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WOHNEN/237: Sozialisierung und Sozialdemokratie - am Beispiel "Deutsche Wohnen & Co. enteignen" in Berlin (spw)


spw - Ausgabe 4/2019 - Heft 233
Zeitschrift für sozialistische Politik und Wirtschaft

Analyse & Strategie
Sozialisierung und Sozialdemokratie - am Beispiel "Deutsche Wohnen & Co. enteignen" in Berlin

von Franziska Drohsel, Michael Karnetzki und Ingo Siebert[1]


In Berlin fordern die Initiator*innen des Volksbegehrens "Deutsche Wohnen & Co. enteignen" die Vergesellschaftung der Bestände aller privatwirtschaftlichen Wohnungsunternehmen mit über 3.000 Wohnungen im Land Berlin. Die Unterschriften für ein Volksbegehren hatte die Initiative in Kürze zusammen und seither diskutiert die Stadt. In diesem Beitrag wollen wir uns dem Thema aus verschiedenen Perspektiven nähern. Wir gehen dabei zunächst auf die Situation am Berliner Wohnungsmarkt ein (I). In einem zweiten Schritt behandeln wir rechtliche Fragestellungen der Sozialisierung (II) und anschließend ihre verfassungsgeschichtliche Einordnung (III). Im letzten Teil skizzieren wir politische Folgerungen (IV).


I) Mieter*innenbewegung als Antwort auf die gespaltene Stadt

Für Berlin lassen sich die Entwicklungen städtischer Wohnungsmärkte wie in einem Brennglas nachvollziehen. Die Mietquote ist mit fast 85 Prozent in Berlin die höchste und 30 Prozent über dem Durchschnitt (55 Prozent) in der Bundesrepublik.[2] Bis 1989 waren beide Wohnungsmärkte in Ost- und Westberlin stark reguliert und sozial heterogen. Mit der Wiedervereinigung und in Erwartung eines Bevölkerungswachstums wurde der Wohnungsmarkt in beiden Stadthälften stark dereguliert. Anfang der 2010er wurden große städtische Wohnungsbestände an private Gesellschaften veräußert. Insgesamt 71.000 Wohnungen wurden an die beiden größten privaten Wohnungsunternehmen in der Bundesrepublik Deutsche Wohnen und Vonovia SE verkauft.[3] Seitdem kann in der Stadt konkret beobachtet werden, was die "Finanzialisierung des Wohnens" bedeutet.

Insgesamt wird der bundesdeutsche Wohnungsmarkt von 65 Prozent Privatvermieter*innen, 13 Prozent privaten Wohnungsbaugesellschaften, 11 Prozent kommunalen Wohnungsbaugesellschaften und 9 Prozent Genossenschaften und 2 Prozent gemeinnützige Organisationen betrieben.[4] Die Interessen dieser unterschiedlichen Immobilienbesitzer*innen sind nicht einheitlich, wie einige Lobbygruppen zu propagieren versuchen. Den finanzmarktdominierten Akteuren der privaten Wohnungsbaugesellschaften wird in den aktuellen Diskussionen zu wenig Beachtung beigemessen. "Die Finanzialisierung des Wohnens ist Teil eines sich ab der 1990er-Jahren durchsetzenden finanzdominierten Akkumulationsregimes", denn "die neoliberale Strategien lösten eine fordistisch-keynesianische Politik ab."[5] Vollmer hält zutreffend fest: "Es geht nun um die Expansion von Anlagekapital, um ständige Maximierung von Profit. Sie sind nicht an langfristiger Bewirtschaftung ihrer Bestände interessiert, sondern bewirtschaften einzelne Segmente je nach Verwertungsstrategie unterschiedlich."[6]

Die Unternehmensstrategien werden allein an den Renditeerwartungen ausgerichtet, die erzielt werden müssen, eine andere Steuerung wie bei kommunalen oder genossenschaftlichen Wohnungsgesellschaften ist kaum denkbar: "In den Randgebieten lässt man Wohnungen eher verfallen - in den 'Schwarmstädten' mit viel Zuzug wie etwa Berlin, in denen die Wohnungsknappheit groß ist, investiert man für Luxussanierung, treibt die Mieten hoch und vertreibt die Altmieter".[7] Deshalb ist von diesen Gesellschaften auch kaum Potenzial zur Lösung der Wohnungsfrage zu erwarten. Im Gegenteil: Ihr Gebaren gehören zu den Hauptursachen der Mietsteigerungen vor allem durch Neuvermietung und Sanierungsumlage.

