dass der »Zusammenhalt in der Gesellschaft« abgenommen hat. Richtig ist bei der Bewertung dieser Umfrageergebnisse der Hinweis der Bertelsmann-Stiftung, dass »die Ursachen dieses Phänomens (i.e. Vertrauensverlust in die herrschende Wirtschafts- und Sozialordnung, F.D.) tiefer liegen - vor allem weit vor der gegenwärtigen Finanzkrise ... Die große Vertrauenserosion fand bereits in den 1980er und 1990er Jahren statt und wurde durch die aktuelle Krise noch einmal verstärkt.« Deshalb wird in der gegenwärtigen Krise zu Recht die Klassenfrage gestellt: »Wer bezahlt für die Krise?« Dabei handelt es sich nicht nur um eine (soziale) Klassenfrage (»die da oben - wir da unten«), sondern um eine zentrale politische Frage, denn das Management der Bezahlung wird vom Staat betrieben.

Mit der Großen Krise (und ihrer Vorgeschichte) ist der Finanzmarktkapitalismus gegen die Wand gefahren, hat sich aber machtpolitisch behauptet und beherrscht sogar in weiten Teilen das Krisenmanagement. Dass es sich dabei um ein Klassenprojekt handelt, wird von immer mehr Menschen wahrgenommen - gleichzeitig nimmt die Angst und das Ungerechtigkeitsempfinden, aber auch die Wut und die Empörung zu, ohne dass sie (wie Klaus Dörre bemerkt) einen »produktiven politischen Ausdruck« finden oder auch spontane Handlungsbereitschaft seitens betrieblicher, gewerkschaftlicher und sozialer Bewegungen.


Strukturveränderungen und Herausforderungen im Finanzmarktkapitalismus

Die gegenwärtige Krise zeichnet sich (auch im historischen Vergleich) dadurch aus, dass sie auf politische, ökonomische und gesellschaftliche Verhältnisse trifft, die in den vergangenen Jahrzehnten gründlich »umgewälzt« wurden. Der Neoliberalismus war eben nicht nur Ideologie; mit dem Übergang zum Finanzmarktkapitalismus haben sich gewaltige Strukturveränderungen vollzogen, die auch (und vor allem) die Klassenverhältnisse und die Bedingungen des Klassenkampfes betreffen. Oftmals haben wir die Dimensionen und die Bedeutung solcher Veränderungen erst ansatzweise verstanden. Ich beschränke mich auf einige Stichworte:

- Die Umbrüche in der Weltordnung: das Ende des Kalten Krieges durch die Implosion des Staatssozialismus und den imperialen Anspruch der USA als »Weltpolizist«; der Ausbau der EU und der Aufstieg Chinas und der BRIC-Staaten, wodurch die alte Triade der kapitalistischen Hauptmächte aufgesprengt und die Weltpolitik multipolarer wird. Nicht nur für globalisierungskritische soziale Bewegungen, auch für Gewerkschaften ist das von größter Bedeutung. Allein schon wegen der Exportorientierung der deutschen Wirtschaft - insbesondere der Metall-, Elektro- und chemischen Industrie - sind sie direkt von diesen Veränderungen kurz- und langfristig betroffen.

- Die neue Stufe der Internationalisierung (»Globalisierung«) der Ökonomie, der Politik, der Kultur usw. verändert auch die Parameter der Klassenbildung und der Politik, namentlich der Politik des Nationalstaates; daraus ergeben sich neue Politikfelder und das Verhältnis von lokalen, nationalen und transnationalen Entwicklungsprozessen ist neu zu bestimmen. Für Gewerkschaften erwachsen aus der Macht der transnationalen Konzerne mit ihren Outsourcing- und Verlagerungsstrategien und der zunehmenden Bedeutung politischer Regulierung auf der Ebene der EU (siehe allein die jüngsten Urteile des Europäischen Gerichtshofs) schwierige Herausforderungen.

