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INTERNATIONAL/046: Afghanistan - Landkonflikte in der Provinz Nangarhar schüren Gewalt (IPS)


IPS-Inter Press Service Deutschland gGmbH
IPS-Tagesdienst vom 6. Dezember 2011

Afghanistan: Landkonflikte in der Provinz Nangarhar schüren Gewalt

von Rebecca Murray

In der afghanischen Provinz Nangarhar sorgt Land für Konfliktstoff - Bild: © Rebecca Murray/IPS

In der afghanischen Provinz Nangarhar sorgt Land für Konfliktstoff
Bild: © Rebecca Murray/IPS

Nangarhar, Afghanistan, 6. Dezember (IPS) - Ein kleines Stück Land in der ostafghanischen Provinz Nangarhar hat einen zehnjährigen Streit ausgelöst, dessen Ende nicht absehbar ist. Auf der einen Seite steht Assadullah, der nach dem Sturz der Taliban 2001 in die Heimat zurückgekehrt ist, und auf der anderen Seite ein Holzunternehmer, der sich das Grundstück in Abwesenheit des Eigentümers überschreiben ließ.

Assadullahs Geschichte ist schnell erzählt. Der Friseur, der Mitte der 1980er Jahre vor dem sowjetisch-afghanischen Krieg nach Pakistan geflohen war, fand nach seiner Rückkehr 2001 auf seinem 450 Quadratmeter großen Land ein neues Haus vor, das von dem Geschäftsmann bewohnt wird.

Seither lebt Assadullah mit seiner Familie in einer Baracke am äußeren Ende des Grundstücks und wartet auf den Ausgang eines Gerichtsverfahrens. Vor seiner Flucht nach Afghanistan hatte er sich eine Besitzurkunde über sein Land ausstellen lassen. Doch die nützt ihm wenig, denn sein Rivale, der einflussreiche Politiker zu seinen Freunden zählt, kann ebenfalls ein entsprechendes Dokument vorlegen.

Seitdem kämpfen die beiden um die Besitzrechte über das Land, das mit den Jahren an Wert gewonnen hat. Wenn sie sich sehen, dann nur vor Gericht. Nachdem zwei Versuche gescheitert waren, den Fall durch eine Jirga, einen traditionellen Gemeinderat, zu klären, reichte Assadullah Klage bei einem Regierungsgericht ein. Der Fall wurde zwar zu seinen Gunsten entschieden, das Urteil jedoch später von einem Berufungsgericht revidiert.

Assadullah wartet nun auf das Urteil des Obersten Gerichtshofs, der letzten Instanz. "Ich habe keine Ahnung, wann es zu der Entscheidung kommen wird", meint er. "Ich traue der Regierung nicht, das System ist kompliziert und die Gerichte sind korrupt."


Steigende Bodenpreise

Nangarhar ist der Brotkorb Ostafghanistans. Ressourcenreichtum und eine Straße, die Kabul mit Pakistan verbindet, verschlägt viele der aus den unruhigen Nachbarprovinzen heimkehrenden Flüchtlinge und Migranten, aber auch Hirten mit ihren Herden hierhin. Der ungeheure Andrang hat die mehrheitlich von Paschtunen bewohnte Provinz zu einer der am dichtest besiedelten Ecken des Landes gemacht.

Der Boom ließ die Grundstückspreise steigen. Die Böden im weitgehend ländlichen Afghanistan gehören zu fast 90 Prozent der Regierung. Für die Landvergabe ist die Afghanische Landbehörde 'Arazi' zuständig.

Seit der US-geführten Invasion Afghanistans vor zehn Jahren hat die Gewalt im Zusammenhang mit Landquerelen zugenommen. Der Landklau durch korrupte Regierungsvertreter und Warlords ist endemisch. Brachliegende Grundstücke werden häufig ohne das Wissen der Eigentümer wiederverkauft oder in Besitz genommen.

An den Berghängen, die die Hauptstadt Kabul umgeben, leben die Menschen in primitiven Baracken, während sich die Mächtigen des Landes die besten und teuersten Grundstücke in der Innenstadt gesichert haben. Im vergangenen Sommer wurde der Bürgermeister der Stadt Kandahar, Ghulam Haider Hamidi, offenbar aus Rache getötet, weil er illegal auf Regierungsland errichtete Gebäude abreißen ließ.