In Berlin gehören über 250.000 Wohnungen zwölf privaten Gesellschaften mit eigenem Besitz von über 3.000 Wohnungen. Die größten Eigentümer*innen von Mietwohnungen sind finanzmarkt-dominierte private Gesellschaften. Die Hälfte dieser privaten Gesellschaften sind Aktiengesellschaften. Die beiden größten Gesellschaften sind die Deutsche Wohnen mit aktuell 111.500 Wohnungen und die Vonovia SE mit 41.943 Wohnungen. Haupteigentümer sind der Vermögensverwalter BlackRock und der norwegische Staatsfonds Norges. Sie kontrollieren 8% des Berliner Wohnungsmarktes und zusammen mit den anderen vier Privatgesellschaften etwa ebenso viele Wohnungen wie alle Berliner Wohnungsbaugenossenschaften zusammen.[8]

Mieter*innenbewegung

Mit dem Bündnis #mietenwahnsinn und der Initiative "Deutsche Wohnen & Co. enteignen" haben sich in Berlin neue Akteur*innen einer Mieter*innenbewegung gebildet, die die Wohnungsfrage gezielt und öffentlichkeitswirksam stellen. Das Mietenwahnsinn-Bündnis ist ein Gemeinschaftsprojekt von zurzeit 29 mieten- und stadtpolitischen Gruppen aus ganz Berlin, die sich vor allem gegen steigende Mieten und Verdrängung einsetzen. Der Höhepunkt war eine Großdemonstration am 14. April 2019 mit 40.000 Teilnehmenden.

Auslöser der Initiative "Deutsche Wohnen & Co. enteignen" war das Agieren des Immobilienkonzerns Deutsche Wohnen. Die Initiative besteht aus Aktiven vom Mietenvolksentscheid 2015, der Initiative Kotti & Co. sowie Mieter*innenprotest gegen die Deutsche Wohnen und weiteren Initiativen. 77.001 Unterschriften übergab die Initiative "Deutsche Wohnen & Co. enteignen" an den Senat und hat damit die erste Hürde auf dem Weg zu einem Volksentscheid für die Vergesellschaftung von Immobilienkonzernen genommen.

Das Volksbegehren zielt auf ca. zwölf Großvermieter mit Profitorientierung, die über 3.000 Wohnungen in Berlin verfügen, wie die Deutsche Wohnen, Akelius, Vonovia u.a. Genossenschaften und Wohnimmobilien der öffentlichen Hand sollen ausgenommen sein. Zur Verwaltung der vergesellschafteten Bestände soll eine Anstalt öffentlichen Rechts zur demokratischen Kontrolle dieser Bestände geschaffen werden. Die Kampagne ermöglicht die Wohnungsfrage zu politisieren und die unterschiedlichen sozialen Konflikte hervorzuheben: "Es gilt die Mieterhöhung, Zwangsräumung oder das verschimmelte Treppenhaus als Ausdruck des Wohnungsmarktes zu verstehen, statt als individuelles Schicksal."[9]

Gespaltene Stadt

Die Proteste finden vor dem Hintergrund der räumlichen Abbildung einer zunehmenden sozialen Ungleichheit in den Städten statt, die mit den Begriffen sozialräumliche Polarisierung und Gentrifizierung beschrieben wird. Im Kern geht es um eine soziale Entmischung der Quartiere und eine räumliche Sortierung der Bewohner*innen nach Einkommen und sozialem Status.[10] Hauptgrund für diese soziale Entmischung sind steigende Mieten und die damit verbundene Verdrängung aus angestammten innerstädtischen Quartieren. In diesen Quartieren findet gleichzeitig eine kulturelle Homogenisierung mindestens jedoch eine Dominanz sogenannter gehobenerer Lebensstile statt, was als Gentrifizierung bezeichnet wird. Soziale Polarisierung, Gentrifizierung und Verdrängung führen zu einer sozialräumlichen Konzentration von Armut an den Rändern der Stadt und zu Wohnungslosigkeit.

