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INTERNATIONAL/063: China - Griechenlandkrise der eigenen Art, Stadt Wenzhou wird zur Belastungsprobe (IPS)


IPS-Inter Press Service Deutschland gGmbH
IPS-Tagesdienst vom 24. November 2011

China: Griechenlandkrise der eigenen Art - Stadt Wenzhou wird zur Belastungsprobe

von Antoaneta Becker


Schanghai, China, 24. November (IPS) - Europa hat die Griechenland-, China die Wenzhou-Krise. Als die Europäer das Reich der Mitte um Investitionshilfe zur Rettung der Eurozone aufriefen, meldeten sich in der Volksrepublik Stimmen zu Wort, die sich dagegen aussprachen. Statt der Europäer solle Peking lieber Wenzhou retten, hieß es. Obwohl nur ein winziger Fleck auf der großen Landkarte Chinas, könnte das Wirtschaftszentrum dem ostasiatischen Land ebenso zusetzen wie Griechenland der Eurozone.

Andere chinesische Experten sind jedoch der Meinung, dass sich die im Süden der Provinz Zhejiang gelegene Stadt als Glücksfall im Unglück herausstellen könnte, sollte die Regierung sich dazu durchringen, eine umfassende Reform des Bankensektors einzuleiten. "Geben wir Wenzhou eine Chance und vertrauen wir auf die Fähigkeiten der Stadt, die Märkte richtig einzuschätzen. Denn dann könnte es passieren, dass nicht China Wenzhou, sondern Wenzhou China rettet", schrieb Wang Wei, Vorsitzender der privatwirtschaftlich-orientierten 'China Private Equity Investment Association' unlängst in der 'China Times'.

Das im Delta des Jangtse gelegene Wenzhou rund 350 Kilometer von Schanghai gilt seit vielen Jahren als die Wirtschaftsmetropole, die den Aufstieg aus eigener Kraft geschafft hat. Trotz wiederholter Kampagnen gegen die privaten Unternehmen durch Chinas Kommunisten bis in die 1990er Jahre hinein konnten die Familienbetriebe mit ihren Schuh-, Kleidungs-, Plastikspielzeug- und Knopffabriken gewaltig prosperieren. Fernab der Börsen und von den Staatsbanken ignoriert, eröffneten diese Betriebe unter der Hand Privatbanken, borgten sich gegenseitig Geld oder beschafften sich die nötigen Investitionsmittel von Verwandten im Ausland.


Von Schanghai ins Ausland

"Auf diese Weise habe ich es von Wenzhou aus nach Schanghai und ins Ausland geschafft", schilderte Yuan Suquan, Hersteller von Einrichtungsaccessoires wie den international gefragten Troddeln, den Aufbau seines Firmenimperiums. Yuan, der in Schanghai seine ersten wichtigen Aufträge an Land gezogen hatte, lieh sich privat Geld, um die Nachfrage französischer und schwedischer Kunden bedienen zu können.

Zunächst lagen die Zinssätze bei zwei Prozent. Inzwischen sind sie gestiegen, die Aufträge hingegen zurückgegangen. "Mir geht es immer noch gut, weil mein Warenangebot recht speziell ist", sagte Yuan. "Doch andere Unternehmer, die Feuerzeuge oder Knöpfe herstellen, leiden unter der vietnamesischen und kambodschanischen Konkurrenz und haben Probleme, ihre Schulden zu tilgen."

Schanghai ist das Spielfeld, das viele Geschäftsleute aus Wenzhou reich gemacht hat. Hier fahren die erfolgreichen Unternehmer in schicken neuen Flitzern vor, beehren die lokalen Luxusboutiquen und schlürfen Champagner auf der Dachterrasse des Roosevelt-Hauses an Chinas berühmtester Uferpromenade. "Diese Leute haben den rasanten Anstieg der Immobilienpreise verursacht", meinte dazu ein lokaler Taxifahrer. "Dass wir Normalsterblichen uns hier keine Wohnung leisten können, verdanken wir den Unternehmern aus Wenzhou, die mit Immobilien spekulieren."

Doch der Reichtum scheint an seine Grenzen zu stoßen. Inzwischen hört man immer wieder von Firmenpleiten und Selbstmorden unter Unternehmern. Nachdem Zeitungen im Sommer über die üblen Machenschaften skrupelloser Kredithaie berichtet hatten, stattete Chinas Ministerpräsident Wen Jiabao Wenzhou im Oktober einen Besuch ab, um die dortigen Banken zur Unterstützung der örtlichen Familien- und Kleinbetriebe anzuhalten.

Zu den Firmenschließungen kam es, als die europäische Wirtschaftskrise zuschlug und sich kleinere Unternehmen mit höheren Lohnforderungen und einer Aufwertung der Landeswährung Yuan konfrontiert sahen. Wirtschaftswissenschaftler betrachten die Krise in Wenzhou als Spitze des Eisbergs und als Resultat eines weitläufigen Schattenfinanzsystems, das der regulären Wirtschaft schweren Schaden zufügen wird.


Staat soll Zugang zu Privatkapital ermöglichen

Einer Ansicht, der Zhang Qi, Wissenschaftler am 'Shanghai New Finance Research Institute' nicht zustimmen mag. Seiner Meinung nach wurde die Wenzhou-Krise durch die steten staatlichen Angriffe auf das Privatkapital und die Verschlechterung des Investitionsklimas verursacht. "Die Unternehmen in Wenzhou brauchen keine Staatshilfe sondern den Zugang zu privaten Krediten", betonte er.

Peking hat kürzlich angedeutet, eine Lockerung der Kontrolle über den Finanzsektor in Erwägung zu ziehen. So erklärte ein Mitarbeiter der chinesischen Notenbank gegenüber der chinesischen Nachrichtenagentur 'Xinhua', dass die Regierung über Mittel und Wege nachdenke, kleine und mittelständische Privatunternehmen durch eine Legalisierung privater Kredite zu Zinssätzen zu stützen, die den vierfachen Wert der Zinsen herkömmlicher Banken nicht übersteigen sollen.

"Das wäre ein wirklicher Fortschritt nach so vielen Jahren, in denen Peking versucht, die Untergrundbanken und privaten Geldverleiher auszuschalten", kommentierte Zhu Dake, Wissenschaftler an der Tongji-Universität in Schanghai. "Möglicherweise ist die Entwicklung ein Indiz dafür, dass die Kommunistische Partei die Forderungen einflussreicher Privatunternehmen nicht mehr ignorieren kann." (Ende/IPS/kb/2011)


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veröffentlicht im Schattenblick zum 26. November 2011