"Es ist Teil unserer Kultur, dass sich Menschen gegenseitig umbringen, wenn sie um Land oder um Frauen streiten", meint Rafiullah Bidar von der staatlichen Unabhängigen Menschenrechtskommission (AIHRC). In Jalalabad, der Hauptstadt von Nangarhar, habe die AIHRC vor allem mit Landstreitigkeiten zwischen ethnischen Gruppen und der Regierung zu tun, berichtet er. Die Grundstückspreise stiegen ins Unermessliche und die Korruption sei weit verbreitet.

Die Mehrheit aller Landeigentümer wendet sich bei Landstreitigkeiten an die traditionellen Schiedsgerichte, weil sie weniger Zeit in Anspruch nehmen, um zu einem Urteil zu kommen. Die normalen Gerichte arbeiten langsam, verschlingen große Geldbeträge und gelten als korrupt.

In Kus Kunar, einem Agrarbezirk in Nangarhar an der Grenze der Unruheprovinz Kunar, haben sich zehn Männer eingefunden, um über einen Erbstreit zu verhandeln. In einem kleinen mit Teppichen ausgelegten Raum trinken sie Tee. Außerhalb grast das Vieh und Heuballen türmen sich an einer Mauer, die das Gründstück umschließt. Der Landeigentümer ist gestorben und hat seinen Besitz seinen drei Söhnen vermacht. Die Töchter hingegen gingen leer aus. Nach dem Gesetz erhält ein Sohn anteilig doppelt so viel Land wie zwei Töchter.

Die Jirga war von einer der Töchter einberufen worden, die sich um ihr Erbe geprellt sah. Stadtvertreter, so genannte Maliks, hören sich an, was alle Parteien zu sagen haben und treffen dann ihre Entscheidung. Der Ausgang der Anhörung wird in einem Dokument festgehalten, besiegelt durch die Fingerabdrücke der beteiligten Personen, und an das zuständige Lokalgericht weitergeleitet.


Problem der Unsicherheit erschwert Konfliktbewältigung

Wie der Chefrichter des Bezirksgerichts, Arhamullah Nafi, gegenüber IPS erklärt, werden Landstreitigkeiten von Bezirksgerichten und von Jirgas gelöst. "Wir haben eine Menge Probleme wie das Fehlen von Transportmitteln und Strom. Doch unser größtes Problem ist der Mangel an Sicherheit. Es gibt zwar Polizei, doch die will nicht für uns zuständig sein."

Die umstrittensten und gewalttätigsten Landdispute in diesem Jahr wurden von zwei Untergruppen der ethnischen Shinwari im südlichen Bezirk Achin ausgetragen. Der Fall zeigt, wie stark Landstreitigkeiten und Politik miteinander verwoben sind.

Die Sepai und Alisherkhel streiten sich über einen 15 Quadratkilometer großen Wüstenstreifen. Obwohl als Agrarland nutzlos, hat das Gebiet durch den Zustrom von Migranten und durch das Bevölkerungswachstum als Bauland an Wert gewonnen.

Vor zwei Jahren hatten die USA die Sepai im Rahmen eines lokalen Stabilisierungsprogramms bewaffnet. Diese Waffen kamen nun bei den Zusammenstößen mit den Alisherkhel zum Einsatz, die wiederum beklagten, dass US-Truppen und afghanische Regierung für die Sepai Partei ergriffen hätten.

Nach der Bildung neuer Allianzen, der Unterstützung der Alisherkhel durch die Regierung und der Einberufung dreier hochrangiger Jirgas zur Lösung des Disputs, griffen Sepai im Oktober den Gouverneur von Nangarhar, Gul Agha Sherzai, an. Die Koalitionstruppen beantworteten die Attacke mit Bomben, die zahlreichen Sepai das Leben kosteten.

"Dass Menschen in Landstreitigkeiten mit Waffen aufeinander losgehen, ist wirklich besorgniserregend", sagte Rafiullah Bidar von der AIHRC. "Was fehlt ist ein Prozess, der die Menschen daran hindert, zu den Waffen zu greifen." (Ende/IPS/kb/2011)


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veröffentlicht im Schattenblick zum 7. Dezember 2011