Vor dem Hintergrund eines weitgehenden deregulierten Wohnungsmarktes beginnt die rot-rot-grüne Stadtregierung mit der Strategie "Bauen, Kaufen, Deckeln" auf die prekäre Lage auf dem Wohnungsmarkt zu reagieren und sich für mehr bezahlbaren Wohnraum einzusetzen. Das ist gut, aber ein zentraler Aspekt wird in der Diskussion um die Strategie "Bauen, Kaufen, Deckeln" vernachlässigt: die strukturelle Veränderung der finanzmarkt-dominierten Wohnungsunternehmen. Dies adressiert aber gerade das Volksbegehren. Und: Eine Beschleunigung der gesamtstädtischen Strategie gegen Mieterhöhung und Verdrängung ist ohne den Druck der sozialen Bewegungen nicht denkbar. Mit diesen sollte die SPD kämpfen - nicht gegen sie.


II) Rechtliche Aspekte

Eines der zentralen Argumente in der Auseinandersetzung um das Begehren ist die Behauptung, ein entsprechender Gesetzesentwurf zur Sozialisierung sei mit dem geltenden Recht nicht vereinbar. Das sehen wir anders.

Verfassungsrecht

Eine Umsetzung des Begehrens, die dem geltenden Recht nicht zuwiderläuft, ist unseres Erachtens möglich. Die Überführung von Grund und Boden unterfällt der konkurrierenden Gesetzgebung nach Art. 74 Abs. 1 Nr. 15 GG. Vom Bund wurde von jener kein Gebrauch gemacht und somit kann ein Land wie Berlin mittels Landesgesetz eine Sozialisierung vornehmen.[11] Grund und Boden können zum Zwecke der Vergesellschaftung durch ein Gesetz, das Art und Ausmaß der Entschädigung regelt, in Gemeineigentum oder in anderer Form der Gemeinwirtschaft überführt werden (Art. 15 S. 1 GG). Unter den Begriff des "Grund und Boden" sind Grundstücke sämtlicher Art, deren Bestandteile und Zubehör sowie grundstücksähnliche Rechte und Rechte, die nach § 96 BGB als Bestandteil des Grundeigentums gelten, zu subsumieren.[12]

Teils wird vertreten, dass der Sozialisierungsgegenstand eine gewisse Sozialisierungsreife, d.h. wirtschaftliche Bedeutung aufweisen muss[13], was bei einem Schwellenwert von 3.000 Wohnungen angenommen werden dürfte. Den Initiator*innen des Begehrens geht es um eine Gemeinwohlorientierung, so dass das von Art. 15 S. 1 GG vorausgesetzte Gemeinwohlinteresse[14] als gegeben angesehen werden kann. Die Frage, inwieweit eine Sozialisierung dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit zu entsprechen hat, ist umstritten;[15] unseres Erachtens ist eine Ausgestaltung, die dem Verhältnismäßigkeitsgrundsatz entspricht, aber möglich. Gerade unter Berücksichtigung des Art. 28 Abs. 1 Verfassung von Berlin (Recht auf Wohnraum) ist von der Legitimität des mit dem Volksbegehren verfolgten Ziels auszugehen. Eine Vergesellschaftung fördert dieses Ziel und ist damit geeignet. Angesichts der zahlreichen Maßnahmen, mit denen in den letzten Jahren erfolglos versucht wurde, den Wohnungsnotstand aufzulösen, dürfte es nicht unmöglich sein, die Erforderlichkeit der Maßnahme zu begründen.

