Hans-Böckler-Stiftung - 19.06.2017
Armut und Reichtum: Amtliche Berichterstattung verbessert, aber weiter große Lücken
WSI-Expertise heute im Bundestag
Seit es regierungsamtliche Armuts- und Reichtumsberichte gibt, herrscht mehr Klarheit über die Verteilung von Einkommen, Vermögen und Lebenschancen. Doch noch immer klaffen Lücken. Besonders wenig ist über die materielle Lage der extrem Reichen bekannt. Die Bundesregierung könnte das ändern, so eine Expertise des Wirtschafts- und Sozialwissenschaftlichen Instituts (WSI) der Hans-Böckler-Stiftung.
2001 erschien der erste Armuts- und Reichtumsbericht der Bundesregierung.
Seither hat sich die Berichterstattung stets verbessert. Das betont
WSI-Verteilungsexpertin Dr. Anita Tiefensee in ihrer Stellungnahme für die
heutige Anhörung im Ausschuss für Arbeit und Soziales des Deutschen
Bundestages. Der fünfte und jüngste Bericht sei von besonderer Transparenz
geprägt. Beispielsweise seien zentrale Indikatoren, Erhebungs- und
Berechnungsmethoden für jeden im Internet einsehbar. Trotzdem sieht die
Wissenschaftlerin noch "erhebliches Weiterentwicklungspotenzial".
Besonders was das Hundertstel der Haushalte mit den höchsten Einkommen und
Vermögen angeht, sei die Datenlage stark verbesserungswürdig. Darüber
hinaus fehle es den Berichten an einer gemeinsamen Betrachtung von
Einkommen, Vermögen sowie Erbschaften und Schenkungen. Denn erst alles
zusammen ermögliche eine "umfassende Bewertung der materiellen Lage von
Menschen". Schließlich sollten die vorhandenen Informationen auch dazu
genutzt werden, zukünftige Entwicklungen abzuschätzen - und gegebenenfalls
politisch gegenzusteuern.
Unbestreitbar ist Tiefensee zufolge, dass die Verteilung sich in den
vergangenen Dekaden auseinanderentwickelt hat:
• Die Armutsquote ist von 1995 bis 2014 von 11,6 auf 15,8 Prozent gestiegen. Als arm gelten dabei Mitglieder von Haushalten, die weniger als 60 Prozent des mittleren Einkommens zur Verfügung haben. Gleichzeitig ist der Anteil der Haushalte gewachsen, die über wenigstens das Doppelte des mittleren Einkommens verfügen - von 6,1 auf 8,2 Prozent. Die Verteilung ist dementsprechend ungleicher geworden.
• Ebenso klar ist, dass die privaten Nettovermögen noch deutlich ungleicher verteilt sind als die Einkommen: Die oberen zehn Prozent der Haushalte verfügen nach den aktuell vorliegenden Daten über 60 Prozent des gesamten Vermögens. Die untere Hälfte der Haushalte besitzt dagegen fast nichts oder ist sogar verschuldet.
• Die per Erbschaft oder Schenkung übertragenen Vermögen haben in jüngster Zeit zugenommen, wie sich aus Steuerstatistiken ablesen lässt. In Westdeutschland geht ein Drittel des Privatvermögens auf Erbschaften oder Schenkungen zurück. Wobei es häufig die ohnehin schon vermögenden Haushalte sind, die von solchen Zuflüssen profitieren. Gerade diese leistungslosen Einkommen bedrohen nach Analyse der Forscherin Chancengleichheit und Leistungsgerechtigkeit. Gepaart mit großer Ungleichheit könnten sie "die Akzeptanz der Wirtschafts- und Sozialordnung dezimieren".
Dabei sei die aus den vorliegenden Daten abgelesene Ungleichheit eher als
eine "Untergrenze der tatsächlichen Verhältnisse" zu verstehen. Um die
Realität besser abbilden zu können, müssten beispielsweise Vermögenswerte,
Erbschaften und Schenkungen auch dann statistisch erfasst werden, wenn sie
nicht steuerlich relevant sind, so die Wissenschaftlerin. Die
Bundesregierung habe es in der Hand, diese Daten erheben zu lassen.
Um die Ungleichheit der Lebenschancen nicht nur sichtbar zu machen, sondern auch zu verringern, empfiehlt Tiefensee, mehr - kostenlose - Bildungsangebote zu schaffen. Besonders wichtig sei es, die frühkindliche Bildung weiter auszubauen und zu verbessern. Bei den Einkommen sollte das Steuersystem für einen stärkeren Ausgleich sorgen: Nicht nur die Arbeits-, sondern auch die Kapitaleinkommen müssten nach Auffassung der Forscherin künftig wieder progressiv besteuert werden. Ebenso sollten Erbschaften und Schenkungen stärker zur Umverteilung herangezogen werden.
https://www.boeckler.de/pdf/p_wsi_pb_11_2017.pdf
- Anita Tiefensee: Stellungnahme zur Anhörung im Ausschuss für Arbeit und
Soziales des Deutschen Bundestages zum Thema "Fünfter Armuts- und
Reichtumsbericht der Bundesregierung", WSI Policy Brief Nr. 11, Juni 2017.
https://www.boeckler.de/wsi_66092.htm
- Aktuelle Daten zu Einkommensentwicklung, Vermögensverteilung, Armut und
Reichtum in den FAQs des WSI-Verteilungsmonitors
Kontaktdaten zum Absender der Pressemitteilung unter:
http://idw-online.de/de/institution621
*
Quelle:
Informationsdienst Wissenschaft e. V. - idw - Pressemitteilung
Hans-Böckler-Stiftung, Rainer Jung, 19.06.2017
WWW: http://idw-online.de
E-Mail: service@idw-online.de
veröffentlicht im Schattenblick zum 21. Juni 2017
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