- Die Niederlagen der Linken in den Kapitalmetropolen seit den späten 1970er Jahren (einschließlich der Krise der Gewerkschaftsbewegung): Die politische Arbeiterbewegung (gespalten in sozialdemokratische und kommunistische Parteien) gibt es nicht mehr als relevante politische Kräfte oder als politische Repräsentanz der »subalternen« Klassen und Klassenfraktionen. Daraus ist ein ideologisches Vakuum entstanden. Die amerikanische Soziologin Nancy Fraser hat es vor einigen Jahren folgendermaßen formuliert: Obwohl es zahlreiche Fronten gibt, an denen zu kämpfen ist, »fehlt ein glaubwürdiges, überwölbendes, emanzipatorisches Projekt«, das den zahlreichen zersplitterten Bewegungen und Initiativen eine Perspektive bieten könnte. Die Vorstellungen vom »guten Leben« werden nach wie vor durch die Produkte des Massenkonsums bestimmt. Die Verteidigung des Lebensstandards vieler Arbeitnehmer, der durch die Krise bedroht wird, fördert eher Anpassungsbereitschaft als Widerstand. Und es fehlt - im Falle der Gewerkschaften - die »Anrufung« durch ihre Organisation.

- Das neoliberale Regime kann sich auf disziplinierende Kräfte verlassen, die über den Markt wirken. Auf der einen Seite wirkt der Druck der Arbeitslosigkeit, die Angst vor sozialem Abstieg, die die Gewerkschaften ebenso schwächt und diszipliniert wie die Individuen, die sich von diesem Druck befreien wollen. Auf der anderen Seite zeichnet sich das neoliberale Regime (z.B. in der Arbeitswelt) dadurch aus, dass das Prinzip des Wettbewerbs auf alle Bereiche übertragen wird. Dieter Sauer stellt fest, dass die »gesellschaftliche Organisation von Arbeit von zwei wesentlichen Veränderungstendenzen gekennzeichnet ist: Entsicherung und Flexibilisierung auf der einen, Selbstorganisation und Subjektivierung auf der anderen Seite« (Sauer 2005: 56).(2) Eine kämpferische, kollektive Interessenvertretung wird durch solche Tendenzen erheblich erschwert.

- Schließlich haben sich im letzten Viertel des 20. Jahrhunderts in den Kapitalmetropolen tiefgreifende Veränderungen in der Klassenstruktur vollzogen, die ihrerseits a) mit den ökonomischen Umwälzungen im Übergang zum Finanzmarktkapitalismus zusammenhängen, und b) die soziale Basis der alten Arbeiterorganisationen unterminiert haben. Neben einer Neustrukturierung und Neuformierung der Kräfteverhältnisse innerhalb der herrschenden Klasse handelt es sich dabei insbesondere um den kollektiven Abstieg des industriellen Kerns der Arbeiterklasse, der - neben den Beschäftigten des öffentlichen Dienstes - Träger starker Gewerkschaften gewesen ist(3) - und schließlich: die Herausbildung eines neuen Subproletariats. Allein anhand der Tatsache, dass das unterste Viertel der Lohnbezieher in den zehn Jahren unmittelbar vor der Großen Krise (1997-2007) Reallohneinbußen von 14% zu verzeichnen hatte, lässt sich nachvollziehen, dass der Abstand des prekären Bereichs zur »Normalität« immer größer wird, dass aber gleichzeitig der prekäre Sektor sich immer weiter in die Mitte der Gesellschaft ausweitet. Dort wiederum verleitet die Angst vor Statusverlust dazu, sozial geschützte Beschäftigung als Privileg zu verteidigen; die Prekarisierten dagegen verfügen kaum über Machtressourcen, Kommunikations- und Organisationsformen, um kollektiv Verbesserungen ihrer sozialen Lage durchzusetzen. Dass die Fragmentierungsprozesse - auch die Konfrontation zwischen verschiedenen Klassenfraktionen - vom Kapital genutzt werden, um Klassenhandeln zu schwächen, ist seit den Anfängen der Arbeiterbewegung wohl bekannt. Im heutigen Kapitalismus haben sich diese Spaltungslinien (vertikal und horizontal) enorm verstärkt. Angesichts der Schwäche der politischen Arbeiterbewegung wird es zudem immer schwieriger, die Klasseneinheit (als Programm der allgemeinen Interessen) zu artikulieren.