Ein entsprechendes Gesetz müsste so ausgestaltet werden, dass die Schwere des Eingriffs bei einer Gesamtabwägung nicht außer Verhältnis zu dem Gewicht der ihn rechtfertigenden Gründe steht, mithin verhältnismäßig im engeren Sinne ist.[16] Besonderes Augenmerk ist dabei auf das Gleichbehandlungsgebot aus Art. 3 GG zu richten. Ein Verstoß wäre gegeben, wenn eine Gruppe von Normadressaten im Verhältnis zu anderen Normadressaten anders behandelt wird und keine Gründe von solcher Art und solchem Gewicht vorliegen, die eine Ungleichbehandlung rechtfertigen.[17] Dabei müsste insbesondere der Schwellenwert von 3.000 Wohnungen gerechtfertigt werden. Hinsichtlich der öffentlich-rechtlichen Eigentümer, bei denen erst einmal nicht auszuschließen ist, dass auch diese gewinnorientiert arbeiten,[18] müsste gegebenenfalls eine gleichstellende Regelung gefunden werden, mit denen eine Verpflichtung zum Gemeinwohl gewährleistet ist. Bei den Genossenschaften müsste geprüft werden, ob deren Gemeinwohlorientierung als ausreichend anzusehen ist.[19]

Hinsichtlich der Entschädigung verweist Art. 15 S. 2 GG auf Art. 14 Abs. 3 S. 3 und S. 4 GG, wobei diese Verweisung lediglich "entsprechend" erfolgt. In der Fachliteratur gibt es bezüglich der Höhe der Entschädigung verschiedene Auffassungen, wobei einige Autor*innen die Orientierung am Verkehrswert[20] fordern und andere diese Orientierung explizit nicht für erforderlich erachten.[21] Im Kontext des Art. 14 GG hob das Bundesverfassungsgericht ausdrücklich hervor, dass Art. 14 Abs. 3 S. 3 GG dem Gesetzgeber keine "starre, allein am Marktwert orientierte Entschädigung" auferlege und es vielmehr nicht zutreffe, dass "den Enteigneten durch die Entschädigung stets 'das volle Äquivalent für das Genommene gegeben werden muss'".[22] Dem Landesgesetzgeber steht folglich erheblicher Spielraum zu.

Wirtschafts- und Sozialordnung

Wie jedes Verfassungsrecht ist auch Art. 15 GG, um dessen Anwendung es bei der Kampagne "Deutsche Wohnen & Co. enteignen" geht, nicht einfach eine abstrakte Setzung, sondern Resultat konkreter geschichtlicher Entwicklungen und gesellschaftspolitischer Auseinandersetzungen nach dem Ende von Faschismus und Krieg. Aus diesem Grund ist auch die Frage der heutigen Anwendung des Art. 15 GG keine Frage rein abstrakter juristischer Dogmatik, sondern ein Feld der gesellschaftspolitischen Auseinandersetzung mit dem Kampf um eine fortschrittliche, über das bürgerlich-liberale Verständnis hinausgehende Verfassungsinterpretation als einer spezifischen Dimension dieses Kampfes. Insbesondere gilt es an Wolfgang Abendroths Überlegungen über die untrennbare Verknüpfung des rechtsstaatlichen und sozialen Gehalts mit dem Demokratiegebot (Art. 20 Abs. 1 und Art. 28 Abs. 1 S. 1 GG)[23] anzuknüpfen. Zum einen an den Gedanken, dass ein liberaler Rechtsstaat, der formelle Rechtsgleichheit gewährleistet, in einer Wirtschaftsund Sozialordnung, die von Ungleichheit gekennzeichnet ist, die faktische Ungleichheit perpetuieren muss und nicht aufheben kann.[24] Zum anderen an die Überlegung, den materiellen Rechtsstaatsgedanken der Demokratie, d.h. nach ihm insbesondere den Gleichheitssatz und den Selbstbestimmungsgedanken, auf die Wirtschafts- und Sozialordnung zu übertragen und damit real inhaltlich aufzufüllen.[25]

