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INTERNATIONAL/085: Lateinamerika - "Grüne" Wirtschaft für mehr Gerechtigkeit, SELA legt Studie vor (IPS)


IPS-Inter Press Service Deutschland gGmbH
IPS-Tagesdienst vom 12. April 2012

Lateinamerika: 'Grüne' Wirtschaft für mehr Gerechtigkeit - SELA legt Studie vor

von Humberto Márquez


Das von der israelischen Firma Ormat in Guatemala betriebene Wärmekraftwerk Ortitlán - Bild: © Danilo Valladares/IPS

Das von der israelischen Firma Ormat in Guatemala betriebene Wärmekraftwerk Ortitlán
Bild: © Danilo Valladares/IPS


Caracas, 12. April (IPS) - Das Lateinamerikanische und Karibische Wirtschaftssystem (SELA) sieht die Region dafür gerüstet, ihr Wirtschaftswachstum ohne den Verbrauch fossiler Brennstoffe voranzutreiben. Eine 'grüne' Wirtschaft, die auf sauberen Energien basiert, kann demnach auch das soziale Gefälle verringern.

"Jeder dritte Lateinamerikaner lebt in Armut. Fast 90 Millionen Menschen müssen mit weniger als einem US-Dollar am Tag auskommen", sagte der ständige SELA-Sekretär José Rivera. "Wir brauchen ein langfristiges Wachstum, das fairer und ökologisch nachhaltig ist."

Nach Ansicht von Rivera geht es nicht darum, "die Produktions- und Konsummuster über Nacht zu ändern". Vielmehr müsse man darauf hinarbeiten, "einen regionalen Konsens über Investitionen, öffentliche Grundsätze, Leistungsanreize, Subventionen, Vorschriften, Ausbildung, Bewusstseinsbildung und internationale Zusammenarbeit zu erreichen".

SELA, dem 28 lateinamerikanische und karibische Staaten angehören, führte eine Studie durch, die von der Voraussetzung ausging, dass in der Region ein Grundgerüst für die "Begrünung einer braunen Wirtschaft" geschaffen werden muss. Dazu sollte die Wirtschaft rascher von fossilen Brennstoffen auf saubere, erneuerbare Energien umsteigen.


Energie zu 80 Prozent aus Kohlenwasserstoffen und Kohle

Der Untersuchung zufolge hat die Region 2009 rund 7,4 Milliarden Barrel Öl-Äquivalent produziert. 50,2 Prozent entfielen auf Öl, 23,9 Prozent auf Erdgas, 10,8 Prozent auf Biomasse (zu gleichen Teilen Brennholz und Zuckerrohr), 6,6 Prozent auf Wasserkraft, sechs Prozent auf Kohle, 1,3 Prozent auf Wind- und Solarkraft sowie weitere erneuerbare Energien und jeweils 0,6 Prozent auf Atomkraft und Wärmekraft.

Die größten Energieproduzenten in der Region waren Mexiko mit 24,7 Prozent, gefolgt von Brasilien mit 22,9 Prozent, Venezuela mit 20,4 Prozent, Kolumbien mit 9,8 Prozent, Argentinien mit 7,7 Prozent, Trinidad und Tobago mit 4,2 Prozent und Ecuador mit 2,8 Prozent.

Venezuela ist der regionale Spitzenreiter bei der Erdölproduktion, vor Mexiko und Brasilien. Aus Mexiko kommt die größte Menge an Erdgas, danach folgen Argentinien und Trinidad und Tobago. Kolumbien wiederum fördert drei Fünftel der gesamten Kohle in Lateinamerika und der Karibik. Brasilien produziert das meiste Brennholz, Biomasse aus Zuckerrohr, Wasserkraft und andere erneuerbare Energien. Mexiko liegt laut der Studie ganz vorn bei der Erzeugung geothermischer Energie, während das Land gemeinsam mit Brasilien den höchsten Anteil an Atomstrom hervorbringt.

Von der gesamten in der Region erzeugten Energie stammen der SELA-Untersuchung zufolge 74,4 Prozent aus nicht-erneuerbaren Quellen, die zu 87,6 Prozent die Umwelt stark belasten und für die Freisetzung hoher Kohlendioxidemissionen verantwortlich gemacht werden.