- Auch die Entwicklung der Mittelklassen - sowohl kleine Selbständige wie bessergestellte Lohnabhängige - tendiert angesichts des zunehmenden sozialen Drucks zu einer Politik der Verteidigung korporativer Interessen und zur Konfrontation mit den Unterklassen. Die FDP vertritt solche Positionen derzeit in der Regierung (Steuersenkungen, Gesundheitsreform, Politik für die Leistungsträger der Gesellschaft); der Philosoph Peter Sloterdijk und der ehemalige Berliner Finanzsenator und Bundesbankvorstand Thilo Sarrazin (SPD) haben kurz aufeinanderfolgend eine Debatte losgetreten, in der dieser korporative Egoismus der Besserverdienenden aggressiv gegen die Steuerpolitik, den Sozialstaat und Ausländergruppen gewendet wird. Dass sich die »neue Rechte« politisch auf solche Tendenzen (der Artikulation eines Klassenbewussteins) stützt, tritt z.T. in anderen Ländern (in den Niederlanden, Österreich und Italien) noch sehr viel deutlicher als hierzulande zutage.


Historisch neue Aufgabenstellungen in der Großen Krise

Aus dem bisherigen folgt, dass sich die Große Krise der Gegenwart von früheren Großen Krisen in der Geschichte des Kapitalismus (Roth 2009) vor allem dadurch unterscheidet, dass bislang - wie eingangs festgehalten - Ernüchterung, Empörung und Wut sich nicht in relevantes kollektives Klassenhandeln umgesetzt haben. In den Kapitalmetropolen des Westens wirken nach wie vor die Folgen des Golden Age, der Institutionalisierung des Klassenkampfes, der Niederlagen der Arbeiterbewegung seit den späten 1970er Jahren und der Diskreditierung des Sozialismus fort - und es wirken die Gesetze des Marktes, die jene soziale Verunsicherung produzieren, die den Menschen Angst macht.

Wir wissen nicht, welche historische Bedeutung der gegenwärtigen Krise schließlich zukommen wird. Ihre Folgen sollten aber nicht unterschätzt werden, denn was sich seit 2007 von der Immobilien-, zur Finanz- und Wirtschaftskrise steigerte, ist vor allem durch die Plünderung der öffentlichen Kassen zur Sicherung der in den Banken deponierten Vermögensansprüche zu einer Staats- und Gesellschaftskrise mutiert. Und: Die sozialen und ökonomischen Krisenprozesse sind nicht singulär, sondern eng mit den Problemen der weltweiten ökologischen Krise verbunden, die im öffentlichen Bewusstsein z.T. viel präsenter ist. Der Umschlag von der Wahrnehmung des Klassencharakters der herrschenden Verhältnisse in die Bereitschaft, diese Verhältnisse auch praktisch in Frage zu stellen, wird erst dann erfolgen, wenn a) der spontane Druck von unten (sich nicht kampflos in das Schicksal zu ergeben) - auch international (z.B. in den USA) - zunimmt, und wenn b) politische und gewerkschaftliche »Führung« vorhanden ist, die strategisch die Verteidigung der unmittelbaren Interessen (von der Arbeitsplatz- und Lohnsicherung bis zum Gesundheitswesen, den Renten und Hartz IV) mit der Perspektive einer Emanzipation von den herrschenden Verhältnissen zu verbinden mag.

