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INTERNATIONAL/025: Nicaragua - Vergewaltigungsopfer kämpft gegen Straffreiheit für prominenten Täter (IPS)


IPS-Inter Press Service Deutschland gGmbH
IPS-Tagesdienst vom 23. Juni 2011

Nicaragua: Vergewaltigungsopfer macht mobil - Offensive gegen drohende Straffreiheit für prominenten Täter

Von José Adán Silva

Fátima Hernández kämpft weiter um Gerechtigkeit - Bild: © Oscar Sánchez/IPS

Fátima Hernández kämpft weiter um Gerechtigkeit
Bild: © Oscar Sánchez/IPS

Managua, 23. Juni (IPS) - Mit Hungerstreiks und Mahnwachen hatte Fátima Hernández erreicht, was den meisten Vergewaltigungsopfern in Nicaragua versagt bleibt: Ihr Peiniger wurde zu acht Jahren Haft verurteilt. Doch nun könnte das richtungsweisende Urteil zur Makulatur werden.

Die Leidensgeschichte der ehemaligen Beamtin im Innenministerium begann am 25. Juli 2009, dem Tag, als sie von einem ehemaligen Kollegen sexuell missbraucht wurde. Farinton Reyes kam vor Gericht und wurde elf Monate nach dem Übergriff zu acht Jahren Gefängnis verurteilt. Nach einem ersten Berufungsverfahren, das zugunsten des Täters ausging, könnte Reyes nun erheblich früher aus dem Gefängnis entlassen oder sogar vom Obersten Gerichtshof des zentralamerikanischen Landes freigesprochen werden.

Eine solche Farce will Hernández jedoch nicht hinnehmen. Sie hält erneut Mahnwachen und Hungerstreiks vor dem Gerichtsgebäude in Managua ab und informiert Medien und Menschenrechtsorganisationen, um ihren symbolträchtigen Fall vor dem Vergessen zu bewahren. Denn die 23-Jährige kämpft gleich gegen mehrere in Nicaragua verbreitete Übel: einen ausgeprägten Machismo, der Vergewaltigung als Kavaliersdelikt verharmlost, eine käufliche und ineffiziente Justiz und das Problem der Straflosigkeit, von dem vor allem prominente Persönlichkeiten profitieren.

Reyes ist Sohn der prominenten Leichtathletin Xiomara Larios. Beide haben durch ihre engen Kontakte zu den regierenden linken Sandinisten Zugang zu den Zirkeln der Mächtigen im Staat. Nachdem Hernández von vorwiegend regierungskritischen Frauengruppen Unterstützung erhielt, wurde der Rechtsstreit zum Politikum.


Sexueller Missbrauch größtenteils vertuscht

"In einer Gesellschaft, in der sexueller Missbrauch oft vertuscht wird, hat Fátimas Stärke Solidarität geweckt und Hilfe von Menschenrechtsorganisationen mobilisiert", sagte Gonzalo Carrión vom Nicaraguanischen Zentrum für Menschenrechte (CENIDH). Die Vereinigung hatte Hernández in dem Gerichtsverfahren unterstützt. Die Richter stellten damals eine besondere Schwere des Verbrechens fest und verurteilten den Täter zu acht Jahren Haft. Doch ein halbes Jahr später verringerte jedoch ein Berufungsgericht in Managua das Strafmaß auf sechs Jahre. Die Staatsanwaltschaft forderte daraufhin das Oberste Gericht auf, den Fall wegen Verfahrensfehlern neu aufzurollen.

Beobachter warnen vor den Konsequenzen einer Urteilsrevision. In Nicaragua nimmt Gewalt gegen Frauen weiter zu, und die Täter gehen meist straffrei aus. Dabei sieht das nicaraguanische Strafrecht für Vergewaltiger Gefängnisstrafen zwischen acht und zwölf Jahren vor.

Doch seit Anfang Juni finden die ersten Anhörungen vor dem Obersten Gerichtshof statt. Sollten Verfahrensfehler während der ersten Verhandlung festgestellt werden, könnte Reyes' Haftstrafe auf vier Jahre reduziert oder sogar vollständig aufgehoben werden. Die Staatsanwaltschaft und die Verteidigung plädieren auf Freispruch. Wann das Oberste Gericht definitiv über den Fall entscheiden wird, steht noch nicht fest. Hernández befürchtet, dass Reyes aufgrund seiner politischen Verbindungen freikommen wird. Wie IPS aus Kreisen des Obersten Gerichtshofs erfuhr, sind die 16 Richter in der Frage allerdings tief gespalten. Vier von ihnen sind Frauen.

Hernández will allerdings auch bei einer gerichtlichen Niederlage weiter für Gerechtigkeit kämpfen. "Ich mache das nicht nur für mich, sondern für alle Vergewaltigungsopfer im Lande", erklärte sie IPS. Rückhalt bekommt sie von der Frauenorganisation 'El Pensamiento', die misshandelte und missbrauchte Frauen unterstützt.


Sexualisierte Gewalt nimmt zu

Insgesamt zählte das Nicaraguanische Menschenrechtszentrum für das vergangene Jahr 34.763 Fälle sexualisierter Gewalt gegen Frauen, 3.128 mehr als 2009. 21.051 Anzeigen wurden abgewiesen, 14.188 Fälle vor Gericht verhandelt. In der Mehrheit befanden die Richter die Frauen für schuldig, die auch für die Verfahrenskosten aufkommen mussten.

In dem 5,8 Millionen Einwohner zählenden Land wurden im vergangenen Jahr 89 Frauen ermordet. Die meisten Morde hatten einen sexistischen Hintergrund. In den ersten Monaten dieses Jahres fielen 40 Frauen einem tödlichen und sexuell motivierten Gewaltverbrechen zum Opfer. Das Netzwerk von Frauen gegen Gewalt dokumentierte in den vergangenen zehn Jahren 729 Frauenmorde mit geschlechtsbezogenem Hintergrund. In den meisten Fällen waren die Täter Ehemänner, Väter, Brüder oder Freunde.

Nach Angaben der Koordinatorin des Netzwerks, Maria Elena Dominguez, werden 75 Prozent der Verbrechen an Frauen nicht geahndet. Mehr als hundert unabhängige Organisationen fordern, dass das Einkammer-Parlament ein umfassendes Gesetz über Gewalt gegen Frauen verabschiedet, das schärfere Strafen für Vergewaltiger und Mörder vorsieht.

Wie das Netzwerk ermittelte, sind im Zusammenhang mit den 89 Frauenmorden 2010 36 der mutmaßlichen Täter vor der Justiz auf der Flucht. 34 sitzen in Haft und warten auf ihren Prozess, erst acht wurden verurteilt, fünf begingen Selbstmord und drei wurden freigelassen. (Ende/IPS/ck/2011)


Links:
http://www.cenidh.org/
http://www.reddemujerescontralaviolencia.org.ni/
http://www.ipsnoticias.net/nota.asp?idnews=98454

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Quelle:
IPS-Tagesdienst vom 23. Juni 2011
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veröffentlicht im Schattenblick zum 24. Juni 2011