In diesem Verständnis des Sozialstaats wären Eingriffe in die Eigentumsordnung durch die Anwendung des Artikels 15 GG nicht nur als möglich anzusehen, sondern ein der sozialen Ungleichheit entgegenwirkendes staatliches Handeln als konstitutiv für den sozialstaatlichen Auftrag des Grundgesetzes zu begreifen. Es wäre somit anzuknüpfen an die verfassungspolitischen Diskussionen der unmittelbaren Nachkriegszeit.


III) Sozialisierung in der bundesdeutschen Geschichte

Das Grundgesetz mit seinem Sozialisierungsartikel 15 bildete 1949 den Schlusspunkt eines vierjährigen Entwicklungsprozesses nach dem Kriegsende. Dabei ist sein Charakter als verfassungspolitischer Kompromiss hervorzuheben. Während die Landesverfassungen vor 1949 deutlich weitergingen, hielt das Grundgesetz mit der Aufnahme des Art. 15 GG über die Möglichkeit der Vergesellschaftung die Frage der sozialökonomischen Ausgestaltung der Gesellschaft zumindest für die Zukunft offen.[26] Die Zustimmung der Sozialdemokrat*innen im Parlamentarischen Rat zum Grundgesetz wäre ohne den Art. 15 GG nicht zu haben gewesen.[27]

Sozialisierung bei den politischen Parteien

Ausgehend von der in der deutschen Bevölkerung nach dem Ende des 2. Weltkriegs stark verbreiteten Überzeugung, dass Großkapital und Großgrundbesitz einen wesentlichen Anteil an der Katastrophe des Faschismus trugen,[28] waren sozialistische Auffassungen in den ersten Nachkriegsjahren bis in die CDU hinein sehr verbreitet gewesen. So hatte noch das Ahlener Programm der CDU in der britisch besetzten Zone von 1947 gefordert, dass "die neue Struktur der deutschen Wirtschaft (...) davon ausgehen (muss), dass die Zeit der unumschränkten Herrschaft des privaten Kapitalismus vorbei ist" und sich in diesem Sinne Eingriffe in die Eigentumsordnung bis zur vollständigen Vergesellschaftung von Bergbau und eisenschaffender Großindustrie auf die Fahnen geschrieben.[29]

Sozialisierung in den Landesverfassungen

Verschiedene Landesverfassungen hatten die Vergesellschaftung von Großbetrieben, insbesondere von Bergbau, Eisen- und Stahlindustrie verbindlich vorgesehen, die Nordrhein-Westfälische Verfassung - unter einer CDU-geführten Landesregierung - sogar noch 1950, ein Jahr nach Verabschiedung des Grundgesetzes.[30] Auch in Berlin wurde am 13. Februar 1947 von der Stadtverordnetenversammlung mit den Stimmen von SPD, CDU und SED gegen die LDP ein Sozialisierungsgesetz beschlossen, dem im September 1947 eine Durchführungsverordnung folgte. Die Alliierten, unter denen in dieser Frage keine Einigkeit bestand, verzögerten die Umsetzung des Gesetzes so lange, bis an seine Verwirklichung im Zuge der beginnenden Kalten Kriegs und der Spaltung Berlins nicht mehr zu denken war.[31]