Klassenhandeln und Klassenpolitik bedeutet kollektive Interessenvertretung, die sich des Interessengegendsatzes von Kapital und Arbeit bewusst ist und die über Machtressourcen (dazu gehört Kampffähigkeit) verfügt, diese Interessen über politische Mehrheiten, außerparlamentarischen und ökonomischen Druck (z.B. durch Streiks) auch durchzusetzen. Wir werden dafür heute und in der Zukunft kaum problemlos auf historische »Modelle« aus der Geschichte der Arbeiterbewegung zurückgreifen können. Die alte Vorstellung von der Klasseneinheit (die dazu noch stellvertretend durch eine Partei repräsentiert wird) gehört endgültig der Geschichte an. Und auch »die Perspektive einer Rekonstruktion von Arbeitermacht« (mit Blick auf das Industrieproletariat als dem »Kern der Arbeiterklasse«) ist rückwärtsgewandt, keine Zukunftsperspektive. Kollektive Interessenvertretung der Subalternen wird nur in einem »Block« verschiedener sozialer und politischer Kräfte (von den sozial Ausgegrenzten bis zu Teilen der lohnabhängigen Mittelklassen und der Intellektuellen)(4) möglich sein - in diesem Block werden Gewerkschaften als sozialökonomische und sozialpolitische Interessenvertreter der Lohnabhängigen eine wichtige, aber keineswegs eine privilegierte Rolle spielen (»führende Rolle der Arbeiterklasse«). Die Kunst der Politik wird darin bestehen, innerhalb dieses Blocks Brücken zu bauen, Koalitionen zu bilden, allgemeine Interessen zu artikulieren, die Arbeit, die Analysen der Intellektuellen mit den praktischen Kämpfen zu verbinden, strategiefähig zu werden - das sind gewaltige Anforderungen, die nicht den Köpfen von Intellektuellen entspringen, sondern durch die Verhältnisse selbst vorgegeben sind.(5) Statt von einem neuen »Block« der progressiven Kräfte spricht Hans-Jürgen Urban (2010) von einer »Mosaiklinken«, womit die fortgeschrittenen sozialen und politischen Fragmentierungsprozesse und die Zurückweisung aller Dominanzansprüche bildlich zum Ausdruck kommen.

Die Anforderungen der »Blockbildung« oder der Zusammenfügung einer »Mosaiklinken« werden durch mindestens fünf Dimensionen bestimmt, die die heutigen Aufgaben deutlich von den »alten« Erfahrungen der Arbeiterbewegung (auch des marxistischen Flügels) unterscheiden:

- das Verhältnis von internationalen, nationalen, sektoralen und betrieblichen Kämpfen hat sich deutlich verändert;

- die klassische Beziehung zwischen Partei und Gewerkschaft in der Arbeiterbewegung hat sich aufgelöst; für die Vermittlung von ökonomischen und politischen Kämpfen (auch weltweit) haben es die Gewerkschaften heute mit heterogenen Akteuren und Bewegungen zu tun;

- der Kampf gegen die herrschenden Verhältnisse fokussiert sich nicht ausschließlich auf den Interessengegensatz von Kapital und Arbeit und die damit verbundenen sozialen und ökonomischen Interessen; die soziale und die ökologische Frage sind eng miteinander verbunden, dennoch haben die mit der ökologischen Krise verbundenen Widersprüche ihre eigene Logik;

- die progressiven Kräfte in der Arbeiterbewegung haben von den neuen sozialen Bewegungen gelernt, dass der Herrschaftscharakter der Geschlechterbeziehungen nicht nur über die Klassenfrage thematisiert werden kann, sondern auch innerhalb der Arbeiterbewegung als Widerspruch existiert; und auch die Auseinandersetzung mit Rassismus und Nationalismus muss mit der Klassenfrage verbunden, kann aber nicht auf diese reduziert werden;

- der Kapitalismus tendiert seit dem späten 20. Jahrhundert dazu, immer mehr Menschen aus dem durch »Normalarbeitsverhältnisse« regulierten Prozess der Produktion und Reproduktion dauerhaft auszugrenzen. Zweifellos handelt es sich hier um einen weltweiten Prozess der »Proletarisierung«; es bleibt eine entscheidende Frage für die Linke, welche Rolle diese Kräfte in den sozialen Bewegungen gegen den Kapitalismus spielen werden und wie sie in eine Klassenpolitik einbezogen werden können (Beispiel MST Brasilien, Indigene Bewegungen in Bolivien).


Gewerkschaften zwischen Kerngeschäft und Kapitalismuskritik

Gewerkschaften haben seit mehr als zwei Jahrzehnten eine Periode der Defensive und von Niederlagen hinter sich. Dass dies nicht zu Fatalismus verleiten muss, haben sie in den letzen Jahren mit durchaus erfolgversprechenden Revitalisierungsstrategien unter Beweis gestellt (Brinkmann u.a. 2008). Auch dass es ihnen gelang, Arbeitsplatzverluste in der Krise - und damit auch Mitgliederverluste - in engen Grenzen zu halten, zeugt von strategischer Flexibilität. Fatal wäre allerdings ein »Pragmatismus« des Krisenmanagements, der weitergehende Alternativen und Perspektiven vermissen lässt. Denn sollte die Erwartung, dass die Große Krise bereits überwunden sei, nicht eintreten, dann - so ist zu befürchten - werden die Gewerkschaften mit drastischen Niederlagen rechnen müssen (Niederlagen in Tarifauseinandersetzungen, Ohnmacht gegenüber weiterem Sozialabbau zulasten der Arbeitnehmer, Schwächung von Organisations- und politischer Macht).