Lateinamerika "hat ein enormes Potenzial für die Entwicklung grüner Energie" erklärte Juan Carlos Sánchez vom Weltklimarat (IPCC) im Gespräch mit IPS. Er verwies auf die hohe Kapazität für die Erzeugung von Wasserkraft in Brasilien, Venezuela, Mexiko, Kolumbien, Paraguay und Argentinien. Allein Venezuela könne durch Wasser- und Wärmekraft bereits bis zu 20.000 Megawatt-Stunden Strom produzieren, sagte Sánchez. Weitere 100.000 MW durch Wasserkraft, Windenergie und Biomasse könnten noch hinzukommen.

Wind- und Solarenergie bezeichnete der Experte als vielversprechende Stromquellen. Sie erforderten aber höhere Investitionen, die bisher noch nicht getätigt worden seien. "Es ist wichtig, die Auswirkungen aller so genannten 'grünen' Energieträger in Betracht zu ziehen, gleichgültig ob sie erneuerbar sind oder nicht", meinte Sánchez. Bioethanol und Biodiesel könnten die Bodenbesitzverhältnisse erheblich komplizieren, Landnutzungs- und soziale Probleme schaffen, warnte er.


Status quo durch 'grüne' Wirtschaft

Der Agronom Edgar Jaimes, der an der Anden-Universität in Venezuela lehrt, nannte die 'grüne' Wirtschaft "eine neue Vision der kapitalistischen Welt, die das Ziel verfolgt, die Biomasse der Erde zu nutzen, um die Produktionssysteme aufrechtzuerhalten, mit denen in den vergangenen 50 Jahren die natürlichen Ressourcen und die Menschen ausgebeutet worden sind".

Auf der Erde würden mehr als 250 Milliarden Tonnen Biomasse erzeugt, erklärte Jaimes. Zurzeit würden davon nur 62 Milliarden Tonnen genutzt, um menschliche Bedürfnisse und die Erfordernisse der Industrie zu befriedigen. Das neue 'grüne' Modell wolle auch den Rest dazu verwenden, hohe kapitalistische Profite zu erwirtschaften.

SELA ist dennoch davon überzeugt, dass Lateinamerika und die Karibik den Kurs einer umweltverträglichen Wirtschaft verfolgen sollten. "Es gibt offensichtlich keine bessere Alternative für ein nachhaltiges Wachstum. Darüber, dass die auf Kohle gründende Wirtschaft ihre Grenzen erreicht hat, besteht ein großer Konsens", heißt es in der Studie.

Auch Julio Centeno, der ebenfalls an der Anden-Universität lehrt, forderte eine Entkoppelung der Wirtschaft von fossilen Brennstoffen und eine Orientierung hin zu sauberen Energien. Für Mitglieder der Organisation Erdöl exportierender Staaten (OPEC) wie Venezuela und Ecuador sei dies eine besondere Herausforderung.

Nach Ansicht von SELA muss der Staat den Übergang aktiv fördern. Es seien auch Strategien nötig, die über die Übergangsphase hinaus die Arbeitsverhältnisse so gestalteten, dass die Menschen in der 'grünen' Wirtschaft ihr Auskommen finden könnten. SELA riet außerdem zu einer Studie, die das 'natürliche Kapital' der Region und seine Bindungen an den auf fossilen Brennstoffen basierenden Energiesektor bewerten solle. Angeregt wurden überdies ein Ausbau der Süd-Süd-Zusammenarbeit bei Programmen für eine ökologisch verträgliche Wirtschaft sowie die Erschließung neuer Finanzierungsquellen.

Mit Blick auf den bevorstehenden Nachhaltigkeitsgipfel Rio+20, den die Vereinten Nationen vom 20. bis 22. Juni in Rio de Janeiro veranstalten, schlug Rivera vor, dass Lateinamerika und die Karibik einen eigenen Fahrplan hin zu einer 'grünen' Wirtschaft entwerfen sollten. (Ende/IPS/ck/2012)

Links:
http://www.sela.org/attach/258/default/Di_1-2012_La_vision_de_la_economia_verde_en_America_Latina_y_el_Caribe.pdf
http://www.ipcc.ch/
http://www.uncsd2012.org/rio20/index.html
http://www.ipsnoticias.net/nota.asp?idnews=100515
http://www.ipsnews.net/news.asp?idnews=107391

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Quelle:
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veröffentlicht im Schattenblick zum 14. April 2012