Sozialisierung in Hessen

Sozialisierungsartikel in den Länderverfassungen nach 1945 standen in einem direkten Zusammenhang mit Gestaltungsansprüchen, die sich nicht allein auf die politischen Grundrechte und Institutionen bezogen, sondern auf eine neue soziale Ordnung gerichtet waren. In der Hessischen Verfassung vom 01.12.1946 hieß es in Art. 38 in diesem Sinne: "Die Wirtschaft des Landes hat die Aufgabe, dem Wohl des ganzen Volkes und der Befriedigung seines Bedarfs zu dienen. Zu diesem Zweck hat das Gesetz die Maßnahmen anzuordnen, die erforderlich sind, um die Erzeugung, Herstellung und Verteilung sinnvoll zu lenken und jedermann einen gerechten Anteil an dem wirtschaftlichen Ergebnis aller Arbeit zu sichern und ihn vor Ausbeutung zu schützen."[32] Davon ausgehend wurde in den nachfolgenden Artikeln 39 bis 41 ein abgestuftes Maßnahmepaket definiert, das die unmittelbar mit Inkrafttreten der Verfassung wirksam werdende Vergesellschaftung von Bergbau, Eisen- und Stahlerzeugung, Betrieben der Energiewirtschaft und des an Schienen und Oberleitungen gebundenen Verkehrswesens (Art. 41) enthielt.[33]

In der Hoffnung ihn zu verhindern, hatte die US-amerikanische Besatzungsmacht angeordnet, dass neben der allgemeinen Volksabstimmung über die Hessische Verfassung der Sozialisierungsartikel 41 einer gesonderten Abstimmung unterzogen wurde. In der Abstimmung im Dezember 1946 stimmten 76,8 Prozent der Abstimmenden für die Verfassung und 71,9 Prozent für den Art. 41, was zeigt, wie sehr die hier formulierten Vorstellungen einer neuen sozialen Ordnung zu dieser Zeit in der deutschen Bevölkerung verankert waren.[34]

An den Beschluss der Verfassung schlossen sich jedoch Auseinandersetzungen zwischen den Parteien um die Ausgestaltung der konkreten Sozialisierungsgesetze an, die zusammen mit dem Widerstand der US-amerikanischen Besatzungsmacht dafür sorgten, dass mit Buderus nur ein einziges Hessisches Großunternehmen tatsächlich (teilweise) vergesellschaftet wurde.[35]

Generalstreik für die Sozialisierung

Höhepunkt und Abschluss der Sozialisierungsbewegungen in West-Deutschland nach dem 2. Weltkrieg blieb der eintägige Generalstreik der Gewerkschaften der Bizone am 12. November 1948. Nach zeitgenössischen Angaben beteiligten sich von den 11,7 Millionen Arbeitnehmer*innen der amerikanischen und britischen Zone sieben Millionen an diesem politischen Demonstrationsstreik, zu dessen grundsätzlichen Forderungen die Überführung der Grundstoffindustrien in Gemeineigentum, die Demokratisierung der Wirtschaft unter gleichberechtigter Mitwirkung der Gewerkschaften und die Umsetzung der in diesem Zusammenhang von den Länderparlamenten beschlossenen Gesetze gehörten.[36]

Dennoch blieben die Sozialisierungsbestrebungen der Nachkriegszeit in den Westzonen Deutschlands letztendlich weitgehend wirkungslos. Mit dem sich zuspitzenden Kalten Krieg in den 50er Jahren wurde die Vorstellung von einer neuen nichtkapitalistischen Wirtschafts- und Gesellschaftsordnung schließlich gänzlich verdrängt.


IV) Folgerungen

Mit der Kampagne "Deutsche Wohnen & Co. enteignen" wurde diese in Vergessenheit geratene potenziell gesellschaftsverändernde Dimension des Grundgesetzes mit seinem Artikel 15 wieder auf die Tagesordnung gesetzt. Mit dem Volksbegehren lässt sich das Gebaren im derzeitigen Kapitalismus angreifen und die sozialen Verwerfungen auf das politische Tableau setzen. Es rückt ein Instrument, für das Sozialdemokrat*innen gekämpft haben, in den Mittelpunkt der Debatte und sollte als ein sozialdemokratisches verteidigt werden. Es macht eine verfassungsrechtliche Diskussion um die Grenzen und den Spielraum der grundgesetzlichen Wirtschafts- und Sozialordnung möglich. Und es setzt die Frage, welche Bereiche gesellschaftlichen Lebens kapitalistischen Marktgesetzen unterworfen sein sollten und was gesellschaftlich organisiert gehört, wieder dorthin, wohin es gehört: in den Raum des Politischen. Wir sollten uns als Sozialdemokrat*innen in diese Diskussion einschreiben. Und das heißt zuallererst, die Initiative "Deutsche Wohnen & Co. enteignen" unterstützen.