Eines kann man aus der Geschichte der »alten« Arbeiterbewegung lernen: Sie hat immer auch Gedanken zugelassen, wie eine andere Ordnung des »guten Lebens« aussehen könnte.

Es gibt natürlich kein Patentrezept, wie man mit den Herausforderungen erfolgreich fertig wird. Aber zwei Anmerkungen zum Schluss:

1. Dass sich die Gewerkschaft in schwierigen Zeiten auf das Kerngeschäft (betriebliche Interessenvertretung, Tarifpolitik, Organisation) zu konzentrieren hat und dass sie ihre Kraft vor allem dort einsetzen soll, wo sie über einen hohen Organisationsgrad verfügt, ist zunächst eine verständliche Reaktion. Aber wenn es nicht gelingt, dieses »Kerngeschäft« mit der Entwicklung von eigener Kompetenz und Macht in den Auseinandersetzungen um die so genannte »sekundäre Ausbeutung«, also um die staatliche Politik in den Feldern der Sozialpolitik, der Steuerpolitik, der Wirtschafts- und Bildungspolitik (aber auch der politischen Ausgestaltung der Wirtschaftsdemokratie) zu verbinden, werden sie zwangsläufig immer mehr auf die Rolle einer (quasi ständischen) Pressure Group für noch relativ privilegierte Minderheiten der Arbeiterklasse zurückgedrängt. Sie machen sich abhängig von den Regierenden und vom Wohlwollen der Arbeitgeber, nehmen eine subalterne Position ein, in der Hoffnung, dass sie für die Verhinderung von Radikalisierungsprozessen im »Block der Subalternen« belohnt werden.

2. Auch Gewerkschaften sollten ein Interesse daran haben, dass Alternativen zur herrschenden Politik und zum System des Finanzmarktkapitalismus ausgearbeitet und breit in der Öffentlichkeit diskutiert werden, damit sie als Programme in die Auseinandersetzung um politische Macht Eingang finden. Wer für »gute Arbeit« und »ein gutes Leben« wirbt, der sollte auch wissen, dass dies nicht dadurch zu erreichen sein wird, dass sich der gegenwärtige Finanzmarktkapitalismus von seiner Krise wieder erholt, sondern dass dies nur gegen gewaltigen Widerstand derjenigen sozialen und politischen (auch ideologischen) Kräfte möglich sein wird, die in der Klassenkoalition des »herrschenden Blocks« vom Finanzmarktkapitalismus profitiert haben und jetzt vom Krisenmanagement profitieren. Eine Wende kann freilich nicht nur auf der politischen Ebene erfolgen; sie wäre zweifellos auch mit tiefgreifenden Eingriffen in die wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Eigentums- und Machtverhältnisse verbunden.

Eines kann man aus der Geschichte der »alten« Arbeiterbewegung lernen: Sie hat - auch wenn es realpolitisch zunächst einmal utopisch erscheinen mochte - immer auch Gedanken zugelassen, wie eine andere Ordnung des »guten Lebens« aussehen könnte. Dieses Erbe sollten wir nicht aufgeben oder verdrängen - schon gar nicht in der gewerkschaftlichen Bildungsarbeit, die ja nicht nur die Aufgabe hat, die Kolleginnen und Kollegen im Bereich des »Kerngeschäftes« zu qualifizieren, sondern ihnen auch Wissen zu vermitteln bzw. Lernprozesse zu organisieren, die sie in die Lage versetzt, die Mühen der Tagesarbeit (übrigens auch die politische und individualpsychologische Verarbeitung von unvermeidlichen Niederlagen im Tagesgeschäft) strategisch zu reflektieren.

In dem bemerkenswerten Buch der drei Jenaer Soziologen Klaus Dörre, Stephan Lessenich und Hartmut Rosa (2009: 84) schreibt Klaus Dörre: »Soziologische Kritik sollte daher nüchtern und ohne Illusionen neben Alternativen im auch Alternativen zum Kapitalismus ausloten«. Ich möchte hinzufügen: Gewerkschaftliche Bildungsarbeit sollte sich für die Resultate dieser Arbeit soziologischer Kapitalismuskritik nicht nur interessieren, sondern sie sich auch aneignen!


Frank Deppe ist Prof. (em.) für Politikwissenschaften an der Philipps-Universität Marburg, Autor des vierbändigen Grundlagenwerkes »Politisches Denken im 20. Jahrhundert« (Hamburg 1999/2010). Jüngste Veröffentlichung zusammen mit Joachim Bischoff, Richard Detje und Hans-Jürgen Urban: »Europa im Schlepptau der Finanzmärkte« (Hamburg 2011).


Anmerkungen

(1) Was unter diesen Bedingungen Klassenpolitik konkret bedeutet, zeigt sich in der Reaktion des Staates (zuerst der USA) auf die Finanz- und Wirtschaftskrise. In der Regel wird auf die Bedeutung der Banken für die Gesamtwirtschaft (systemisch) hingewiesen und dann geht es natürlich auch um den Schutz der »Sparer«. Man muss aber auch die Vermögensverteilung ins Auge fassen; und der Finanzmarktkapitalismus zeichnet sich ja gerade dadurch aus, dass die großen Vermögen spekulativ auf den Finanzmärkten vermehrt werden sollen, sich also relativ von der »Realwirtschaft« und ihrer Wertschöpfung entkoppelt haben. Ulf Kadritzke in den WSI-Mitteilungen 12/2009: »In Deutschland wie in den USA konzentriert sich der Reichtum der Vermögenselite ganz oben in einer Spitzengruppe der Superreichen. Das oberste Zehntel der Bevölkerung verfügt über mehr als 60% und die Gruppe der reichsten 5% über 46% des gesamten deutschen Nettovermögens - aber allein das eine Prozent an der Spitze hat einen Anteil von 23% an sich gebracht ... dagegen verfügen knapp 27% aller Erwachsenen in Deutschland über keinerlei oder negatives Vermögen.« (S. 662) Dass mit dem Neoliberalismus der »Monetarismus« als Hauptziel der Wirtschafts- und Fiskalpolitik die Bekämpfung der Inflation verfolgt (und die Vollbeschäftigungspolitik aufgegeben hat), hat genau damit zu tun, dass die Vermögensbesitzer die »Geldabwertung« als Minderung ihres Vermögens fürchten müssen, während sie von den Folgen der Arbeitslosigkeit nicht betroffen sind. Die Klassendimension der Vermögensverteilung wird noch durch die Polarisierung zwischen der Gewinn- und der Lohnquote am Sozialprodukt unterstrichen.

(2) Marx hat im Kapital (MEW 23: 765) solche Verhältnisse folgendermaßen beschrieben: »Im Fortgang der kapitalistischen Produktion entwickelt sich eine Arbeiterklasse, die aus Erziehung, Tradition, Gewohnheit, die Anforderungen jener Produktionsweise als selbstverständliche Naturgesetze anerkennt. Die Organisation des ausgebildeten kapitalistischen Produktionsprozesses bricht jeden Widerstand, die beständige Erzeugung einer relativen Überbevölkerung hält das Gesetz der Zufuhr von und der Nachfrage nach Arbeit, und daher den Arbeitslohn, in einem den Verwertungsbedürfnissen des Kapitals entsprechenden Gleise, der stumme Zwang der ökonomischen Verhältnisse besiegelt die Herrschaft des Kapitals über den Arbeiter. Außerökonomische, unmittelbare Gewalt wird zwar immer noch angewandt, aber nur ausnahmsweise. Für den gewöhnlichen Gang der Dinge kann der Arbeiter den 'Naturgesetzen' der Produktion überlassen bleiben, d.h. seiner aus den Produktionsbedingungen selbst entspringenden, durch sie garantierten und verewigten Abhängigkeit vom Kapital.«

(3) Unter den Arbeitern, die noch knapp 30% der Erwerbstätigen (das sind 10,6 Mio.) ausmachen, ist der Anteil von Menschen mit Migrationshintergrund (ca. 1/3) besonders hoch; bei den Angestellten (knapp 20 Mio.), sind es weniger als 10%. »Als Folge von Strukturwandel und finanzkapitalistischer Landnahme hat der Arbeiterstatus in der gesellschaftlichen Wahrnehmung an Attraktivität verloren; aus diesem Grund werden zunehmend Menschen mit Migrationshintergrund mobilisiert, für die selbst ansonsten wenig attraktive Segmente des Arbeitsmarktes individuell noch immer einen Aufstieg bedeuten können.« (Dörre 2010: 134)

(4) Und: Dieser Block muss »global«, nicht »national« gedacht werden.