Anmerkungen

[1] Franziska Drohsel war Juso-Bundesvorsitzende (2007-2010), ist Rechtsanwältin in Berlin und stellvertretende Kreisvorsitzende der SPD Steglitz-Zehlendorf.
Michael Karnetzki ist Historiker und Bezirksstadtrat in Berlin Steglitz-Zehlendorf.
Ingo Siebert ist Stadtsoziologe und Mitglied im Landesvorstand der SPD Berlin.

[2] Arbeitsgruppe Alternative Wirtschaftspolitik 2019: Memorandum 2019, S. 142.

[3] Trautvetter, Christoph/Bonczyk, Soffie 2019: Profitmaximierer oder verantwortungsvolle Vermieter, S. 8.

[4] Arbeitsgruppe Alternative Wirtschaftspolitik 2019: Memorandum 2019, S. 142ff.

[5] Vollmer, Lisa 2018: Strategien gegen Gentrifizierung, S. 32.

[6] Ebenda, S. 32.

[7] Rügemer, Werner 2018: Die Kapitalisten des 21. Jahrhunderts, S. 45.

[8] Trautvetter, Christoph/Bonczyk, Soffie 2019: Profitmaximierer oder verantwortungsvolle Vermieter, S. 6ff.

[9] Vollmer, Lisa 2018: S. 149.

[10] Häusermann, Hartmut/Kapphan, Andreas 2002: Von der geteilten zur gespaltenen Stadt?

[11] Zu Fragen der Gesetzgebungskompetenz im Fall des Volksentscheids s. ausführlich: Vorwerk, Volkert 2018: Stellungnahme, S. 28 ff,
http://www.stadtentwicklung.berlin.de/wohnen/wohnraum/vergesellschaftung/download/Rechtliche-Stellungnahme-Vergesellschaftung-02-SenSW.pdf

[12] Jarass/Pieroth 2018: Grundgesetz für die Bundesrepublik Deutschland, 15. Auflage, Art. 15, Rn. 2.

[13] von Mangoldt/Klein/Starck 2018: Kommentar zum Grundgesetz: GG, 7. Auflage, Art. 15, Rn. 40.

[14] von Mangoldt/Klein/Starck 2018: Art. 15, Rn. 39.

[15] Dafür: von Mangoldt/Klein/Starck 2018: Art. 15, Rn. 39; dagegen: von Münch/Kunig 2012: Grundgesetz-Kommentar, 6. Auflage, Art. 15, Rn. 10.

[16] BverfGE 118, 168, 195.

[17] BVerfGE 55, 72, 88.

[18] S. hierzu: Geulen, Reiner 2018: Rechtliche Stellungnahme "Volksentscheid zur Vergesellschaftung großer Wohnimmobilien in Berlin", S. 12,
http://www.stadtentwicklung.berlin.de/wohnen/wohnraum/vergesellschaftung/download/Rechtliche-Stellungnahme-Vergesellschaftung-01-SenSW.pdf.

[19] Beckmann, Jörg 2018: Rechtliche Zulässigkeit und Grenzen einer Vergesellschaftung bzw. Sozialisierung von Wohnimmobilien in Berlin, S. 21,
http://www.stadtentwicklung.berlin.de/wohnen/wohnraum/vergesellschaftung/download/Rechtliche-Stellungnahme-Vergesellschaftung-03-SenSW.pdf.

[20] von Mangoldt/Klein/Starck 2018: Art. 15, Rn. 46.

[23] Abendroth, Zum Begriff des demokratischen und sozialen Rechtsstaats im Grundgesetz der Bundesrepublik Deutschland, in: Hermann, FS Bergstraesser, S. 280.