(5) Mit diesen vorsichtigen Formulierungen geht es mir darum, keine »Gesetze« oder »historische Notwendigkeiten« zu postulieren; das dürften wir aus der Geschichte gelernt haben; es geht um Möglichkeiten, immer um verschiedene Handlungsoptionen.


Literatur

Albers, Detlef/Oehlke, Paul/Goldschmidt, Werner (1972): Klassenkämpfe in Westeuropa, Reinbek bei Hamburg.

Bertelsmann-Stiftung (2009): Vertrauen in Deutschland. Eine qualitative Wertestudie der Bertelsmann Stiftung. Task Force »Perspektive 2020 - Deutschland nach der Krise«, Gütersloh.

Brinkmann, Ulrich, u.a. (2008): Strategic Unionism: Aus der Krise zur Erneuerung? Umrisse eines Forschungsprogramms, Wiesbaden.

Crouch, Colin (2008): Postdemokratie, Frankfurt/M.

Dörre, Klaus/Lessenich, Stephan/Rosa, Hartmut (2009): Soziologie - Kapitalismus - Kritik. Eine Debatte, Frankfurt/M.

Dörre, Klaus (2010): Landnahme und soziale Klassen. Zur Relevanz sekundärer Ausbeutung, in: Thien, Hans-Günter (Hrsg.): Klassen im Postfordismus, Münster, S. 113-151.

Ehrenreich, Barbara (1994): Angst vor dem Absturz, München.

Fraser, Nancy (2009): Feminismus, Kapitalismus und die List der Geschichte, in: Blätter für deutsche und internationale Politik, Heft 8, S. 43-57.

Gramsci, Antonio (1991ff.): Gefängnishefte, Bd. 1-10, Berlin/Hamburg.

Hobsbawm, Eric (1998): Das Kommunistische Manifest, in: ders. u.a.: Das Manifest - heute. 150 Jahre Kapitalismuskritik, Hamburg.

Morus, Thomas (1513): Utopia, Darmstadt 1973.

Poulantzas, Nicos (1975): Klassen im Kapitalismus - heute, Westberlin.

Roth, Karl Heinz (2009): Die globale Krise, Hamburg.

Sauer, Dieter (2005): Paradigmenwechsel in der Arbeitspolitik, in: Detje, Richard/Pickshaus, Klaus/Urban, Hans-Jürgen: Arbeitspolitik kontrovers. Zwischen Abwehrkämpfen und Offensivstrategien, Hamburg.

Solty, Ingar (2006): »An der Schwelle zum Verfall«. Die US-Gesellschaft in der Passivitätskrise, in: Das Argument, 264, Heft 1, S. 27-35.

Rousseau, Jean-Jacques (1960): Du Contrat Social ou Principes du Droit Politique, Oeuvres Choisis, Paris.

Urban, Hans-Jürgen (2010): Lob der Kapitalismuskritik. Warum der Kapitalismus eine starke Mosaik-Linke braucht, in: Luxemburg, Heft 1, S. 18-29.


Zum Thema: Frank Deppe. Aus der Krise lernen. Anmerkungen zur gewerkschaftlichen Strategiedebatte Sozialismus 10/2010


Bildunterschriften der im Schattenblick nicht veröffentlichten Abbildungen der Originalpublikation:

- Karl-Marx-Grabmal in Highgate, Enthüllung am 75. Todestag 14.3.1956
- Streik in München 1954
- United Auto Workers, Streik, 24.9.2007


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Quelle:
Sozialismus Heft 9/2011, Seite 51 - 59
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veröffentlicht im Schattenblick zum 30. November 2011