[21] Dreier 2013: Grundgesetz Kommentar, 3. Auflage, Art. 15, Rn. 31; Jarass/Pieroth 2018: Art. 15, Rn. 5.

[22] BVerfG, Urteil vom 18.12.1968 - 1 BvR 638, 673/64 und 200, 238, 249/65.

[23] Abendroth, Zum Begriff des demokratischen und sozialen Rechtsstaats im Grundgesetz der Bundesrepublik Deutschland, in: Hermann, FS Bergstraesser, S. 280.

[24] Hierzu Abendroth, VVdSt 12 (1954), S. 86, vgl. auch Hesse, AöR 77 (1951/1952), S. 167, 180.

[25] Abendroth, VVdSt 12 (1954), S. 87.

[26] Abendroth, Wolfgang 1978: Das Grundgesetz, Eine Einführung in seine politischen Probleme. 7. Auflage, S. 63-69.

[27] Fülberth, Georg 1999: Berlin - Bonn - Berlin. Deutsche Geschichte seit 1945, S. 23; vgl. Erdmann, Karl D. 1984: Das Ende des Reiches und die Neubildung deutscher Staaten (= Gebhardt, Handbuch der Deutschen Geschichte, Band 22), 4. Auflage, S. 307f.

[28] Abendroth, Wolfgang 2015: Bilanz der sozialistischen Idee in der Bundesrepublik (1962), in: Kritidis, Gregor (Hrsg.): Wolfgang Abendroth oder: "Rote Blüte im kapitalistischen Sumpf", S. 79 ff.

[29] Konrad-Adenauer-Stiftung 1997: Das Ahlener Programm der CDU der britischen Zone vom 3. Februar 1947,
https://www.kas.de/einzeltitel/-/content/das-ahlener-programm-der-cdu-der-britischen-zone-vom-3.-februar-1947

[30] Artikel 27 Verfassung des Landes NRW: "(1) Großbetriebe der Grundstoffindustrie und Unternehmen, die wegen ihrer monopolartigen Stellung besondere Bedeutung haben, sollen in Gemeineigentum überführt werden. (2) Zusammenschlüsse, die ihre wirtschaftliche Macht missbrauchen, sind zu verbieten."

[31] Erdmann 1984: S. 292; Ruch: Dr. Suhr bedauerte außerordentlich, Neues Deutschland vom 10.2.2007, zusammenfassend zur Verankerung des Sozialisierungsgedanke in den Landesverfassungen von 1949: Abendroth, Wolfgang 1978: Das Grundgesetz, Eine Einführung in seine politischen Probleme. 7. Auflage, S. 46f.

[32] Verfassung des Landes Hessen vom 1. Dezember 1946,
http://starweb.hessen.de/cache/hessen/landtag/enquetekommissionverfassung/Hessische%20Verfassung.pdf

[33] ebd.

[34] Funke, Andreas 1999: Sozialisierung - verdrängte Alternative. Zur Wirtschaftsverfassung des Grundgesetzes, Forum Recht Online, Heft 4; Fülberth, Georg 1999: S. 17.

[35] Fülberth, Georg 1999: S. 17; Winter, Gerd 1974: Sozialisierung in Hessen 1946-1955, Kritische Justiz 7, S. 157 ff.; Hessisches Landesamt für geschichtliche Landeskunde o.J.: Sozialisierung,
https://www.lagis-hessen.de/de/subjects/drec/sn/edb/mode/catchwords/lemma/Sozialisierung/current/0.

[36] Kittner, Michael 2005: Arbeitskampf. Geschichte, Recht, Gegenwart, S. 557ff; Deppe, Frank/Fülberth, Georg/Harrer, Jürgen 1981: Geschichte der deutschen Gewerkschaftsbewegung. 3. Auflage, S. 316.

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Quelle:
spw - Zeitschrift für sozialistische Politik und Wirtschaft
Ausgabe 4/2019, Heft 233, Seite 81-86
mit freundlicher Genehmigung der HerausgeberInnen
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veröffentlicht im Schattenblick zum 1. Oktober 2019

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